Nicci wollte gerade anfangen, als sie etwas gewahrte, das Empörung in ihr auslöste. Sie wirbelte herum zu einer in der Nähe stehenden Frau.
»Wo gibt es hier einen Wäschezuber?«
Von der Frage überrascht, deutete die Frau mit zitterndem Finger auf ein nicht weit entferntes zweigeschossiges Gebäude. »Dort drüben, Herrin. Im Hinterhof hinter der Töpfereiwerkstatt, wo wir gerade Wäsche gewaschen haben, stehen Wäschezuber.«
Nicci packte die Frau an der Kehle. »Beschaff mir eine Schere. Bring sie mir dorthin.« Die Frau starrte sie aus angstvoll aufgerissenen Augen an. Nicci stieß sie von sich. »Sofort! Oder willst du lieber gleich hier auf der Stelle sterben?«
Nicci riss einen abgewetzten, mit Nieten besetzten Reserveriemen herunter, der, zusammengebunden mit mehreren anderen, auf Commander Kardeefs Schulter befestigt war. Er machte keinerlei Anstalten, sie daran zu hindern, als sie den Riemen jedoch zusammenraffte, packte er sie mit seinem mächtigen Griff am Oberarm.
Nicci warf einen durchdringenden Blick auf seine auf ihrem Arm ruhenden Finger, woraufhin er sie mit einem warnenden Knurren zurückzog. Sie wandte sich zu dem Mädchen, wickelte ihr den Riemen zweimal wie ein Halsband um den Hals und verdrehte ihn hinter ihr zu einer Schlaufe, mit deren Hilfe sie die Gefangene gängeln konnte. Überrascht gab das Mädchen ein ersticktes Kreischen von sich. Nicci schob sie vor sich her, hin zu dem Gebäude, auf das die Frau gedeutet hatte.
Angesichts von Niccis plötzlichem Zornesausbruch wagte niemand ihr zu folgen. Eine unweit stehende Frau, zweifellos die Mutter des Mädchens, begann laut zeternd zu protestieren, verstummte aber, als Kardeefs Männer auf sie aufmerksam wurden. Mittlerweile hatte Nicci das völlig verblüffte Mädchen um die Hausecke bugsiert.
Hinter dem Haus flatterten trostlose, von der groben Behandlung auf dem Waschbrett formlos gewordene und zerknitterte, jetzt straff gespannte und an der Leine festgeklammerte Wäschestücke im Wind, als wollten sie sich mit aller Gewalt befreien; über dem Dach des Gebäudes war der Rauch der Feuerstelle zu erkennen. Die nervöse Frau erwartete sie mit einer großen Schere.
Nicci führte das Mädchen zu einem mit Wasser gefüllten Zuber, zwang sie auf die Knie hinunter und drückte ihren Kopf unter Wasser. Während das Mädchen sich heftig wehrte, riss Nicci der Frau die Schere aus der Hand. Diese verbarg ihr Gesicht hinter ihrer Schürze, damit man ihr Gewimmer nicht so deutlich hörte, als sie in Tränen aufgelöst die Flucht ergriff, weil sie nicht mit ansehen wollte, wie ein Kind ermordet wurde.
Nicci zog den Kopf des Mädchens aus dem Wasser und machte sich, noch während es spuckte und nach Atem rang, an die Arbeit, ihr das tropfnasse Haar bis knapp über der Kopfhaut zu stutzen. Als Nicci das letzte durchnässte Büschel abgeschnitten hatte, tauchte sie das Mädchen abermals unter, beugte sich über sie und griff sich einen blassgelben Seifenklumpen vom neben dem Zuber auf der Erde liegenden Waschbrett. Nicci riss den Kopf des Mädchens hoch und begann zu schrubben. Das Mädchen kreischte, schlug mit ihren spindeldürren Armen um sich und zerrte am Riemen um ihren Hals, über den Nicci sie in der Gewalt hatte. Nicci ahnte, dass sie ihr vermutlich wehtat, doch sie nahm darauf keine Rücksicht.
»Was ist los mit dir?« Nicci rüttelte das nach Luft ringende Mädchen. »Weißt du nicht, dass du vor Läusen nur so wimmelst?«
»Aber … aber…«
Die Seife war grob und rau wie eine Raspel. Das Mädchen stieß gellende Schreie aus, als Nicci sie vornüber bog und das Schrubben fortsetzte.
»Gefällt es dir etwa, den ganzen Kopf voller Läuse zu haben?«
»Nein…«
»Muss es aber! Warum solltest du sie sonst haben?«
»Bitte! Ich will versuchen, mich zu bessern. Ich werde mich waschen. Versprochen!«
Nicci musste daran denken, wie sehr sie es gehasst hatte, sich an den Orten, an die ihre Mutter sie schickte, mit Läusen zu infizieren. Sie wusste noch genau, wie sie sich mit der gröbsten Seife, die sie finden konnte, eigenhändig abgeschrubbt hatte, nur um gleich darauf woandershin geschickt zu werden, wo sie augenblicklich wieder von Kopf bis Fuß von diesen verhassten Biestern befallen wurde.
Nachdem Nicci sie ein Dutzend Mal abgeschrubbt und eingetaucht hatte, schleppte sie das Mädchen schließlich zu einem Zuber mit klarem Wasser, in dem sie ihren Kopf hin und her schwenkte, um sie abzuspülen. Heftig blinzelnd versuchte das Mädchen die Augen von dem beißenden Seifenwasser zu befreien, das ihr über das Gesicht lief.
Nicci fasste das Mädchen unters Kinn und schaute ihr in die geröteten Augen. »Bestimmt sind deine Kleider völlig verlaust und voller Nissen. Du musst deine Kleider jeden Tag auswaschen – vor allem deine Unterwäsche –, sonst werden die Läuse einfach wiederkommen.« Nicci kniff das Mädchen in die Wangen, bis ihm Tränen in die Augen traten. »Du bist etwas Besseres und hast es nicht verdient, verlaust herumzulaufen! Weißt du das etwa nicht?«
Das Mädchen nickte, so gut dies ging, da Niccis kräftige Finger ihr Gesicht weiterhin festhielten. Obschon gerötet vom Wasser und vor Schreck aufgerissen, waren ihre großen, dunklen, intelligenten Augen noch immer erfüllt vom seltenen Gefühl des Staunens. So qualvoll und beängstigend die Erfahrung auch war – dem hatte sie keinen Abbruch tun können.
»Verbrenn dein Bettzeug. Beschaff dir neues.« Angesichts der Umstände, unter denen diese Menschen lebten und arbeiteten, schien diese Forderung jedoch aussichtslos. »Deine ganze Familie muss ihr Bettzeug verbrennen. Und ihre gesamte Kleidung waschen.«
Das Mädchen bekräftigte ihr Versprechen mit einem Nicken.
Ihr Werk vollbracht, führte Nicci das Mädchen zu der versammelten Menschenmenge zurück. Während sie es mit Hilfe des nietenbesetzten und als Halsband dienenden Riemens vor sich herschob, überkam sie unerwartet eine Erinnerung.
Es war die Erinnerung an den Augenblick ihrer allerersten Begegnung mit Richard.
Nahezu alle Schwestern im Palast der Propheten waren im großen Saal angetreten, um sich den neuen Knaben anzusehen, den Schwester Verna mitgebracht hatte. Nicci hatte am Mahagonigeländer gestanden, hatte ein aus ihrem Leibchen heraushängendes Stück Schnürband um den Finger gewickelt, nur um es straff zu ziehen und gleich darauf wieder aufzuwickeln, als sich die schweren Walnussholztüren öffneten. Das dröhnende Gesumm der Unterhaltung, durchsetzt von hellem Gelächter, verebbte zu erwartungsvollem Schweigen, als die Gruppe, angeführt von Schwester Phoebe, vorbei an den weißen Säulen mit den goldenen Kapitellen und unter der gewaltigen Gewölbekuppel in den Saal hereinmarschierte.
Die Geburt eines mit der Gabe gesegneten Knaben war ein seltenes Ereignis, das – wenn sie aufgespürt und schließlich in den Palast gebracht wurden, um dort zu leben – Anlass zu erwartungsvoller Freude gab. Für jenen Abend hatte man ein großes Bankett angesetzt. Die meisten Schwestern standen in ihren elegantesten Kleidern unten im Parkett und konnten es kaum erwarten, den neuen Knaben kennen zu lernen. Nicci hielt sich nahe der Mitte der unteren Galerie, es war ihr egal, ob sie ihn kennen lernte oder nicht.
Zu sehen, wie sehr Schwester Verna auf ihrer Reise gealtert war, traf sie beinahe wie ein Schock. Im Allgemeinen währten solche Reisen allerhöchstens ein Jahr, diese, hinter die große Barriere zur Neuen Welt, hatte nahezu deren zwanzig gedauert. Ereignisse jenseits der Barriere waren ungewiss, und so hatte man Verna ganz offensichtlich zu früh auf ihre Mission entsandt.
Das Leben im Palast der Propheten war ebenso angenehm wie heiter. Niemand im Palast der Propheten schien in der so unbedeutenden Zeitspanne von zwei Jahrzehnten gealtert zu sein, Verna dagegen war außerhalb des Banns, der den Palast umgab, geradezu alt geworden. Eigentlich hätte Verna, die wahrscheinlich fast hundertsechzig Jahre alt war, wenigstens zwanzig Jahre jünger sein müssen als Nicci, jetzt jedoch wirkte sie doppelt so alt wie diese. Natürlich alterten Menschen außerhalb des Palastes ganz normal, aber mit ansehen zu müssen, wie dies einer Schwester widerfuhr…
Als der donnernde Applaus in dem riesigen Saal anhielt, brachen viele der Schwestern angesichts der Tragweite des Augenblicks in Tränen aus. Nicci gähnte. Schwester Phoebe hob die Hand, bis sich Stille über den Saal senkte.
»Schwestern«, hob Phoebe mit bebender Stimme an, »bitte heißt Schwester Verna daheim willkommen.« Schließlich musste sie abermals die Hand heben, um den tosenden Beifall zu unterbinden.
Als es erneut im Saal ruhig geworden war, fuhr sie fort: »Darf ich Euch außerdem unseren jüngsten Schüler vorstellen, unser jüngstes Kind des Schöpfers, unseren jüngsten Schützling.« Einladend einen Arm ausstreckend, drehte sie sich um und forderte den offenkundig schüchternen Knaben mit den Fingern winkend auf, vorzutreten, während sie weitersprach. »Bitte heißt Richard Cypher im Palast der Propheten willkommen.«
Mehrere Frauen traten einen Schritt zurück, um Platz zu machen, als er entschlossenen Schrittes nach vorne kam. Nicci bekam große Augen und ihr Rücken straffte sich. Das war alles andere als ein junger Knabe, das war ein erwachsener Mann.
Trotz ihrer unverkennbaren Schockiertheit bereitete die Menge ihm applaudierend und jubelnd ein herzliches Willkommen. Nicci bekam nichts davon mit, seine grauen Augen hatten sie völlig in ihren Bann gezogen. Man stellte ihn einigen in unmittelbarer Nähe stehenden Schwestern vor. Die ihm zugeteilte Novizin, Pasha, wurde ihm vorgeführt und versuchte ihn anzusprechen.
Richard schob Pasha brüsk zur Seite – ein Platzhirsch, der eine Wühlmaus in die Schranken weist – und trat entschlossen allein in die Saalmitte. Sein ganzes Auftreten drückte die gleiche naturgegebene Überlegenheit aus, die Nicci auch in seinen Augen erblickte.
»Ich habe etwas zu verkünden.«
Der riesige Saal verfiel in überraschtes Schweigen.
Sein Blick schweifte durch den Saal. Nicci stockte der Atem, als er ihr, wie vermutlich auch zahllosen anderen, für einen Moment in die Augen blickte.
Mit zitternden Fingern klammerte sie sich ans Geländer, um sich festzuhalten.
In diesem Augenblick schwor Nicci, alles daranzusetzen, um zu einer seiner Lehrerinnen ernannt zu werden.
Er tippte mit den Fingern gegen den Rada’Han an seinem Hals.
»Solange Ihr mich diesen Halsring tragen lasst, seid Ihr meine Häscher, und ich bin Euer Gefangener.«
Gemurmel erfüllte den Raum. Man legte einem Knaben nicht nur deshalb einen Rada’Han um den Hals, weil man ihn beherrschen wollte, sondern auch zu seinem Schutz. Knaben wurden nie als Gefangene betrachtet, sondern als Schutzbefohlene, die Geborgenheit, Betreuung und Ausbildung brauchten. Richard aber sah das anders.
»Da ich mich keines Angriffs auf Euch schuldig gemacht habe, macht uns das zu Feinden. Wir befinden uns also im Krieg.«
Mehrere der älteren Schwestern wankten, der Ohnmacht nahe, unsicher auf den Fersen. Die Hälfte aller Frauen im Saal errötete, die übrigen wurden blass. Ein derartiges Selbstbewusstsein war für Nicci damals unvorstellbar gewesen. Angesichts seines Auftretens wagte sie nicht einmal zu blinzeln, um nur ja nichts zu verpassen. Sie atmete langsam, damit ihr kein Wort entging. Ihr klopfendes Herz dagegen überforderte ihre Möglichkeiten der Selbstbeherrschung.
»Schwester Verna hat mir geschworen, man wird mir beibringen, die Gabe zu beherrschen, und mich, sobald ich alles Nötige gelernt habe, freilassen. Solange Ihr Euch an dieses Versprechen haltet, befinden wir uns im Waffenstillstand. Aber ich stelle Bedingungen.«
Richard nahm einen roten Lederstab, der an einer dünnen Goldkette um seinen Hals hing, in die Hand. Damals wusste Nicci nicht, dass dies die Waffe einer Mord-Sith war.
»Man hat mir schon einmal einen Halsring angelegt. Die Person, die mir damals den Halsring anlegte, hat mir Schmerzen zugefügt, um mich zu bestrafen, um mich auszubilden und um mich zu bändigen.«
Nicci wusste, ein solches Schicksal konnte nur jemandem wie ihm widerfahren.
»Darin liegt der einzige Zweck eines solchen Halsrings. Einem wilden Tier legt man einen Halsring um, oder seinem Feind. Ich habe ihr so ziemlich dasselbe Angebot gemacht, das ich auch Euch jetzt mache. Ich bat sie, mich freizulassen. Sie hat sich geweigert, also war ich gezwungen, sie zu töten. Keine Einzige von Euch kann darauf hoffen, ihr jemals die Stiefel lecken zu können. Was sie tat, tat sie, weil man sie gefoltert, gebrochen und so verrückt gemacht hatte, dass sie einen Halsring benutzte, um Menschen wehzutun. Sie tat es gegen ihre innere Natur. Ihr…«, damit wanderte sein Blick von Augenpaar zu Augenpaar, »Ihr tut es, weil Ihr glaubt, es sei Euer Recht. Ihr macht Menschen im Namen Eures Schöpfers zu Sklaven. Ich kenne Euren Schöpfer nicht, ich kenne nur einen Einzigen jenseits dieser Welt, der sich genauso verhalten würde wie Ihr, und das ist der Hüter.« Der Menge stockte erschrocken der Atem. »Soweit es mich anbelangt, könnt Ihr durchaus Anhängerinnen des Hüters sein.«
Er hatte damals nicht die leiseste Ahnung, dass dies auf einige von ihnen zutraf.
»Tut Ihr dasselbe wie sie und benutzt diesen Halsring dazu, mir Schmerzen zuzufügen, endet die Waffenruhe. Ihr glaubt vielleicht, Ihr haltet die Leine für diesen Halsring in der Hand, doch ich verspreche Euch, wenn unsere Waffenruhe endet, werdet Ihr feststellen, dass Ihr einen Blitz in Händen haltet.«
Im Saal war es totenstill geworden.
Trotzig und allein stand er inmitten hunderter von Hexenmeisterinnen, die sich darauf verstanden, jede Nuance der Kraft zu nutzen, mit der sie geboren worden waren; er dagegen wusste nahezu nichts über seine Fähigkeiten, und obendrein hatte man ihn mit dem Rada’Han an die Kette gelegt. Darin mochte er einem Platzhirsch gleichen, wenn auch einem, der eine Versammlung von Löwinnen – hungrigen Löwinnen – zum Kampf aufforderte.
Richard krempelte seinen linken Ärmel hoch. Er zog sein Schwert – ein Schwert! – der gewaltigen Übermacht zum Trotz, die in Reih und Glied vor ihm Aufstellung genommen hatte. Als die Klinge blank gezogen wurde, erfüllte das unverkennbare Klirren von Stahl die Stille.
Nicci stand wie gebannt, als er seine Bedingungen auflistete.
Schließlich deutete er mit seinem Schwert hinter sich. »Schwester Verna hat mich gefangen genommen. Ich habe mich auf jedem Schritt dieser Reise gegen sie zur Wehr gesetzt. Um mich hierher zu schaffen, hätte sie mich fast umgebracht und auf ein Pferd gebunden. Doch obwohl auch sie meine Häscherin und Feindin ist, bin ich ihr in mancher Hinsicht etwas schuldig. Sollte ihr jemand meinetwegen ein Härchen krümmen, werde ich den Betreffenden töten, und die Waffenruhe ist beendet.«
Ein derart sonderbares Ehrgefühl war für Nicci vollkommen unbegreiflich, doch irgend etwas sagte ihr, dass es zu dem passte, was sie in seinen Augen erblickte.
Der Menge stockte erneut der Atem, als Richard sein Schwert über die Innenseite seines Armes zog. Er drehte es, zog beide Seiten durch das Blut, bis es von der Spitze tropfte. Andere konnten es vielleicht nicht, Nicci dagegen vermochte deutlich zu erkennen – ebenso wie sie in seinen Augen eine Fähigkeit erblickte, die andere nicht sahen –, dass das Schwert mit einer Magie in seinem Inneren verschmolz und sie vervollkommnete.
Die Knöchel weiß um das Heft geschlossen, reckte er die tiefrot glänzende Klinge in die Luft.
»Ich schwöre Euch einen Bluteid!«, rief er. »Tut Ihr den Baka Ban Mana etwas an, tut Ihr Schwester Verna etwas an oder mir, dann ist die Waffenruhe beendet, und ich verspreche Euch, dann sind wir im Krieg! Und wenn es zum Krieg kommt, werde ich den Palast der Propheten in Schutt und Asche legen!«
Vom Oberen Balkon, wo Richard ihn nicht sehen konnte, wehte Jedidiahs spöttische Stimme über die Menge hinweg. »Du ganz allein?«
»Zweifelt nur an mir, Ihr tut es auf eigene Gefahr! Ich bin ein Gefangener, es gibt nichts, wofür ich leben könnte. Ich bin die Fleisch gewordene Prophezeiung. Ich bin der Bringer des Todes!«
Aus der bestürzten Stille kam keine Antwort. Wahrscheinlich kannte jede Frau im Saal die Prophezeiung vom Bringer des Todes, auch wenn keine sich ihrer beabsichtigten Bedeutung sicher war. Der Text dieser Prophezeiung wurde zusammen mit allen anderen in den Gewölbekellern tief unter dem Palast der Propheten aufbewahrt. Dass Richard sie kannte, dass er es wagte, sie in dieser Gesellschaft lauthals zu verkünden, war ein denkbar schlechtes Zeichen. Alle Löwinnen im Saal zogen aus Vorsicht ihre Krallen wieder ein. Richard rammte das Schwert in seine Scheide zurück, als wollte er seine Drohung damit noch unterstreichen.
Nicci war sich darüber im Klaren, dass die tiefgreifende Bedeutung dessen, was sie in seinen Augen und in seinem Auftreten gesehen hatte, sie für immer verfolgen würde.
Sie war sich auch darüber im Klaren, dass sie ihn vernichten musste.
Nicci musste Gefälligkeiten gewähren und Versprechungen machen, auf die sie sich freiwillig nicht einmal im Traum eingelassen hätte, aber im Gegenzug wurde sie eine der sechs Ausbilderinnen Richards. All die Mühen, die sie als Gegenleistung für dieses Privileg auf sich genommen hatte, hatten sich gelohnt, sobald sie ihm allein an einem winzigen Tisch in seinem Zimmer gegenüber saß und ihm zart die Hände hielt – wenn es denn möglich war, mit zarter Hand einen Blitz zu halten – und sich bemühte, ihm beizubringen, wie man sein Han, die Essenz des Lebens und der Seele im Innern derer mit der Gabe, berührte. So sehr sie sich auch mühte, er spürte nichts. Das war an sich bereits seltsam. Oft genügte schon die leise Ahnung dessen, was sie in seinem Innern spürte, um sie der Fähigkeit zu berauben, ihm mehr als nur ein paar karge Worte zu entlocken. Beiläufig hatte sie die anderen ausgehorcht und wusste, dass sie blind dafür waren.
Obwohl Nicci nicht begreifen konnte, welcher Aspekt seines Verstandes es war, der sich in seinen Augen und seinem Auftreten zeigte, so wusste sie doch, dass er die dumpfe Sicherheit ihrer Gleichgültigkeit durcheinander brachte. Sie sehnte sich danach, es zu begreifen, bevor sie ihn vernichten musste, gleichzeitig sehnte sie sich danach, ihn zu zerstören, bevor es soweit kam.
Wann immer sie sicher war, kurz vor der Enträtselung des Geheimnisses seines einzigartigen Charakters zu stehen und vorhersagen zu können, wie er sich in einer bestimmten Situation verhalten würde, verblüffte er sie, indem er etwas völlig Unerwartetes, wenn nicht gar Unmögliches tat. Ein ums andere Mal legte er in Schutt und Asche, was sie für das Fundament ihres Verständnisses seiner Person gehalten hatte. Stundenlang saß sie allein und in tiefster Trübsal da, weil alles deutlich erkennbar vor ihr zu liegen schien, sie es aber dennoch nicht zu bestimmen vermochte. Sie wusste nur, dass es ein über alle Maßen bedeutendes Prinzip war, das sich nach wie vor ihrem Verständnis entzog.
Richard war über seine Lage niemals glücklich und ging mit der Zeit zunehmend auf Distanz. Von aller Hoffnung verlassen, beschloss Nicci, dass die Zeit gekommen sei.
Als sie zu seinem Zimmer ging, um ihm seine letzte Unterrichtsstunde zu erteilen und ihm ein Ende zu machen, überraschte er sie damit, dass er ihr eine seltene weiße Rose überreichte. Schlimmer noch, er überreichte sie lächelnd und ohne ein Wort der Erklärung. Als er sie ihr hinhielt, war sie so versteinert, dass sie nichts hervorbrachte als: »Ach, vielen Dank, Richard.« Diese weißen Rosen konnten unzweifelhaft nur aus gefährlichen abgesperrten Zonen stammen, zu denen sich kein Schüler jemals hätte Zutritt verschaffen können dürfen. Dass er dies ganz offensichtlich konnte und ihr den Beweis für seine Übertretung so unbefangen darbot, versetzte sie in höchste Alarmbereitschaft. Sie nahm die weiße Rose vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, ohne zu wissen, ob er sie mit Hilfe eines verbotenen Geschenks – warnen wollte, dass er der Bringer des Todes war und sie gezeichnet wurde, oder ob es sich um eine Geste schlichter, wenn auch etwas sonderbarer Freundlichkeit handelte. Sie beschloss, vorsichtig zu reagieren. Wieder einmal hatte er ihr mit seiner Art die Hände gebunden.
Die anderen Schwestern der Finsternis verfolgten ihre eigenen Pläne. Soweit es Nicci anbetraf, war Richards Gabe wahrscheinlich das am wenigsten Bemerkenswerte und bei weitem Unbedeutendste an ihm, und doch spielte Liliana, eine seiner anderen Lehrerinnen und eine Frau von ebenso grenzenloser Gier wie begrenztem Scharfsinn, mit dem Gedanken, ihm die angeborene Fähigkeit seines Han für ihre eigenen Zwecke zu entwenden. Dies führte zu einer tödlichen Auseinandersetzung, aus der Liliana als Verliererin hervorging. Die sechs – ihre Anführerin Ulicia sowie Richards fünf übrige Lehrerinnen – kamen nach ihrer Entdeckung mit wenig mehr als dem nackten Leben davon, nur um schließlich in der Gewalt Jagangs zu enden.
Am Ende verstand Nicci diese Eigenschaft in seinen Augen nicht besser als damals, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte.
Ihr war alles aus den Fingern geglitten.
Als Nicci ihren Griff vom nietenbesetzten Riemen um ihren Hals löste, lief das Mädchen augenblicklich ihre Mutter holen.
»Und?«, schrie Commander Kardeef. Er stemmte seine Fäuste in die Hüften. »Seid Ihr mit Euren Spielereien fertig? Es wird Zeit, dass diese Leute die wahre Bedeutung des Wortes Skrupellosigkeit kennen lernen!«
Nicci blickte in seine unergründlichen dunklen Augen. Sie wirkten trotzig, zornig und entschlossen – und dennoch waren sie mit Richards Augen überhaupt nicht zu vergleichen.
Nicci wandte sich an die Soldaten. Gestikulierend rief sie: »Ihr zwei. Greift euch den Kommandanten.«
Die Männer blinzelten verständnislos. Commander Kardeefs Gesicht wurde rot vor Wut. »Das reicht! Diesmal habt Ihr den Bogen endgültig überspannt!« Er wirbelte zu seinen Soldaten herum – der ganze Platz war voll von ihnen, zweitausend Mann. Mit dem Daumen deutete er über seine Schulter auf Nicci. »Schnappt Euch diese verrückte Hexe!«
Ein halbes Dutzend Männer, die ihr am nächsten standen, zogen die Waffen und stürzten sich auf sie. Wie alle Fußtruppen der Imperialen Ordnung waren sie groß, kräftig und schnell. Und außerdem erfahren.
Nicci streckte dem Nächsten ihre Faust entgegen, als dieser seine Peitsche hob. Gedankenschnell verbanden sich, als sie einen gebündelten Strahl ihrer Kraft entfesselte, additive und subtraktive Magie zu einer tödlichen Mixtur. Er erzeugte eine Explosion aus Licht, so heiß und grell, dass das Licht der Sonne für einen Augenblick fahl und kalt dagegen wirkte.
Die Explosion sprengte ein melonengroßes Loch mitten in die Brust des Soldaten. Einen Augenblick lang, bevor der innere Druck die Organe zwang, die plötzliche Leere auszufüllen, konnte sie durch die klaffende Öffnung in seiner Brust Soldaten erkennen.
Das Nachbild des Aufloderns hielt sich noch eine Weile als Lichtblitz auf ihrer Netzhaut. Der beißende Gestank versengter Luft stach ihr in die Augen. Der krachende Donner ihrer Kraft rollte über die umliegenden Weizenfelder.
Noch bevor der Soldat auf den Boden schlug, entfesselte Nicci ihre Kraft gegen drei weitere Angreifer, riss einem von ihnen die gesamte Schulter fort, mit einem wuchtigen Schlag, der ihn wie eine schauderhafte Fontäne herumwirbelte, während das schlaffe Glied in die Menge geschleudert wurde. Ein dritter Soldat wurde fast entzwei gerissen. Tief in ihrer Brust spürte sie die Erschütterung des nächsten Blitzes, als der Kopf des vierten Soldaten in einem gleißenden Lichtblitz zu einer Wolke aus feinem roten Sprühregen und Knochensplittern zerplatzte.
Ihr warnender Blick begegnete den Augen zweier Soldaten mit Messern in den Fäusten, die Knöchel weiß um deren Heft geschlossen. Die beiden zögerten. Zahlreiche andere traten einen Schritt zurück, während die vier Donnerschläge, die für sie beinahe zu einem einzigen, ohrenbetäubenden Knall verschmolzen, noch immer von den Häuserwänden widerhallten.
»So«, sagte sie mit leiser, ruhiger und gefasster Stimme, deren schiere Sanftheit bereits den tödlichen Ernst ihrer Drohung verriet, »falls ihr Männer meinen Befehlen nicht Folge leistet und Commander Kardeef ergreift, werde ich ihn mir selber schnappen. Aber selbstverständlich erst, nachdem ich euch bis zum letzten Mann getötet habe.«
Das einzige Geräusch war das Heulen des Windes zwischen den Gebäuden.
»Tut, was ich sage, oder sterbt. Ich warte nicht.«
Die großen, kräftigen Kerle kannten sie. Sie fällten ihren Entschluss in jenem winzigen Augenblick, den sie ihnen, wie sie ganz genau wussten, bestenfalls gewähren würde, und stürzten sich auf den Kommandanten, um ihn zu ergreifen. Es gelang ihm noch, sein Schwert zu ziehen, denn Kadar Kardeef war die offene Feldschlacht durchaus vertraut. Befehle brüllend schlug er sie zurück, und mehr als ein Soldat stürzte in dem Handgemenge tot zu Boden, andere schrien auf, als sie verwundet wurden. Schließlich bekamen einige Soldaten den tödlichen Schwertarm von hinten zu fassen. Immer mehr Männer warfen sich auf den Kommandanten, bis sie ihn endlich entwaffnet, zu Boden gerungen und überwältigt hatten.
»Was glaubt Ihr eigentlich, was Ihr tut?«, brüllte Kadar Kardeef sie an, als die Männer ihn auf die Beine rissen.
Nicci trat näher heran, während die Soldaten ihm die Arme auf den Rücken drehten. Sie blickte in seine wutentbrannten Augen.
»Wieso, Commander, ich befolge lediglich Eure Befehle.«
»Was redet Ihr da?«
Sie setzte ein freudloses Lächeln auf, wohl wissend, dass ihn dies zusätzlich in Rage bringen würde.
Einer der Soldaten blickte über seine Schulter hinter sich. »Was soll mit ihm geschehen?«
»Tut ihm nicht weh – ich möchte, dass er bei vollem Bewusstsein ist. Zieht ihn aus und bindet ihn an die Stange.«
»An die Stange? An welche Stange?«
»An die Stange, an der die Schweine hingen, die ihr Soldaten vorhin verspeist habt.«
Auf ein Fingerschnippen von Nicci hin begannen sie, dem Kommandanten die Kleider herunterzureißen. Ungerührt verfolgte sie, wie er schließlich ganz entkleidet wurde. Seine Ausrüstung und die kostbaren Waffen wurden zu Beute und verschwanden rasch in den Händen von Soldaten, die unter seinem Kommando gestanden hatten. Vor Anstrengung stöhnend bemühten sie sich, den sich wehrenden, nackten und behaarten Kommandanten an die Stange hinter seinem Rücken zu fesseln.
Nicci wandte sich an die verblüffte Menschenmenge. »Commander Kardeef möchte, dass ihr wisst, wie skrupellos wir sein können. Ich werde diesem Befehl Folge leisten und es euch demonstrieren.« Wieder an die Soldaten gewandt, sagte sie: »Hängt ihn übers Feuer und röstet ihn wie ein Schwein.«
Die Soldaten schleppten den sich heftig wehrenden, vor Wut rasenden Kadar Kardeef, den Helden des Feldzuges ›Kleine Bresche‹, zur Feuergrube. Sie wussten, dass Jagang sie durch ihre Augen beobachtete, und hatten allen Grund darauf zu vertrauen, dass der Kaiser ihnen Halt gebieten würde, sollte er dies wünschen. Schließlich war er ein Traumwandler, außerdem hatten sie gesehen, wie er sie und die anderen Schwestern gezwungen hatte, sich seinen Wünschen zu fügen, so entwürdigend diese Wünsche auch sein mochten.
Sie konnten nicht wissen, dass Jagang just in diesem Augenblick keinen Zugang zu ihrem Verstand hatte.
Die hölzernen Enden der Stange fielen klappernd in die Halterung der steinernen Stützen zu beiden Seiten der Feuergrube. Die Stange federte unter dem Gewicht ihrer Last. Schließlich kam die Last zur Ruhe, und Kadar Kardeef blieb mit dem Gesicht nach unten hängen. Er hatte praktisch keine andere Wahl, als in die glühenden Kohlen unter ihm zu starren.
Obwohl das Feuer heruntergebrannt war, dauerte es nicht lange, bis die Hitze der zögernden, niedrigen Flammen ihn in Bedrängnis zu bringen begann. Unter den Augen der in stummem Entsetzen zusehenden Menschen wand sich der Kommandant, kreischte Befehle, verlangte, seine Soldaten sollten ihn herunternehmen, und drohte sie zu bestrafen, sollten sie damit zögern. Sein Ausfall ebbte ab, als er begann, seine immer größer werdende Angst schwer atmend unter Kontrolle zu bekommen.
Die Augen der Stadtbewohner beobachtend, deutete Nicci hinter sich.
»Hier zeigt sich, wie skrupellos die Imperiale Ordnung ist: Sie ist bereit, einen großen Kommandanten, einen Kriegsheld, einen landauf, landab bekannten und verehrten Mann, einen Mann, der ihr gute Dienste geleistet hat, langsam und qualvoll zu verbrennen, nur um euch, den Bewohnern einer kleinen, unbedeutenden Ortschaft, zu beweisen, dass sie nicht zögert, einen Menschen umzubringen. Unser Ziel ist das Wohl aller, und dieses Ziel wird bei uns höher eingeschätzt als das Leben eines einzelnen Mannes. Dies ist der Beweis. Habt ihr Leute jetzt noch immer Grund zu glauben, wir würden davor zurückschrecken, einem oder allen von euch Schaden zuzufügen, falls ihr nichts zum allgemeinen Wohl beitragt?«
Nahezu ein jeder verneinte kopfschüttelnd, während alle gemeinsam murmelten: »Nein, Herrin.«
Hinter ihr wand sich Commander Kardeef vor Schmerzen. Er brüllte seine Männer abermals an und befahl ihnen, ihn herunterzunehmen und die ›verrückte Hexe‹ umzubringen. Keiner der Soldaten machte Anstalten, seinen Befehlen nachzukommen. Wenn man sie ansah, konnte man meinen, dass sie ihn nicht einmal hörten. Mitleid war diesen Männern unbekannt, es gab nur Leben oder Tod. Sie hatten sich für das Leben entschieden; diese Entscheidung machte seinen Tod erforderlich.
Nicci beobachtete die Augen der Menschen, während sich die Minuten dahinschleppten. Der Kommandant hing ein gutes Stück oberhalb des heruntergebrannten Feuers, doch das Bett aus glühend heißen Kohlen war sehr groß. Sie wusste, dass der gelegentlich aufkommende Wind die erbarmungslose Hitze zur Seite lenkte und ihm damit für kurze Zeit eine Atempause verschaffte. Es würde seine Qualen nur verlängern; die Hitze war unerbittlich. Dennoch würde es einige Zeit dauern. Sie verzichtete darauf, mehr Feuerholz zu verlangen. Sie hatte es nicht eilig.
Die Menschen rümpften die Nase, jeder konnte riechen, wie seine Körperbehaarung verbrannte. Niemand wagte zu sprechen. Als die Qual sich hinzog, begann sich die Haut an Kardeefs Brust und Bauch zu röten und schließlich dunkel zu werden. Es dauerte gut fünfzehn Minuten, bevor sie schließlich rissig wurde und aufzuplatzen begann. Fast die gesamte Zeit über brüllte er vor Schmerzen. Der Gestank ging in den überraschend angenehmen Wohlgeruch gebratenen Fleisches über.
Gegen Ende gab er nach und begann um Mitleid zu winseln. Er rief ihren Namen, flehte sie an, es zum Abschluss zu bringen, ihn entweder zu befreien oder ihm ein rasches Ende zu bereiten. Während sie zuhörte, wie er wimmernd ihren Namen rief, strich sie über den Goldring in ihrer Unterlippe; seine Stimme war für sie wenig mehr als das Summen einer Fliege.
Die dünne Fettschicht über seiner kräftigen Muskulatur begann zu schmelzen. Er wurde heiser. Gespeist vom Fett, loderten die Flammen auf und versengten sein Gesicht.
»Nicci!« Kardeef wusste, dass seine Bitten um Gnade auf taube Ohren stießen. Er gab seine wahren Gefühle preis. »Du gemeine Hündin! Du hast alles verdient, was ich dir angetan habe!«
Sie sah ihm trotzig in seine verstörten Augen. »Ja, das stimmt. Richtet dem Hüter meine Grüße aus, Kadar.«
»Tut es doch selbst! Wenn Jagang hiervon erfährt, wird er Euch in der Luft zerreißen! Bald werdet Ihr in der Unterwelt sein, dem Hüter hilflos ausgeliefert!«
Wiederum waren seine Worte nichts weiter als ein belangloses Gebrumm.
Als das Spektakel sich dahinschleppte, trat den Menschen der Schweiß in Perlen auf die Stirn. Sie bedurften keines ausdrücklichen Befehls, um zu wissen, dass sie von ihnen erwartete, auszuharren und das Ganze bis zum Ende zu verfolgen. Für den Fall, dass sie tatsächlich mit dem Gedanken spielten, sich ihren unausgesprochenen Befehlen zu widersetzen, würde ihre eigene Fantasie Bestrafungen erfinden, die Nicci niemals in den Sinn gekommen wären. Das bemerkenswerte Schauspiel faszinierte nur die Jungen, sie tauschten wissende Blicke aus; Foltern wie diese waren für den Verstand junger Unsterblicher ein Hochgenuss. Vielleicht würden sie eines Tages gute Soldaten der Imperialen Ordnung abgeben – vorausgesetzt, sie wurden niemals erwachsen.
Niccis Augen begegneten dem wütenden Blick des jungen Mädchens. Der Hass in ihren Augen war atemberaubend. Das Mädchen hatte sich zwar vor dem Untertauchen und Schrubben gefürchtet, doch ihren Augen hatte man dabei ansehen können, dass die Welt noch immer ein Ort der Wunder und sie etwas ganz Besonderes war. Jetzt verrieten diese Augen, dass sie ihre Unschuld verloren hatte.
Die ganze Zeit über stand Nicci aufrecht, mit geradem Rücken und durchgedrückten Schultern, um die volle Wucht des frisch entflammten Hasses dieses Mädchens in sich aufzunehmen, und genoss das seltene Gefühl, etwas zu empfinden.
Das Mädchen hatte keine Ahnung, dass Commander Kardeef ihren Platz in den Flammen eingenommen hatte.
Als der Kommandant schließlich verstummte, löste Nicci ihre Augen von dem Mädchen und wandte sich an die Stadtbewohner.
»Die Vergangenheit ist vorbei, jetzt seid ihr Teil der Imperialen Ordnung. Wenn ihr euch nicht der Moral beugt und nichts zum Wohl eurer Mitmenschen innerhalb der Imperialen Ordnung beisteuert, werde ich wiederkommen.«
Sie zweifelten keinen Augenblick an ihren Worten. Wenn es irgend etwas gab, das sie ganz offenkundig nicht wollten, dann, sie jemals wiederzusehen.
Einer der Soldaten, die Fäuste zitternd an den Seiten, trat mit schweren Schritten zögernd vor. Seine Augen waren vor Schmerz und Bestürzung aufgerissen. »Ich will, dass Ihr zurückkommt, meine Liebe«, brummte er mit einer Stimme, die überhaupt nicht zum erschrockenen Ausdruck seiner Augen passen wollte. Die Stimme nahm einen tödlichen Unterton an. »Und zwar auf der Stelle.«
Jagangs Stimme war ebenso unverkennbar wie der darin enthaltene Zorn.
Es fiel ihm schwer, den Verstand eines Menschen zu beherrschen, der nicht die Gabe besaß. Er hielt den Soldaten in hartnäckigem Griff gefangen. Jagang hätte niemals einen Soldaten benutzt und dadurch seine Machtlosigkeit verraten, hätte er in Niccis Verstand eindringen und diesen kontrollieren können.
Sie hatte absolut keine Ahnung, wieso er plötzlich die Verbindung zu ihr verloren hatte. Er würde die Fähigkeit, ihr wehzutun, irgendwann zurückgewinnen, so viel war sicher. Sie brauchte nur zu warten.
»Seid Ihr über mich erzürnt, Exzellenz?«
»Was glaubt Ihr wohl?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Da Kadar besser im Bett war als Ihr, könnt ich mir denken, Ihr seid erfreut.«
»Kommt sofort hierher zurück!«, polterte der Soldat mit Jagangs Stimme. »Habt Ihr verstanden? Sofort!«
Nicci verbeugte sich. »Aber selbstverständlich, Exzellenz.«
Im Aufrichten riss sie das Langmesser des Soldaten aus der Scheide an seinem Gürtel und rammte es bis zum Heft in seinen muskulösen Leib. Die Zähne vor Anstrengung zusammengebissen, drehte sie den Griff zur Seite und riss ihm die Klinge in tödlichem Bogen seitlich durch die Eingeweide.
Während sie darauf wartete, dass ihre Kutsche den Platz umrundete, bezweifelte sie, dass der sich vor ihren Füßen windende Soldat etwas von seinem schmutzigen Tod mitbekam. Er starb, Jagangs in sich gekehrtes Lachen auf den Lippen. Da der Traumwandler nur im Verstand eines Lebenden verweilen konnte, senkte sich erneut Stille über den Nachmittag.
Als ihre Kutsche inmitten einer Staubwolke schaukelnd hielt, langte ein Soldat nach oben und öffnete den Schlag. Auf dem Tritt wandte sie sich noch einmal zu der Menschenmenge um und richtete sich, sich am außen angebrachten Handlauf festhaltend, zu ihrer vollen Größe auf, damit alle sie sahen. Ihr blondes Haar wehte in der sonnigen Brise.
»Vergesst niemals diesen Tag, an dem Jagang, der Gerechte, euer aller Leben verschont hat. Der Kommandant hätte euch umgebracht; der Kaiser aber hat durch mich sein Mitgefühl bewiesen. Verbreitet die Kunde von der Gnade und der Weisheit Jagangs des Gerechten, dann habe ich keinen Grund, jemals zurückzukommen.«
Die Menge versprach es murmelnd.
»Wollt Ihr, dass wir den Kommandanten mitnehmen?«, erkundigte sich ein Soldat. Der Mann, Kadar Kardeefs treu ergebener Stellvertreter, trug jetzt Kardeefs Schwert. Ganz ähnlich dem Gemüse, waren Frische und Lebensdauer von Ergebenheit vergänglich und Fäulnis und Gestank ihr letztendliches Schicksal.
»Lasst ihn rösten, als Denkzettel. Alle anderen kehren mit mir zusammen nach Fairfield zurück.«
»Auf Euren Befehl«, sagte er mit einer Verbeugung. Er bewegte seinen Arm im Kreis und gab den Männern den Befehl, aufzusitzen und abzurücken.
Nicci lehnte sich noch weiter hinaus und sah zum Kutscher hinauf. »Seine Exzellenz wünscht mich zu sehen. Er hat es zwar nicht ausdrücklich erwähnt, dennoch bin ich einigermaßen sicher, er möchte, dass du dich beeilst.«
Drinnen nahm Nicci, den Rücken gerade gegen die senkrechte Lehne gedrückt, ihren Platz auf dem harten Lederpolster ein, als der Kutscher einen schrillen Pfiff ausstieß und seine Peitsche knallen ließ. Das Gespann machte einen Satz nach vorne, und die Kutsche ruckte an. Sie hielt sich mit einer Hand am Fensterbrett fest, als die eisenbeschlagenen Räder über den harten, unebenen Boden des Marktplatzes polterten, bis sie die Straße erreichten, wo die Kutsche in ihr vertrautes Rattern verfiel. Das Sonnenlicht fiel schräg durchs Fenster und legte sich über die unbesetzten Polster gegenüber. Der auffällige helle Fleck glitt vom Sitz, als die Kutsche eine Biegung in der Straße nahm, und rutschte schließlich wieder hoch, um einer warmen Katze gleich in ihrem Schoß zur Ruhe zu kommen. Dunkel gekleidete Reiter zu beiden Seiten sowie vorne und hinten streckten sich vorwärts über die Widerriste ihrer galoppierenden Tiere. Von den donnernden Hufen erhob sich, zusammen mit den wallenden Staubwolken, ein rollendes Getöse in der Luft.
Im Augenblick war Nicci von Jagang befreit. Sie war umringt von zweitausend Soldaten, und doch fühlte sie sich vollkommen allein. Nicht lange, und sie würde sich nach Schmerzen sehnen, nur um diese entsetzliche Leere auszufüllen.
Sie empfand weder Freude noch Angst. Manchmal fragte sie sich, warum sie niemals etwas anderes spürte als den Wunsch, jemandem wehzutun.
Während die Kutsche mit rasender Geschwindigkeit auf Jagang zurollte, konzentrierten sich ihre Gedanken auf einen anderen Mann, und sie versuchte sich jede einzelne Begegnung mit ihm in Erinnerung zu rufen. In Gedanken ging sie jeden Augenblick durch, den sie in Richard Cyphers oder – wie er jetzt genannt wurde und wie Jagang ihn kannte – Richard Rahls Gegenwart verbracht hatte.
Sie musste an seine grauen Augen denken.
Bis zu dem Tag, da sie ihn kennen lernte, hatte sie die Existenz eines solchen Menschen nicht für möglich gehalten.
Wenn sie, wie jetzt, an Richard dachte, quälte sie nur ein einziges, brennendes Verlangen: ihn zu vernichten.