41

Während Captain Ryan und seine beiden Begleiter sich auf Anweisung Prinz Harolds um ihre Truppen und die Pferde kümmern gingen, drängten sich die Übrigen in die winzige Fallenstellerhütte. Zedd und Warren setzten sich auf eine Bank, die aus einer über zwei Stammstümpfen gelegten Planke bestand; Verna und Adie hatten auf einer weiteren Bank an der gegenüberliegenden Wand Platz genommen. Cara schaute zum winzigen Fenster hinaus. General Meiffert hatte sich neben Cara postiert und beobachtete, wie der Prinz mit dem Finger immer wieder über die Tischkante strich; Kahlan hatte ihre gefalteten Hände vor sich auf den Tisch gelegt.

»Also«, begann sie, das Schlimmste befürchtend, »wie geht es denn nun Cyrilla?«

Harold strich die Vorderseite seiner Uniformjacke glatt. »Die Königin … ist wieder gesund.«

»Die Königin …?« Kahlan erhob sich langsam von ihrem Stuhl. »Cyrilla hat sich erholt? Das sind wundervolle Neuigkeiten, Harold. Und sie hat endlich wieder ihre Krone in Besitz genommen? Umso besser!«

Kahlan war hocherfreut, von ihrer Rolle als Königin Galeas entbunden zu sein; es war eine lästige Pflicht, der Cyrilla sehr viel eher gerecht wurde als eine Mutter Konfessor. Mehr noch aber war sie erleichtert zu hören, dass ihre Halbschwester endlich wieder genesen war. Obgleich die beiden sich nie wirklich nahe gestanden hatten, respektierten sie einander.

Stärker noch als ihre Freude über Cyrillas Genesung war Kahlans Gefühl der Erleichterung, weil Harold endlich seine Truppen hergeführt hatte, um sich ihnen anzuschließen. Sie hoffte, dass es ihm gelungen war, jene einhunderttausend Mann bereitzustellen, über die sie bereits gesprochen hatten; sie würden einen guten Grundstock für jene Armee bilden, die aufzustellen Kahlan gezwungen war.

Harold benetzte seine vom Wetter rissigen Lippen. Seine hängenden Schultern schienen ihre Vermutung zu bestätigen, dass das Aufstellen der Armee schwierig und mühsam und die Reise hierher beschwerlich gewesen war. Noch nie hatte sie sein Gesicht so todmüde und erschöpft gesehen; sein Blick war unbestimmt und leer und erinnerte sie an ihren Vater.

Kahlan, entschlossen, ihre Dankbarkeit zu zeigen, lächelte überschwänglich. »Wie viele Truppen hast du mitgebracht? Wir können die einhunderttausend Mann zweifellos gebrauchen, sie würden unsere derzeit hier versammelten Streitkräfte nahezu verdoppeln. Die Seelen wissen, wie dringend wir sie benötigen.«

Niemand sagte etwas. Als sie von einem zum anderen blickte, vermieden es alle, ihr in die Augen zu sehen.

Das Gefühl der Erleichterung, das Kahlan eben noch empfunden hatte, zerplatzte wie eine Seifenblase. »Wie viele Truppen hast du mitgebracht, Harold?«

Er fuhr sich mit seinen fleischigen Fingern durch sein langes, dichtes dunkles Haar. »Ungefähr eintausend Mann.«

Sprachlos sank sie zurück auf ihren Stuhl. »Eintausend?«, murmelte sie dann kaum hörbar.

Er nickte und wagte es noch immer nicht, ihr in die Augen zu sehen. »Captain Bradley und seine Männer. Die, die du schon einmal angeführt und an deren Seite du schon einmal gekämpft hast.«

Kahlan spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht schoss. »Wir brauchen deine gesamten Truppen. Harold, was wird hier gespielt?«

Endlich sah er ihr in die Augen. »Königin Cyrilla hat meinen Plan abgelehnt, unsere Truppen nach Süden zu führen. Kurz nach deinem Besuch bei ihr erwachte sie aus ihrer Krankheit. Sie war wieder ganz die Alte – sie sprühte geradezu vor Ehrgeiz und Leidenschaft. Du weißt ja, wie sie war und ist: unermüdlich im Einsatz für Galea.« Seine Finger trommelten beiläufig auf den Tisch. »Aber ich fürchte, ihre Krankheit hat sie verändert, denn sie fürchtet sich vor der Imperialen Ordnung.«

»Das tue ich auch«, erwiderte Kahlan mit leisem, unterdrücktem Zorn. Sie spürte den Druck von Richards Schwert auf ihrer Schulter und merkte, wie Harold es mit den Augen musterte. »In den Midlands hat jeder Angst vor der Imperialen Ordnung. Gerade deshalb brauchen wir ja diese Truppen.«

Nickend fuhr er fort: »Das alles habe ich ihr auch erklärt, wirklich. Daraufhin erwiderte sie, sie sei Königin von Galea und als diese verpflichtet, unser Land über alles andere zu stellen.«

»Aber Galea hat sich dem d’Haranischen Reich angeschlossen!«

Er breitete in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände aus. »Während ihrer Krankheit muss ihr das wohl … entgangen sein. Sie sagte, sie habe dir die Krone nur deshalb überlassen, damit du die Sicherheit ihres Volkes gewährleistest, aber nicht, um seine Souveränität preiszugeben.« Er ließ die Hände sinken. »Sie behauptet, diese Befugnis habest du niemals besessen, und weigert sich, die Abmachung einzuhalten.«

Kahlan betrachtete die anderen Anwesenden, die schweigend über sie Gericht zu sitzen schienen.

»Harold, das alles haben du und ich doch in der Vergangenheit längst abgesprochen. Die Midlands werden bedroht.« Sie machte eine ausholende Armbewegung. »Die gesamte Neue Welt wird bedroht! Diese Bedrohung müssen wir zurückweisen, und zwar nicht, indem wir jedes Land für sich verteidigen – oder jedem einzelnen Land seine Verteidigung selbst überlassen. Wenn wir das tun, werden wir einer nach dem anderen untergehen. Wir müssen unbedingt zusammenhalten.«

»Im Prinzip gebe ich dir Recht, Mutter Konfessor. Aber Königin Cyrilla nicht.«

»Dann ist Cyrilla auch nicht wieder gesund, Harold. Sie ist noch immer krank.«

»Mag sein, aber darüber steht mir kein Urteil zu.«

Die Ellbogen auf dem Tisch, stützte Kahlan ihre Stirn auf die Fingerspitzen. Dröhnende Gedanken wirbelten ihr durch den Kopf und forderten, dass dies nicht wahr sein dürfe.

»Was ist mit Jebra?«, erkundigte sich Zedd, der etwas abseits saß. Kahlan war erleichtert, seine Stimme zu hören, es war, als kehrte mit ihr die Vernunft in den Wahnsinn zurück, den sie hier zu hören bekam, als könnte das Gewicht einer zusätzlichen Stimme alles wieder ins Lot rücken. »Wir haben die Seherin zurückgelassen, damit sie dir hilft, Cyrilla zu versorgen. Jebra hat ihr doch gewiss von diesem Vorgehen abgeraten?«

Harold ließ erneut den Kopf hängen. »Ich fürchte, Cyrilla hat Jebra ins Verlies werfen lassen. Mehr noch, die Königin ordnete an, Jebra die Zunge herauszuschneiden, sollte sie auch nur eine einzige – wie sie es nennt – lästerliche Bemerkung von sich geben.«

Kahlan musste sich zwingen, zu blinzeln. Längst war es nicht mehr Cyrillas Betragen, das sie so völlig aus der Fassung brachte. Ihre Worte klangen dürr und spröde, die leere Hülle erloschenen Respekts.

»Harold, warum befolgst du die Befehle einer Wahnsinnigen?«

Sein Kinn nahm einen entschlossenen Ausdruck an, so als hätte ihr Ton ihn gekränkt. »Mutter Konfessor, sie ist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine Königin. Ich habe einen Eid darauf geleistet, meiner Königin zum Schutze des galeanischen Volkes zu gehorchen. All unsere Soldaten hier draußen, die in deiner Armee gekämpft haben, sind ebenfalls darauf vereidigt, in erster Linie das galeanische Volk zu beschützen. Ich habe ihnen die Befehle unserer Königin bereits übermittelt. Wir müssen unverzüglich nach Galea zurückkehren. Tut mir Leid, aber jedes andere Vorgehen ist völlig ausgeschlossen.«

Kahlan schlug mit der Faust auf den Tisch und sprang auf.

»Galea liegt am oberen Ende des Callisidrintales! Von dort aus hat man Zugang bis in das Herz der Midlands! Begreifst du nicht, wie verlockend diese Marschroute für die Imperiale Ordnung wäre? Siehst du nicht, dass sie es möglicherweise darauf abgesehen hat, die Midlands zu spalten?«

»Selbstverständlich tue ich das, Mutter Konfessor.«

Sie deutete mit gestrecktem Arm auf das jenseits der Hütte liegende Armeelager.

»Und du erwartest einfach, dass all diese Männer dort draußen sich mit Leib und Leben zwischen dich und die Imperiale Ordnung stellen? Königin Cyrilla und du, ihr geht einfach ganz selbstverständlich davon aus, dass diese Männer dort draußen sterben, nur um euch zu beschützen? – während ihr gemütlich in Galea sitzt und darauf hofft, dass sie die Imperiale Ordnung schon daran hindern werden, jemals bis zu euch vorzudringen?«

»Natürlich nicht, Mutter Konfessor.«

»Was ist nur in dich gefahren? Siehst du nicht, dass du die Bevölkerung deiner Heimat schützt, wenn du an unserer Seite dafür kämpfst, der Imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten?«

Harold benetzte sich die Lippen. »Wahrscheinlich entspricht alles, was du sagst, der Wahrheit, Mutter Konfessor; doch gleichzeitig ist es völlig bedeutungslos. Ich bin Befehlshaber der galeanischen Armee und habe mich mit meinem gesamten Leben dem Dienst am galeanischen Volk und meinem Regenten verschrieben – erst meiner Mutter und meinem Vater, später dann meiner Schwester. Ich hockte noch als kleiner Junge zu meines Vaters Füßen, als man mir bereits beibrachte, den Schutz Galeas über alles zu stellen.«

Kahlan gab sich größte Mühe, ihre Stimme in der Gewalt zu haben. »Harold, Cyrilla ist ganz offensichtlich noch immer krank. Solltest du ernsthaft daran interessiert sein, dein Volk zu beschützen, musst du einsehen, dass du das mit deinem jetzigen Vorgehen niemals wirst erreichen können.«

»Mutter Konfessor, meine Königin hat mich mit dem Schutz des Volkes von Galea beauftragt. Ich kenne meine Pflicht.«

»Pflicht?« Kahlan wischte sich mit der Hand durchs Gesicht.

»Du kannst dich unmöglich blindlings den Launen dieser Frau ausliefern, Harold. Es gibt nur einen Weg ins Leben und in die Freiheit, und der führt über die Vernunft. Cyrilla ist vielleicht Königin, aber unser einzig wahrer Herrscher kann nur die Vernunft sein. Wer sich in dieser Angelegenheit nicht von Vernunft leiten lässt, macht sich geistiger Anarchie schuldig.«

Er sah sie an, als wäre sie ein bedauernswertes kleines Kind, das die Welt der Erwachsenenpflichten nicht begreift.

»Sie ist meine Königin. Die Königin ist dem Volk zur Treue verpflichtet.«

Kahlan trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Cyrilla ist nichts weiter als ein Hirngespinst jener Geister, die sie noch immer heimsuchen. Sie wird deinem Volk schaden. Und du wirst ihr dabei helfen, dein Volk ins Verderben zu stürzen, weil du dir eine Wahrheit wünschst, die so nicht existiert. Du siehst sie als das, was sie einst war, nicht wie sie derzeit ist.«

Er zuckte mit den Achseln. »Ich kann verstehen, warum du jetzt so darüber denkst, Mutter Konfessor, aber das kann nichts daran ändern. Ich muss tun, was meine Königin mir befiehlt.«

Die Ellbogen auf dem Tisch, stützte Kahlan, zitternd vor Wut über den Irrsinn, den sie zu hören bekam, ihr Gesicht für eine Weile in die Hände; schließlich sah sie auf und erwiderte den festen, starren Blick ihres Halbbruders.

»Galea ist Teil des d’Haranischen Reiches, Harold. Galea besitzt allein mit Duldung des Reiches eine Königin. Cyrilla mag vielleicht Königin sein, trotzdem ist sie – und war es immer, auch wenn sie die Oberherrschaft des d’Haranischen Reiches nicht anerkennt – der Mutter Konfessor der Midlands Untertan. In meiner Funktion sowohl als Mutter Konfessor als auch, in Abwesenheit des Lord Rahl, als Führerin des d’Haranischen Reiches, beende ich diese Duldung hiermit in aller Form. Cyrilla ist von jetzt an ohne Machtbefugnis und abgesetzt. Sie ist Königin von gar nichts mehr, und schon gar nicht von Galea.

Ich befehle dir, nach Ebinissia zurückzukehren und Cyrilla zu ihrem eigenen Schutz unter Arrest zu stellen, Jebra freizulassen und mit der Seherin und – bis auf eine Bürgerwehr für die Stadt der Krone mit sämtlichen galeanischen Streitkräften wieder zu dieser Armee zu stoßen.«

»Mutter Konfessor, es tut mir Leid, aber meine Königin hat befohlen…«

Kahlan schlug mit der flachen Hand krachend auf den Tisch. »Genug!«

Er verstummte, als Kahlan sich erhob. Die Fingerspitzen auf den Tisch gestemmt, beugte sie sich zu ihm.

»Als Mutter Konfessor befehle ich dir, meine Befehle unverzüglich auszuführen. Das ist mein letztes Wort. Ich will nichts mehr hören.«

Die schwerwiegenden Konsequenzen der Ereignisse schienen den Raum ergriffen zu haben. Jedes einzelne Gesicht beobachtete verhalten, wie es weitergehen würde.

Harold antwortete mit einer Stimme, die Kahlan an ihren Vater erinnerte.

»Mir ist bewusst, dass es dir vielleicht sinnlos erscheint, Mutter Konfessor, aber ich muss meine Pflicht gegenüber meinem Volk über meine Pflicht dir gegenüber stellen. Cyrilla ist meine Schwester. König Wyborn verlangte von mir stets, der Armee ein guter Befehlshaber zu sein. Als Offizier bin ich verpflichtet, meiner Königin zu gehorchen. Meine Männer hier unten haben von ihrer Königin Befehl erhalten, unverzüglich zurückzukehren und Galea zu beschützen. Meine Ehre verpflichtet mich zum Schutz meines Volkes, wie von meiner Königin befohlen.«

»Du aufgeblasener Narr! Wie kannst du es wagen, mir von Ehre zu sprechen? Deinen Wahnvorstellungen von Ehre opferst du das Leben unschuldiger Menschen. Ehre bedeutet Ehrlichkeit gegenüber der Wirklichkeit, nicht blinder Gehorsam gegenüber den eigenen Wunschvorstellungen. Du hast kein Ehrgefühl, Harold.«

Kahlan ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Sie schaute seitlich an ihm vorbei und starrte in die Flammen des Feuers. »Ich habe dir meine Befehle mitgeteilt. Du weigerst dich, sie zu befolgen?«

»Das muss ich, Mutter Konfessor. Lass mich nur so viel sagen, es geschieht nicht aus bösem Willen.«

»Harold«, erklärte sie mit ausdrucksloser Stimme, »du begehst Verrat.«

»Ich bin mir darüber im Klaren, dass du es möglicherweise so siehst, Mutter Konfessor.«

»O ja, das tue ich. Das tue ich in der Tat. Verrat an deinem Volk, Verrat an den Midlands, Verrat an unserem d’Haranischen Zusammenschluss gegen die Imperiale Ordnung sowie Verrat an der Mutter Konfessor. Wie sollte ich deiner Meinung nach darauf reagieren?«

»Wenn du deiner Sache in diesem Punkt so sicher bist, würde ich erwarten, dass du mich hinrichten lässt, Mutter Konfessor.«

Sie schaute zu ihm hoch. »Wenn du Verstand genug besitzt, das zu erkennen, was hast du dann davon, unterwürfig an den Befehlen einer Wahnsinnigen festzuhalten? Die einzige Folge wäre dein Tod, und in diesem Fall würdest du die Befehle deiner Königin erst recht nicht ausführen können. Bleibst du bei diesem Kurs, führt das günstigstenfalls dazu, dass dein Volk auf deine Hilfe verzichten muss, was du angeblich ja unbedingt vermeiden willst. Warum tust du nicht einfach das Richtige und unterstützt uns bei der Hilfe für dein Volk? Deine Weigerung beweist doch nur, dass dir in Wahrheit jeder gesunde Menschenverstand abgeht, von Ehrgefühl ganz zu schweigen.«

Seine Augen, erfüllt von glühendem Zorn, wandten sich zu ihr; die Knöchel seiner Finger traten weiß hervor.

»Ich werde jetzt angehört werden, Mutter Konfessor. Wenn ich zu meiner Ehre stehe, selbst wenn es mich das Leben kostet, dann ehre ich damit meine Familie, meine Schwester, meine Königin und mein Heimatland. Ein Heimatland, das von meinem Vater, König Wyborn, und meiner Mutter, Königin Bernadine, unter großen Mühen geschaffen wurde. Als ich noch klein war, wurde mein Vater, mein Herrscher und König, meiner Mutter, meiner Familie und meiner Heimat Galea entrissen, er wurde von den Konfessoren geraubt, überwältigt durch Konfessorenkraft wegen ihres eigensüchtigen Wunsches nach einem Gemahl für deine Mutter, weil diese sich in ihrem Egoismus nach einem starken Mann sehnte, der ihr ein Kind zeugen sollte – dich. Und jetzt wagst du es, Mutter Konfessor – die Ausgeburt jenes Menschenraubs, der uns unseren geliebten Vater nahm, als ich noch ein kleiner Junge war – mich meiner Schwester fortzunehmen? Und auch sie unserem Land zu nehmen? Du wagst es, mich von meiner Pflicht zu entbinden, meiner Königin, meinem Land und vor allem meinem Volk zu dienen? Der letzte Dienst, den mein Vater von mir verlangte, bevor deine Mutter ihn uns nahm, um ihn aus keinem anderen Grund als dem, dass er rechtschaffen war und sie ihn haben wollte, war, dass ich stets meine Pflicht gegenüber meinem Land und meiner Schwester erfüllen sollte. Diesen letzten Wunsch meines Vaters werde ich erfüllen, selbst wenn du das für Wahnsinn hältst.«

Kahlan starrte ihn schockiert und dennoch vollkommen ruhig an.

»Es tut mir Leid, dass du so empfindest, Harold.«

Sein Gesicht wirkte um Jahre gealtert.»Ich weiß, du bist nicht verantwortlich für das, was vor deiner Entstehung geschah, und ich werde jenen Teil von dir, der mich an meinen Vater erinnert, stets lieben, trotzdem bin noch immer ich es, der mit alldem leben muss. Im Augenblick muss ich mir selbst und meinen Gefühlen treu bleiben.«

»Deinen Gefühlen«, wiederholte sie.

»Ganz recht, Mutter Konfessor. Das sind meine Gefühle, und denen muss ich Glauben schenken.«

Kahlan schluckte, obwohl sich ihre Kehle schmerzhaft zusammenschnürte. Ihre kraftlos vor ihr auf dem Tisch liegenden Finger kribbelten.

»Glaube und Gefühle. Harold, du bist genauso verrückt wie deine Schwester.«

Sie richtete sich stolz auf und faltete die Hände, wechselte einen letzten Blick mit ihrem Halbbruder, einem Mann, von dem sie kaum mehr kannte als den Namen, und sprach das Urteil über ihn.

»Vom morgigen Sonnenaufgang an befinden sich das d’Haranische Reich und Galea im Krieg. Solltest du nach dem morgigen Sonnenaufgang von mir oder einem unserer Männer gesehen werden, wird man dich wegen des Verbrechens des Verrats hinrichten.

Ich werde nicht zulassen, dass diese tapferen Männer dort draußen ihr Leben für einen Verräter lassen. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird sich die Imperiale Ordnung nach Norden wenden und durch das Tal des Callisidrin marschieren. Du wirst ganz auf dich gestellt sein. Sie werden deine Armee bis auf den letzten Mann abschlachten, genau wie sie die Bevölkerung Ebinissias abgeschlachtet haben. Und Jagang wird deine Schwester seinen Männern als Hure vorwerfen.

All dies wird deine Schuld sein, Harold, weil du dich geweigert hast, deinen Verstand zu gebrauchen und stattdessen deinen Gefühlen gefolgt bist und deinem Glauben an etwas, das überhaupt nicht existiert.«

Harold, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Kinn emporgereckt, lauschte schweigend, während Kahlan fortfuhr.

»Richte Cyrilla aus, sie täte gut daran, auf das von mir soeben geschilderte Schicksal zu hoffen, denn wenn die Imperiale Ordnung nicht in Galea einmarschiert, werde ich es tun. Ich habe geschworen, dem Orden kein Pardon zu geben. Der Verrat Galeas verdammt dieses Land zu demselben Schicksal wie die Imperiale Ordnung. Fällt Cyrilla nicht in die Hände der Imperialen Ordnung, dann, das schwöre ich, wird sie mir in die Hände fallen; und wenn es soweit ist, werde ich sie nach Aydindril zurückbringen, sie eigenhändig wieder in jenes Verlies werfen, aus dem du sie gerettet hast, und sie dort unten mit jedem verbrecherischen Bastard, den ich finde, bis an ihr Lebensende schmoren lassen.«

Harold fiel der Unterkiefer herunter. »Das würdest du … nicht tun, Mutter Konfessor.«

Kahlans Augen verrieten ihm etwas anderes. »Vergiss du nur nicht, Cyrilla auszurichten, was sie erwartet. Vermutlich hat Jebra es ihr beizubringen versucht und wurde dafür in den Kerker geworfen. Cyrilla verschließt die Augen vor dem Schlund, der sich vor ihr auftut, und du wirst ihr dort hinein folgen. Schlimmer noch, du reißt dein unschuldiges Volk mit ins Verderben.«

Kahlan zog ihr königlich galeanisches Schwert blank und packte es an beiden Enden. Die Zähne zusammengebissen, stemmte sie ihr Knie gegen die flache Klingenseite, woraufhin der Stahl sich bog und schließlich mit einem lauten Knall zerbrach. Sie schleuderte ihm die zerbrochene Klinge vor die Füße.

»Und jetzt geh mir aus den Augen.«

Er wandte sich zum Gehen, doch bevor er einen Schritt machen konnte, war Zedd aufgestanden und hob eine Hand, so als wollte er ihn bitten stehen zu bleiben.

»Mutter Konfessor«, sagte Zedd, seine Worte mit Bedacht wählend, »ich glaube, du bist im Begriff, dich von deinen Gefühlen leiten zu lassen.«

Harold, erleichtert über Zedds Fürsprache, deutete auf Kahlan. »Erklärt Ihr es ihr, Zauberer Zorander. Erklärt es ihr.«

Kahlan traute ihren Ohren nicht. Sie verharrte, wo sie war und starrte in Zedds haselbraune Augen. »Würde es dir etwas ausmachen, mir meine gefühlsmäßige Verirrung zu erläutern, Oberster Zauberer?«

Zedd warf einen kurzen Blick auf Harold, dann sah er wieder Kahlan an. »Mutter Konfessor, Königin Cyrilla ist ohne Zweifel geistig verwirrt. Prinz Harold erweist ihr nicht nur einen schlechten Dienst, sondern er ermöglicht ihr, das Schreckgespenst des Todes über ihr Volk zu bringen. Schlüge er sich auf die Seite der Vernunft, würde er sein Volk beschützen und die bewundernswerten Dienste respektieren, die sie in der Vergangenheit geleistet hat, als sie noch bei klarem Verstand war.

Stattdessen verriet er seine Pflicht gegenüber seinem Volk, indem er ihre Wunschvorstellungen übernahm, statt sich der Wahrheit zu stellen. Auf diese Weise nimmt er den eigenen Tod sowie den seines Volkes billigend in Kauf.

Prinz Harold wurde zu Recht des Verrats für schuldig befunden. Deine Gefühle für ihn beeinträchtigen jedoch dein Urteilsvermögen. Offenkundig stellt er derzeit eine Gefahr für unsere Sache, für das Leben unserer Völker und das Leben seines eigenen Volkes dar. Man darf ihm auf keinen Fall erlauben, das Lager zu verlassen.«

Harold schien wie vom Donner gerührt. »Aber Zedd…«

Selbst Zedds haselbraune Augen schienen ihn eines entsetzlichen Vergehens für schuldig zu befinden. Er wartete, so als wollte er den Mann auffordern, einen weiteren Beweis für seinen Verrat zu liefern. Harolds Kiefer mahlte, doch er brachte kein einziges Wort hervor.

»Ist jemand anderer Meinung als ich?«, fragte Zedd.

Er sah Adie an; sie schüttelte den Kopf. Verna tat es ihr nach. Warren sah Harold einen Moment unverwandt an, bis schließlich auch er den Kopf schüttelte.

Harolds Züge nahmen einen empörten Ausdruck an. »Das lasse ich mir nicht gefallen. Die Mutter Konfessor hat mir bis zum Morgen Zeit gegeben, mich zu entfernen. Ihr müsst ihr Urteil respektieren.«

Er machte zwei Schritte Richtung Tür, dann plötzlich hielt er inne und griff sich an die Brust. Mit einer langsamen Körperdrehung begann er in sich zusammenzusinken und verdrehte die Augen. Seine Beine knickten ein, sodass er krachend auf den Fußboden schlug.

Kahlan saß da wie gelähmt. Niemand rührte sich oder sprach. General Meiffert ließ sich neben der Leiche nieder, untersuchte Prinz Harolds Atmung und Puls, dann blickte er zu Kahlan hoch und schüttelte ungläubig den Kopf.

Sie sah erst Zedd an, dann wanderte ihr Blick zu Adie und schließlich zu Verna und Warren: keines der Gesichter verriet irgendeine Regung.

Kahlan erhob sich und sagte leise: »Ich möchte niemals erfahren, wer von euch das getan hat. Ich sage nicht, ihr hättet etwas falsch gemacht … ich möchte es einfach nicht wissen.«

Die vier mit der Gabe Gesegneten nickten.

An der Tür blieb Kahlan einen Augenblick im strahlenden Sonnenschein stehen und suchte, die kalte Luft auf ihrem Gesicht spürend, bis sie Captain Ryan gefunden hatte, der an einem kräftigen, jungen Ahornstamm lehnte. Er nahm Haltung an, als sie durch den Schnee auf ihn zugeschritten kam.

»Bradley, hat Euch Prinz Harold mitgeteilt, weshalb er hergekommen ist?«

Dass sie ihn mit seinem Taufnamen und nicht mit seinem Rang anredete, verlieh der Frage einen völlig anderen Charakter. Seine starre Haltung lockerte sich ein wenig.

»Das hat er, Mutter Konfessor. Er glaubte Euch ausrichten zu müssen, dass ihm seine Königin den Befehl gegeben hat, Galea zu verteidigen und die in Euren Diensten stehenden Männer zurück nach Galea zu bringen.«

»Was tut Ihr dann noch hier? Warum seid Ihr überhaupt mit Euren Männern geritten, wo er doch ohnehin jeden zurückbringen sollte?«

Er reckte sein kantiges Kinn ein wenig vor und betrachtete sie aus seinen klaren, blauen Augen. »Weil wir desertiert sind, Mutter Konfessor.«

»Ihr seid was?«

»Prinz Harold hat mir seine Befehle mitgeteilt, so wie ich sie Euch soeben gemeldet habe. Ich erklärte ihm, das sei nicht richtig, und unser Volk könne dadurch nur Schaden nehmen. Daraufhin erwiderte er, über diese Dinge stünde mir kein Urteil zu. Es sei nicht meine Aufgabe, nachzudenken, sondern Befehle auszuführen.

Ich habe an Eurer Seite gekämpft, Mutter Konfessor. Ich glaube Euch besser zu kennen als Prinz Harold – ich weiß, dass Ihr Euch ganz dem Schutz des Lebens der Menschen in den Midlands verschrieben habt, daher erklärte ich ihm, was Cyrilla tue, sei falsch. Er wurde wütend und wiederholte, es sei ausschließlich meine Pflicht, zu tun, was man mir befiehlt.

Ich erklärte ihm, in diesem Fall würde ich die galeanische Armee verlassen und mich stattdessen auf Eure Seite stellen. Erst dachte ich, er würde mich für diesen Ungehorsam hinrichten lassen, aber dann hätte er alle eintausend von uns umbringen lassen müssen, denn die Männer empfanden alle ganz genauso. Eine ganze Reihe von ihnen trat vor und sagte ihm das auch. Daraufhin schien ihn aller Eifer zu verlassen, und er ließ uns ihn hierher begleiten.

Ich hoffe, Ihr seid nicht erzürnt über uns, Mutter Konfessor.«

Kahlan brachte es in diesem Augenblick nicht über sich, sich wie die Mutter Konfessor zu benehmen. Sie schloss ihn in die Arme.

»Danke, Bradley«

Sie fasste ihn bei den Schultern und lächelte ihn mit tränenfeuchten Augen an. »Ihr habt Euren Verstand benutzt; deswegen könnte ich Euch niemals böse sein.«

»Ihr meintet einmal zu uns, wir seien wie ein Dachs, der einen Ochsen in einem Stück zu verschlingen sucht. Mir scheint, jetzt Ihr habt Euch darauf verlegt, es selber zu versuchen. Wenn es jemals einen Dachs gab, der im Stande wäre, einen Ochsen in einem Stück zu verschlingen, dann Ihr, Mutter Konfessor; aber vermutlich wollten wir nicht, dass Ihr es versucht, ohne dass wir Euch dabei helfen.«

In diesem Augenblick drehten sie sich um und sahen, wie General Meiffert einigen seiner Leute Anweisungen gab. Sie trugen Prinz Harolds schlaffen Leichnam, ihn an Schultern und Füßen haltend, aus der Hütte; seine Hände schleiften im Schnee.

»Ich hatte schon damit gerechnet, dass dies kein gutes Ende nehmen würde«, meinte der junge Captain. »Seit Cyrilla verwundet wurde, scheint Prinz Harold einfach nicht mehr er selbst gewesen zu sein. Ich war dem Mann stets sehr zugetan; es war schmerzlich für mich, ihm abtrünnig zu werden. Aber was er tat und sagte, hatte einfach weder Hand noch Fuß.«

Kahlan legte ihm eine tröstende Hand auf die Schulter, während sie beobachteten, wie die Leiche abtransportiert wurde. »Es tut mir Leid, Bradley. Genau wie Ihr, so hatte auch ich stets eine hohe Meinung von ihm. Wahrscheinlich hat es ihn um den Verstand gebracht, mitansehen zu müssen, wie seine Schwester und Königin solange in den Klauen dieser Krankheit gefangen war. Versucht ihn in guter Erinnerung zu behalten.«

»Das werde ich, Mutter Konfessor.«

Kahlan wechselte das Thema. »Ich werde einen Eurer Männer brauchen, um Cyrilla eine Nachricht zu überbringen. Ich hatte sie Harold mitgeben wollen, aber jetzt werden wohl wir einen Boten brauchen.«

»Ich werde mich darum kümmern, Mutter Konfessor.«

Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie kalt es hier draußen war und dass sie keinen Umhang trug. Als der Captain sich entfernte, um seine Männer einquartieren zu lassen und einen Soldaten als Boten zu bestimmen, kehrte Kahlan in die Hütte zurück.

Cara war gerade damit beschäftigt, Holz nachzulegen; Verna und Adie waren gegangen. Warren war dabei, eine zusammengerollte Karte aus dem in der Ecke stehenden Korb mit Landkarten und Diagrammen auszuwählen.

Er wollte schon gehen, als Kahlan ihn am Arm festhielt. Sie schaute dem Zauberer in seine blauen Augen und erinnerte sich daran, dass sie sehr viel älter waren, als es den Anschein hatte. Richard war nicht müde geworden, Warren als einen der klügsten Menschen zu bezeichnen, denen er je begegnet war. Im Übrigen lag Warrens eigentliche Begabung angeblich auf dem Gebiet der Prophezeiungen.

»Werden wir alle in diesem wahnsinnigen Krieg umkommen, Warren?«

Ein ebenso verlegenes wie schelmisches Grinsen milderte seine Züge. »Ich dachte, Ihr glaubt nicht an Prophezeiungen, Kahlan.«

Sie ließ seinen Arm los. »Das tue ich wohl auch nicht. Nichts für ungut. «

Cara, die noch etwas Feuerholz suchen wollte, folgte Warren nach draußen. Sich vor dem Kamin aufwärmend, betrachtete Kahlan die auf dem Sims stehende Figur der Seele . Zedd legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

»Was du gerade zu Harold über den Gebrauch des Verstandes, über die Vernunft gesagt hast, war sehr klug, Kahlan. Du hattest Recht.«

Sie strich mit den Fingern über das schmeichelnd weiche Walnussholzgewand von Seele . »Das waren auch Richards Worte, als er mir erklärte, er sei sich endlich darüber klar geworden, was er tun müsse. Damals meinte er, der einzige Souverän, dem er sich jemals unterwerfen würde, sei die Vernunft.«

»Das hat Richard gesagt? Genau das waren seine Worte?«

Kahlan nickte, den Blick noch immer auf Seele gerichtet. »Er erklärte mir, das erste Gesetz der Vernunft besagt: was existiert, existiert; was ist, ist, und auf dieses nicht weiter reduzierbare, unumstößliche Prinzip gründe sich alles Wissen. Er meinte, das sei die Grundlage, von der aus sich einem das Leben erschließt.

Das Denken, erklärte er, biete einem die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen; Wünsche und Launen seien weder Tatsachen noch ein Weg, diesen auf die Spur zu kommen. Vermutlich hat Harold soeben den Beweis geliefert, wie Recht er damit hatte. Richard sagte, Vernunft sei unsere einzige Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfassen – und damit unser wichtigstes Mittel im Überlebenskampf. Zwar steht es uns frei, uns die Mühe des Denkens zu ersparen – und die Vernunft abzulehnen –, doch entgehen wir damit keineswegs der Strafe jenes Abgrunds, den zu sehen wir uns weigern.«

Sie lauschte auf das Knacken des Feuers zu ihren Füßen, während sie den Blick über die Linien der Figur wandern ließ, die er für sie geschnitzt hatte. Als sie von Zedd nichts hörte, sah sie über ihre Schulter. Er starrte unverwandt in die Flammen, während eine Träne über seine Wange rollte.

»Was ist denn nur, Zedd?«

»Der Junge ist ganz von allein darauf gekommen.« Aus der Stimme des alten Zauberers sprach die unglückliche Mischung von Verlorenheit und stillem Stolz. »Er hat es begriffen und vollkommen richtig gedeutet, und obendrein hat er es ganz von allein erkannt, indem er es angewendet hat.«

»Was denn erkannt?«

»Das wichtigste Gesetz, das es gibt, das Sechste Gebot des Zauberers; der einzige Souverän, dem man sich unterwerfen darf, ist die Vernunft.«

Spiegelungen des Feuerscheins tanzten in seinen haselbraunen Augen. »Das Sechste Gebot ist der Dreh- und Angelpunkt, um den alle anderen Gebote kreisen. Es ist nicht nur das wichtigste aller Gebote, sondern auch das einfachste; nichtsdestoweniger ist es dasjenige, das am häufigsten missachtet und verletzt und bei weitem am häufigsten verschmäht wird. Man muss ihm, dem unablässigen Protestgeschrei der Gottlosen zum Trotz, unbedingt Geltung verschaffen.

In den Schatten seines strahlenden Lichts, wo Halbwahrheiten gläubige Anhänger, tief empfindende Gläubige und selbstlose Jünger in die Falle locken, lauern Elend, Ungerechtigkeit und völliges Verderben.

Glaube und Gefühle sind das gefährlich lockende Wesen des Bösen. Anders als Vernunft setzen Glauben und Gefühle der Selbsttäuschung und Launenhaftigkeit keine Grenzen. Sie sind ein bösartiges, ansteckendes Gift, das einem für jede jemals ersonnene Verdorbenheit die betäubende Illusion moralischer Rechtfertigung verschafft.

Glaube und Gefühl sind der Schatten des strahlend hellen Lichts der Vernunft. Vernunft ist das Wesen der Wahrheit, die ganze Herrlichkeit des Lebens lässt sich nur durch Vernunft erfassen, durch dieses Gebot. Setzt man sich darüber hinweg, indem man die Vernunft verschmäht, schließt man den Tod in seine Arme.«


Am nächsten Morgen hatte sich ungefähr die Hälfte der galeanischen Streitmacht abgesetzt und war, wie von Prinz Harold vor seinem Tod angeordnet, in ihre Heimat und zu ihrer Königin zurückgekehrt. Die Übrigen, wie Captain Ryan und seine jungen Soldaten, hielten dem d’Haranischen Reich die Treue.

Lieutenant Leiden sowie seine gesamte Streitmacht aus keltonischen Truppen waren mit Tagesanbruch ebenfalls abgezogen. Er hinterließ Kahlan ein Schreiben, in dem er erklärte, nach der Entscheidung Galeas, mit dem d’Haranischen Reich zu brechen, sei auch er gezwungen umzukehren, um zum Schutze Keltons beizutragen, da das eigensüchtige Vorgehen der Galeaner zweifellos die Wahrscheinlichkeit erhöhe, dass die Imperiale Ordnung das Tal des Flusses Kern hinaufmarschieren und Kelton bedrohen werde. Er schrieb, er hoffe, die Mutter Konfessor werde einsehen, wie ernst die Gefahr für Kelton sei, und Verständnis dafür haben, dass es nicht seine Absicht sei, sie oder das d’Haranische Reich im Stich zu lassen, sondern lediglich sein Volk zu beschützen.

Kahlan war über den Abzug der Männer unterrichtet; General Meiffert und Warren hatten sie davon in Kenntnis gesetzt. Sie hatte damit gerechnet und ihn mit eigenen Augen verfolgt. Sie trug General Meiffert auf, sie ziehen zu lassen, so dies ihr Wunsch sei, denn ein Krieg im eigenen Lager konnte kein gutes Ende nehmen. Die Moral der zurückgebliebenen Männer erhielt dadurch Auftrieb, dass sie das Gefühl hatten, auf der richtigen Seite zu stehen und das Richtige zu tun.

An jenem Nachmittag – sie war gerade dabei, ein dringendes Schreiben an General Baldwin, den Oberbefehlshaber aller keltonischen Truppen, aufzusetzen – suchten General Meiffert und Captain Ryan sie auf. Nachdem sie sich ihren Plan angehört hatte, erteilte sie Captain Ryan die Erlaubnis, mit einer ähnlich großen Anzahl von General Meifferts handverlesenen Spezialtruppen der d’Haranischen Streitkräfte aufzubrechen und überfallartige Angriffe gegen die Streitmacht der Imperialen Ordnung durchzuführen.

Warren sowie sechs Schwestern wurden zu seiner Begleitung mitgeschickt.

Da sich die Imperiale Ordnung so weit nach Süden zurückgezogen hatte, benötigte Kahlan Informationen über ihr gegenwärtiges Vorgehen sowie über den Zustand ihrer Streitmacht. Darüber hinaus wollte sie den Feind weiterhin unter Druck setzen, solange die schlechten Witterungsverhältnisse für sie vorteilhaft waren. Captain Bradley Ryan und seine Truppe von nahezu eintausend Mann waren erfahrene Gebirgsjäger und unter eben diesen rauen Bedingungen aufgewachsen. Kahlan hatte an der Seite des Captains und seiner jungen galeanischen Soldaten gekämpft und sie in den Methoden im Kampf gegen eine gewaltige Übermacht ausgebildet. Wenn nur die feindlichen Truppen nicht mehr als eine Million Mann zählen würden…

General Meifferts Spezialeinheiten, die er bis zu seiner Beförderung durch Kahlan vortrefflich befehligt hatte, standen jetzt unter dem Kommando von Captain Zimmer, einem jungen D’Haraner mit kantigem Kinn und Stiernacken, sowie einem ansteckenden Lächeln. Sie waren all das dreifach, was Captain Ryans junge Soldaten damals waren: erfahren, unter Druck sachlich nüchtern, unermüdlich, furchtlos und von kalter Durchschlagskraft, wenn es ums Töten ging. Was die meisten Soldaten erblassen ließ, entlockte ihnen bestenfalls ein Lächeln.

Am liebsten kämpften sie einfach so, wenn sie von einengenden Schlachttaktiken befreit waren und stattdessen ihre besonderen Begabungen zum Einsatz kommen konnten. Sie wussten es zu schätzen, wenn man sie von der Leine ließ und sie das tun konnten, worauf sie sich am besten verstanden. Statt sie zu zügeln, ließ Kahlan ihnen vollkommen freie Hand.

Jeder dieser D’Haraner sammelte Feindesohren.

Sie fühlten sich Kahlan sehr verbunden, teils weil sie niemals versuchte, sie zu bevormunden und in die größere Armee einzugliedern, aber vielleicht noch mehr, weil sie nach jeder Rückkehr von einem Einsatz darum bat, ihre Ohrenkette sehen zu dürfen. Sie mochten es, wenn man ihre Arbeit zu schätzen wusste.

Kahlan beabsichtigte, sie später Jagd auf galeanische Ohren machen zu lassen.

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