65

Nachdem Richard mit dem feinen weißen Leinenstoff zurückgekehrt war, den er gekauft hatte, um die Statue bis zur Feier am darauf folgenden Tag abzudecken, half er Ishaq und mehreren anderen Männern, die er von der Baustelle unten kannte, mit den Vorbereitungen für das mühselige Vorhaben, den schweren Stein mittels eines Schlittens hinunter auf den Palastvorplatz zu transportieren. Zum Glück hatte es seit einiger Zeit nicht mehr geregnet, deshalb war der Untergrund fest genug.

Ishaq, der sich in diesen Dingen auskannte, hatte eingefettete Rollwalzen aus Holz mitgebracht, die vor die die Holzplattform unter der Statue tragenden schweren Holzkufen gelegt wurden, damit die Pferdegespanne die gewaltige Last leichter über den Boden ziehen konnten. Sobald man die Statue auf den zweiten Satz eingefetteter Rollwalzen gezogen hatte, trugen die Männer die hinten liegen gebliebenen nach vorn, sodass die Statue in wechselnden Schüben vorwärts bewegt wurde.

Der Hang war weiß vom Geröll aus Gesteinsabfall, sodass die Statue beträchtlich weniger wog als noch zu Beginn. Ursprünglich hatte Victor spezielle Karren zum Transport von Gesteinsquadern angemietet, doch die waren jetzt nicht zu verwenden, weil das fertige Stück weder auf die Seite gelegt werden konnte, noch überhaupt eine so grobe Behandlung vertrug.

Unter wildem Gefuchtel mit seiner roten Mütze hatte Ishaq Befehle gebrüllt, Warnungen ausgestoßen und Stoßgebete zum Himmel gesandt, während sie sich langsam voranarbeiteten. Richard wusste, dass die Statue in keinen besseren Händen hätte sein können. Ishaqs nervöse Anspannung schien sich auf die Männer, die ihnen zur Hand gingen, zu übertragen. Sie spürten, dass es um etwas Wichtiges ging, und obwohl die Arbeit schwierig war, schien ihnen die Teilnahme daran mehr Freude zu bereiten als ihre tägliche Plackerei auf der Baustelle. Es dauerte bis in den späten Nachmittag, die Statue über die Strecke von der Werkstatt bis zum Fuß der auf den Vorplatz führenden Treppe zu schleppen.

Männer schaufelten Erde vor den Fuß der Treppe und stampften diese fest, um den Übergang auf die Steigung zu erleichtern. Dann führte man ein Gespann aus zehn Pferden zur Rückseite des Säulengangs. Um den Schlitten über die Stufen nach oben zu ziehen, führte man lange Taue durch die offenen Fenster- und Türöffnungen und band sie anschließend am steinernen Sockel fest. Die restlichen Rollwalzen wurden in den vorderen Winkel der Erdrampe gelegt, um später, wenn die Statue im weiteren Verlauf die Treppe hinaufrückte, weiter oben auf den Stufen platziert zu werden: Zoll um Zoll kletterte die Statue die Stufen hinauf.

Richard konnte kaum hinsehen. Wenn irgendetwas schief ginge, würde sein ganzes Werk nach hinten kippen und zerspringen; der Makel im Gestein würde alles zerstören. Er musste bei sich lächeln, als er merkte, wie töricht es war, sich darum zu sorgen, dass der Beweis seines Verbrechens gegen den Orden vernichtet werden könnte.

Als die Statue schließlich sicher auf dem Vorplatz angekommen war, wurde Sand unter die Plattform gepresst, um ihr Gewicht aufzufangen. Nun, da der Sand die hölzerne Plattform sicher trug, wurden die schweren Rollwalzen entfernt. Dann ließ man die Plattform ohne die Walzen von ihrem Sandhügel heruntergleiten. Von da an war es vergleichsweise einfach, die Statue mit viel Geduld und Behutsamkeit von ihrem hölzernen Unterbau herunter und auf den Vorplatz selbst zu ziehen. Zu guter Letzt stand Marmor auf Marmor. Kolonnen von Männern zogen die befreite Statue an um ihren Sockel befestigten Tauen auf ihren endgültigen Standort in der Platzmitte.

Als es vorbei war, stand Ishaq neben Richard und wischte sich mit seiner roten Mütze über die Stirn. Die gesamte Statue mitsamt Sonnenuhr war mit der weißen, von Stricken gesicherten Leinenplane verhüllt, sodass Ishaq nicht sehen konnte, was sie darstellte. Trotzdem spürte er, dass er etwas Bedeutendes vor sich hatte.

»Wann?«, war alles, was Ishaq fragte.

Richard wusste, was er meinte. »Ich glaube, das weiß ich gar nicht genau. Bruder Narev wird den Palast morgen dem Schöpfer weihen, vor den Augen all der Beamten, die angereist sind, um zu sehen, wofür das Geld, das sie von den Menschen ergaunert haben, ausgegeben wurde. Ich schätze, dass die Beamten morgen gemeinsam mit allen anderen, die der Zeremonie beiwohnen, sowohl die Statue als auch den Palast gezeigt bekommen sollen – ich glaube nicht, dass eine gesonderte Enthüllung oder dergleichen geplant ist.«

Nach allem, was Richard gehört hatte, war die Zeremonie für die Ordensbrüder eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit. Der Aderlass, verursacht durch die Kosten für den Palast zusätzlich zu den Kriegskosten, verlangte nach einer Rechtfertigung gegenüber den Menschen, die diesen Preis nicht nur mit ihrem Schweiß, sondern auch mit ihrem Blut bezahlt hatten. Die Bruderschaft des Ordens herrschte durch die Imperiale Ordnung, notwendigerweise mit Unterstützung von brutalen Rohlingen, deren Vorgehen ihre moralische Billigung fand. Zwar hatten diese Rohlinge mühelos all jene physisch ausgemerzt, die aufbegehrt hatten, doch die Ordensbrüder wollten auch die Ideen ausmerzen, für die diese Revolte stand, bevor jene Schule machen konnten, denn besagtes Gedankengut bedeutete für sie die größte Gefahr.

Zu diesem Zweck war es erforderlich, auf die Beamten, die Günstlinge der Tyrannei, begeisternd einzuwirken. Richard vermutete, dass man der großen Schar von Beamten des Ordens, in Anbetracht der tausende von Fuß langen Steinmauern mit Darstellungen der Verdorbenheit der menschlichen Natur, geführte Besichtigungen zu sämtlichen Schwächen des Menschen anbieten und sie dadurch in die Pflicht nehmen würde, das bereits mit Waffengewalt konfiszierte Geld auszuhändigen – einer Gewalt, deren sie sich mit moralischer Billigung der Ordensbrüder durch die Bruderschaft der Imperialen Ordnung bedienten. Diesen kleinen Beamten gestand man für ihre Verdienste um den Orden ein Stück vom Kuchen zu, zweifellos aber beabsichtigten die Brüder ihnen, notfalls mit Gewalt, alle weiterführenden Ideen auszutreiben.

Unter der Führung der Brüder herrschte das Ordenskollektiv – jeder andere alleinige Herrscher auch – letzten Endes ausschließlich über die Unterwürfigkeit der Menschen, die entweder mittels moralischer Einschüchterung oder Androhung körperlicher Gewalt oder beidem kontrolliert wurden. Tyrannei verlangte, dass man sich unablässig um sie kümmerte, damit die Illusion gerechtfertigter Machtbefugnis nicht im Licht ihres unbarmherzigen Tributs verblasste und diese Rohlinge nicht von der ihnen zahlenmäßig weit überlegenen Bevölkerung überwältigt wurden.

Aus diesem Grund war Richard auch klar gewesen, dass er nicht zum Anführer taugte: Er konnte die Menschen nicht zu der Erkenntnis zwingen, dass aufgrund des hohen Wertes ihres Lebens Zwang verkehrt war, wohingegen der Orden sie durchaus zum Gehorsam zwingen konnte, indem er ihnen erst einmal einredete, ihr Leben sei wertlos. Freie Menschen ließen sich nicht beherrschen; man musste den Wert der Freiheit erst erkennen, bevor man sie fordern konnte.

»Nach allem, was ich gehört habe, soll es ein Großereignis werden«, sagte Ishaq. »Die Menschen kommen von überall her zur Weihung des Palastes des Kaisers. Die Stadt ist voller Besucher von nah und fern.«

Richard sah sich auf der Baustelle um, während die Arbeiter schweren Schritts wieder an ihre gewohnte Arbeit gingen.

»Ich bin überrascht, dass keiner der Beamten vorbeigeschaut hat, um den Palast vorab zu besichtigen.«

Ishaq schwenkte abtuend seine Mütze. »Sie sind alle auf der Versammlung der Bruderschaft des Ordens, im Stadtzentrum von Altur’Rang. Ganz große Sache. Es gibt zu essen und zu trinken, dazu Ansprachen von den Ordensbrüdern. Du weißt, wie beliebt Versammlungen beim Orden sind. Verdammt langweilig, könnte ich mir vorstellen. Nach allem, was ich von diesen Veranstaltungen weiß, wird man die Beamten damit auf Trab halten, dass man sie über die Nöte des Ordens sowie ihre Pflicht unterrichtet, die Menschen dazu zu bewegen, für diesen Zweck Opfer zu bringen. Die Brüder werden sie sämtlich straff am Zügel halten.«

Das bedeutete, dass die Ordensbrüder alle beschäftigt sein würden – zu beschäftigt, um für eine so unbedeutende Aufgabe wie die Überprüfung einer Statue, die einer ihrer Sklaven geschaffen hatte, zur Baustelle rauszukommen. Richards Statue war im großen Plan nicht von Belang. Sie bildete lediglich den Ausgangspunkt für den eindrucksvollen Rundgang vorbei an den meilenlangen Mauern, auf denen in ausgedehnten Szenen das große Anliegen des Ordens dargestellt wurde, so wie es die Ordensbrüder – unter Bruder Narevs Führung – vorschrieben.

Wenn die Beamten und Brüder zu beschäftigt waren, um an diesem Tag zu kommen – die Bewohner der Stadt waren es nicht. Vermutlich würden die meisten von ihnen den Feierlichkeiten des nächsten Tages beiwohnen, davor aber wollten sie sich, ganz für sich, selbst einen Eindruck von diesem Ort verschaffen, ohne die langweiligen Reden, die die Zeremonie in die Länge ziehen würden. Richard sah viele dieser Menschen von einer Szene auf den Mauern zur nächsten schreiten, die Gesichter erfüllt von der Trostlosigkeit dessen, was sie dort geboten bekamen.

Gardisten hielten die Menschen auf respektvolle Distanz und fern von dem Labyrinth der Räumlichkeiten und Korridore, die mittlerweile von Geschossdecken und, an einigen Stellen, Dächern nach oben hin abgeschlossen waren. Jetzt, da die Statue auf ihrem Platz stand, rückten die Gardisten an, um den Zugang zu dem Vorplatz freizuräumen.

In der vergangenen Woche hatte Richard nur wenige Stunden Schlaf gefunden. Nun, da die Statue endlich auf ihrem Platz stand, überwältigte ihn die Müdigkeit. Angesichts der vielen Mehrarbeit zusätzlich zu dem wenigen Schlaf und der schlechten Ernährung war er fast so weit, dass er sich auf der Stelle hätte niederlegen können.

Victor kam aus den langen Schatten hervor; einige Arbeiter waren schon dabei, aufzubrechen, andere wiederum würden noch stundenlang beschäftigt sein. Richard hatte nicht einmal mitbekommen, dass es den größten Teil des Tages gedauert hatte, die Statue umzusetzen. Jetzt, da die Hitze der Arbeit vorbei war, klebte ihm das schweißdurchtränkte Hemd eiskalt auf der Haut.

»Hier«, sagte Victor und reichte Richard eine Scheibe Lardo. »Iss. Um zu feiern, dass du es geschafft hast.«

Richard bedankte sich bei seinem Freund, bevor er den Lardo gierig verschlang. Er hatte alles in seiner Macht Stehende getan, um den Menschen vor Augen zu führen, was sie sehen mussten. Aber jetzt, da die Arbeit beendet war, fühlte Richard sich plötzlich verloren. Erst jetzt wurde ihm richtig bewusst, wie sehr er es verabscheute, fertig zu sein, auf die würdevolle Arbeit verzichten zu müssen. Sie war es gewesen, die ihn aufrecht gehalten hatte.

»Ich schlafe im Stehen ein, Ishaq. Meinst du, du könntest mich auf dem Nachhauseweg ein Stück in deinem Wagen mitnehmen?«

Ishaq gab Richard einen Klaps auf den Rücken. »Komm, du kannst hintendrauf mitfahren. Ich bin sicher, Jori hat nichts dagegen. So kann er dir wenigstens einen Teil deines Fußmarsches ersparen. Ich muss hier bleiben und mich um die Gespanne und die Wagen kümmern.«

Richard bedankte sich bei dem strahlenden Victor. »Morgen früh, meine Freunde, werden wir bei vollem Tageslicht die Plane abnehmen und zum letzten Mal Schönheit erblicken. Danach … nun, wer weiß.«

»Also, dann bis morgen«, sagte Victor mit seinem listigen Lächeln. »Ich glaube, heute Nacht mache ich kein Auge zu«, rief er Richard hinterher.

All die Monate der Anstrengung schienen auf einmal über ihn hereinzubrechen. Er kletterte auf die Ladefläche von Ishaqs Wagen und wünschte dem Mann eine gute Nacht. Als Ishaq sich entfernte, rollte Richard sich, um sich gegen das Licht zu schützen, unter einer Plane zusammen und war eingeschlafen, bevor Jori zurückkehrte. Er bekam nicht das Geringste davon mit, dass der Wagen sich in Bewegung setzte.


Nicci beobachtete, wie Richard zusammen mit Ishaq aufbrach. Sie wollte es alleine tun; es sollte ihr Beitrag sein. Sie wollte etwas beisteuern, das von Wert war.

Erst dann konnte sie ihm wieder gegenübertreten.

Sie wusste ganz genau, wie der Orden auf die Statue reagieren würde; man würde sie als Gefahr ansehen und nicht zulassen, dass andere sie zu Gesicht bekamen. Der Orden würde sie demzufolge zerstören. Dann wäre sie dahin, und niemand würde je von ihrer Existenz erfahren.

Die Finger ineinander schlingend überlegte sie, wie sie weiter vorgehen sollte – was zuerst zu tun war. Dann kam ihr der rettende Gedanke. Sie hatte ihn schon einmal aufgesucht; und damals hatte er Richard auch geholfen. Mit hastigen Schritten lief Nicci über das weite Gelände der Palastbaustelle und den Hügel hinauf.

Sie war außer Atem, als sie bei der Schmiedewerkstatt anlangte. Der grimmig dreinblickende Schmied war gerade dabei, das Werkzeug fortzuräumen; das Feuer in seiner Esse hatte er bereits mit Asche zugedrückt. Einen winzigen Augenblick lang riefen die Gerüche und Bilder, ja sogar die feine Schicht aus Eisenstaub und Ruß in Nicci eine freudige Erinnerung an die Werkstatt ihres Vaters hervor. Jetzt begriff sie den Blick in den Augen ihres Vaters. Sie bezweifelte, dass er ihn selbst je ganz verstanden hatte, aber sie tat es jetzt. Der Schmied sah auf, ohne zu lächeln, als sie in seine Werkstatt stürmte.

»Mr. Cascella! Ich brauche Eure Hilfe!«

Sein Blick verfinsterte sich noch mehr. »Was ist denn los? Wieso weint Ihr? Ist es wegen Richard? Hat man ihn…«

»Nein, nichts dergleichen.« Sie ergriff seine fleischige Hand und zog. Es war, als wollte man einen Felsbrocken fortziehen. »Bitte, kommt mit. Es ist wichtig.«

Er deutete mit seiner freien Hand um sich, auf seine Werkstatt. »Aber ich muss für die Nacht aufräumen.«

Sie zerrte abermals an seiner Hand. Sie merkte, wie ihr die Tränen in den Augen stachen. »Bitte! Es ist wirklich wichtig!«

Er wischte sich mit seiner freien Hand übers Gesicht. »Also gut, geht Ihr voraus.«

Nicci kam sich ein wenig albern dabei vor, den stämmigen Schmied an der Hand hinter sich herzuziehen, als sie den Hang hinunterrannte. Er wollte wissen, wohin sie denn gingen, aber sie antwortete nicht. Sie wollte unten sein, bevor das Tageslicht ganz verschwunden war.

Als sie auf dem Vorplatz anlangten, patrouillierten Gardisten, jedem den Zutritt auf den Platz verwehrend, auf dem Oberrand der Treppe. Ganz in der Nähe erblickte Nicci Ishaq, der lange Holzbohlen auf einen Wagen lud. Sie rief ihm etwas zu, und als er sah, dass der Schmied bei ihr war, kam er herbeigeeilt.

»Was ist denn, Nicci? Ihr seht aus wie eine völlig verängstigte…«

»Ich muss Euch beiden die Statue zeigen. Jetzt gleich.«

Victors Miene verfinsterte sich. »Sie wird morgen enthüllt werden, wenn Richard…«

»Nein! Ihr müsst sie unbedingt jetzt sofort sehen.« Die beiden verstummten. Ishaq beugte sich, verstohlen gestikulierend, zu ihr hin.

»Wir können dort nicht hinauf. Sie wird bewacht.«

»Ich kann schon.« Wütend wischte Nicci sich die Tränen aus den Augen. Ihre Stimme gewann jenen Ton feierlicher Machtbefugnis zurück, dessen sie sich so oft bedient hatte, jenen düsteren Tonfall, in dem sie das Urteil über so viele Menschenleben gefällt und diese in den Tod geschickt hatte. »Wartet hier.«

Nicci drückte den Rücken durch und reckte das Kinn empor. Sie war wieder eine Schwester der Finsternis.

Gemessenen Schritts, als ob der Palast ihr gehörte, stieg sie die Stufen hinauf. Und er gehörte tatsächlich ihr, denn sie war die Königin der Sklaven. Diese Männer unterstanden ihrem Kommando.

Sie war die Herrin des Todes.

Die Gardisten näherten sich ihr mit Bedacht; sie spürten, dass diese schwarz gekleidete Frau gefährlich war.

Sie sprach zuerst, noch bevor sie überhaupt den Mund aufmachen konnten.

»Was tut ihr hier?«, fauchte sie.

»Was wir hier tun?«, erwiderte einer. »Wir bewachen den Palast des Kaisers, das tun wir hier…«

»Wie kannst du es wagen, mir eine ungehörige Antwort zu geben. Weißt du überhaupt, wer ich bin?«

»Nun ja … ich glaube nicht, ich…«

»Die Herrin des Todes. Vielleicht hast du schon von mir gehört?«

Ein Dutzend Männer nahm Haltung an. Sie merkte, wie sie das schwarze Kleid abermals musterten, danach ihr langes blondes Haar und ihre blauen Augen. Ihre Reaktion auf das, was sie sahen, ließ für Nicci keinen Zweifel daran, dass ihr Ruf ihr vorausgeeilt war. Bevor sie noch eine weitere Bemerkung hervorbrachten, ergriff sie abermals das Wort.

»Was, glaubt ihr, tut die Gesellschafterin des Kaisers hier? Glaubt ihr etwa, ich sei ohne meinen Herren hierher gekommen? Natürlich nicht, ihr Trottel!«

»Der Kaiser…«, stammelten mehrere schockiert.

»Ganz recht, der Kaiser wird morgen zur Weihung hier eintreffen. Ich bin hergekommen, um mir vorab selbst ein Bild zu machen, und was muss ich sehen? Idioten! Ihr steht hier untätig herum, während ihr eigentlich Aufstellung nehmen solltet, um Seine Exzellenz zu begrüßen, wenn er in nur wenigen Stunden in der Stadt eintrifft!«

Die Gardisten bekamen große Augen. »Aber … davon hat uns niemand was gesagt. Wo kommt er überhaupt an?«

»Glaubt ihr vielleicht, ein so bedeutender Mann möchte, dass jeder Meuchelmörder weit und breit über seinen Aufenthaltsort informiert wird, damit der ihn aufspüren kann? Und was tut ihr, falls sich tatsächlich ein Meuchelmörder hier herumtreiben sollte? Ihr steht tatenlos herum!«

Sämtliche Soldaten verneigten sich beflissen.

»Wo?«, fragte ein Sergeant. »Wo wird Seine Exzellenz ankommen?«

»Er wird von Norden her eintreffen.«

Der Mann benetzte sich die Lippen. »Aber … aber über welche Straße von Norden her? Es gibt jede Menge Routen, die in Frage kommen…«

Nicci stemmte die Fäuste in die Hüften. »Glaubt ihr vielleicht, Seine Exzellenz kündigt den Reiseweg vorab an? Und auch noch euresgleichen? Würde nur eine einzige Straße bewacht werden, wüsste doch wohl jeder Attentäter sofort, wo er auf den Kaiser warten muss, oder? Sämtliche Straßen müssen bewacht werden! Und Ihr steht stattdessen hier herum!«

Die Männer nickten und verbeugten sich nervös; sie wollten fort, um ihre Pflicht zu tun, wussten aber nicht, wohin.

Die Zähne aufeinander beißend, beugte Nicci sich zu dem Sergeanten. »Bringt Eure Männer hinaus zu einer der von Norden kommenden Straßen. Sofort. Das ist Eure Pflicht und Schuldigkeit. Sämtliche Straßen müssen bewacht werden.«

Die Soldaten traten unter mehrfachen Verbeugungen ab und entfernten sich. Nach nur wenigen hastigen Schritten ergriffen sie die Flucht und fingen an zu rennen. Sie konnte sehen, wie unterwegs weitere Gardisten abkommandiert wurden.

Während sie den Vorplatz räumten, wandte Nicci sich den beiden verdutzten Männern zu. Sie stiegen, jetzt unbehelligt von den Gardisten, die Stufen hinauf. Einige Bürger, die über die gepflasterten Fußwege schlenderten, um sich die Bildhauereien an den Mauern anzusehen, hatten das Geschrei vernommen und wandten sich neugierig um.

Als Victor und Ishaq die Ebene des Vorplatzes erreichten, löste Nicci die Stricke, packte das Leinentuch mit beiden Händen und riss den Schleier von der Statue.

Die beiden Männer erstarrten mitten im Schritt.

Im Halbkreis rings um den Vorplatz waren die Mauern mit der Geschichte der Unzulänglichkeit des Menschen bedeckt, rings um sie herum wurde der Mensch als klein, verdorben, missgestaltet, unfähig, verängstigt, grausam, geistlos, böse, habgierig, korrupt und sündhaft dargestellt. Er wurde gezeigt als auf ewig zerrissen zwischen jenseitigen Mächten, die jeden Aspekt seines jämmerlichen Daseins beherrschten, eines unfassbaren Daseins in einem von Sündhaftigkeit brodelnden Kessel, aus dem allein der Tod Erlösung bot. Wer im Diesseits unter dem Schutz des Lichts des Schöpfers zu Tugendhaftigkeit gelangt war, wirkte leblos, die Gesichter dieser Menschen waren bar jeder Empfindung und Bewusstheit, ihre Körper steif wie die von Toten. Aus leeren, geistlos abgestumpften Augen starrten sie hinaus in die Welt, während sich zwischen ihren Beinen Ratten tummelten, Schlangen sich um ihre Beine wanden und über ihren Köpfen Geier ihre Kreise zogen.

Inmitten dieses Strudels aus gequältem Leben, dieser Sintflut aus Korruptheit, Verdorbenheit und Laster, erhob sich in kühnem, strahlendem Widerspruch Richards Statue.

Sie war eine vernichtende Anklage gegen all das, was sie umgab.

Das Ausmaß und die Wucht der Hässlichkeit, die Richards Statue umringte, schien zur Bedeutungslosigkeit zu schrumpfen. Die Verderbtheit der Wandreliefs schien jetzt, angesichts dieser reinen, unverdorbenen Schönheit und Wahrhaftigkeit, ihre eigene Unaufrichtigkeit geradezu hinauszuschreien.

Die beiden Figuren in der Mitte standen da in einer Haltung harmonischer Ausgewogenheit. Der Körper des Mannes offenbarte eine stolze Männlichkeit. Obwohl die Frau bekleidet war, ließ sie an ihrer Weiblichkeit keinen Zweifel. In beiden spiegelte sich eine Liebe für den menschlichen Körper wider, die diesen als sinnlich, würdevoll und rein ansah. Die Verdorbenheit ringsum schien vor dieser Reinheit und Würde geradezu entsetzt zurückzuschrecken.

Mehr noch aber existierte Richards Statue ganz ohne Widerspruch; die Figuren legten Bewusstheit, Vernunft und Zielbewusstsein an den Tag. Es war eine Offenbarung der Stärke, der Fähigkeit und wahren Bestimmung des Menschen. Dies war das Leben, das man um seiner selbst willen lebte. Dies war die Menschheit, die sich aus freiem Willen stolz erhob.

Es entsprach genau dem einen Wort des Titels auf ihrem Sockel:

LEBEN

Ihre Existenz war der Beweis für die Gültigkeit dieser Idee.

Sie war das Leben, so wie es gelebt werden sollte – stolz, von Vernunft gelenkt und niemals als Sklave eines anderen. Sie war die gebührende Begeisterung des Individuums, die Feier der Erhabenheit des menschlichen Geistes.

Als Antwort hatte alles an den Mauern ringsum nichts als den Tod zu bieten.

Sie antwortete mit dem Leben.

Victor und Ishaq lagen weinend auf den Knien.

Der Schmied hob lachend seine Arme zu der vor ihm stehenden Statue, während ihm Freudentränen über das Gesicht strömten.

»Er hat es tatsächlich geschafft. Er hat sein Wort gehalten. In Stein wiedergegebenes Fleisch, Erhabenheit und Schönheit.«

Menschen, die gekommen waren, um die anderen Bildhauereien zu betrachten, begannen sich zu sammeln, um zu sehen, was sich dort mitten auf dem Platz erhob. Sie starrten mit weit aufgerissenen Augen, viele von ihnen zum allerersten Mal mit dem Gedanken konfrontiert, dass der Mensch von Geburt Würde besaß. Diese Aussage war so voller Kraft, dass sie allein alles an den Mauern ringsum zur Bedeutungslosigkeit verdammte.

Viele wurden beim Betrachten von derselben Erkenntnis ergriffen wie Nicci.

Die anderen Bildhauer verließen ihre Arbeitsstellen, um zu sehen, was dort mitten auf dem Vorplatz stand; die Steinmetze stiegen von ihren Arbeitsgerüsten herunter, die Zuarbeiter setzten ihre Mörteleimer ab, die Tischler kletterten von ihren Arbeitsplätzen beim Einpassen der Balken herunter, die Dachdecker legten ihre Meißel fort, die Gespannfahrer banden ihre Pferde an, Arbeiter, die mit Umgraben und Bepflanzen des umliegenden Geländes beschäftigt waren, ließen ihre Schaufeln fallen. Aus allen Himmelsrichtungen kamen sie herbei zu der mitten auf dem Vorplatz stehenden Statue.

Immer mehr Menschen strömten die Treppe hinauf und scharten sich, sie ehrfurchtsvoll bestaunend, in gewaltiger Zahl um die Figur. Viele sanken weinend auf die Knie, nicht aus Trübsal wie zuvor, sondern vor Freude. Viele, wie der Schmied, verfielen in Gelächter, während ihnen Freudentränen über ihre glücklichen Gesichter strömten. Einige wenige verhüllten ängstlich ihr Gesicht.

Während die Menschen sie mit den Augen aufnahmen, begannen sie fortzulaufen, um andere zu holen. Bald strömten die Arbeiter aus den Werkstätten am Hang herbei, um zu sehen, was dort auf dem Vorplatz stand. Männer und Frauen, die gekommen waren, um sich die Bauarbeiten anzusehen, liefen nach Hause, um ihre Lieben zu holen, um sie herzubringen, damit sie sahen, was hier vor dem Palast des Kaisers stand.

Es war etwas, das die meisten dieser Menschen in ihrem ganzen Leben noch niemals zu Gesicht bekommen hatten.

Es öffnete den Blinden die Augen.

Es war Wasser für die Dürstenden. Es war das Leben für all jene, die im Sterben lagen.

Загрузка...