67

Richard kletterte durch das hohe Fenster und sprang hinunter auf den Boden, wo seine Stiefel mit einem dumpfen Aufprall landeten. Er konnte kaum glauben, dass er die ganze Nacht unter einer Plane auf der Ladefläche eines Wagens geschlafen hatte; ebenso wenig wollte er glauben, dass Jori ihn nicht geweckt hatte, damit er nach Hause gehen konnte, als sie ganz in der Nähe vorbeigekommen waren. Vermutlich hatte der Mann gedacht, das sei nicht seine Aufgabe, und hatte es deshalb einfach nicht getan. Richard seufzte. Möglicherweise hatte Jori auch gar nicht gewusst, dass er hinten auf der Ladefläche lag.

Richard klopfte sich ab. Er stand draußen vor dem Gebäude des Fuhrunternehmens, wo er gleich nach seiner Ankunft in Altur’Rang gearbeitet hatte und in dem er die ganze Nacht über eingeschlossen gewesen war. Natürlich hatte er geschlafen und es deshalb nicht bemerkt, dass Jori ihn eingeschlossen hatte.

Richard wusste nicht wohin – nach Hause oder zum Ruhesitz. Der strahlende Sonnenaufgang ließ den Himmel orange und violett erglühen; vermutlich wäre es unsinnig, nach Hause zu gehen, er würde nur zu spät zur Arbeit kommen. Also beschloss er, dass es vernünftiger wäre, gleich dorthin zu gehen.

Arbeit. Welche Arbeit eigentlich? Dies war der Tag der Feierlichkeiten, der Weihung. Sobald Bruder Narev die Statue zu Gesicht bekäme, würde Richard sich keine Gedanken mehr um Arbeit zu machen brauchen.

Wenn er fortliefe und zu fliehen versuchte, würde dies, das wusste er, nur Niccis Zorn erregen, und Kahlans Leben wäre verwirkt. Über ein Jahr hatte er jetzt mit Nicci zusammen verbracht – ebenso lange, wie er mit Kahlan zusammen gewesen war –, und Nicci hatte ihm wiederholt seine Alternativen deutlich gemacht. Stets war Kahlans Leben der Preis, der das Zünglein an der Waage bildete.

Im Grunde hatte Richard keine Wahl. Wenigstens würde er Victors Gesicht zu sehen bekommen, wenn dieser die Statue erblickte. Die Vorstellung ließ ihn schmunzeln; es war die einzige angenehme Aussicht, die der Tag bereithielt.

Aller Wahrscheinlichkeit nach würde der Tag in jenem feuchten, dunklen Loch enden, in dem er schon einmal gesessen hatte. Der Gedanke ließ ihn mitten im Schritt innehalten: Er wollte nicht noch einmal an diesen Ort zurück. Richard ertrug es nicht, eingesperrt zu sein – schon gar nicht an einem so beklemmenden Ort. Keine dieser Aussichten behagte ihm, zusammen waren sie geradezu erschreckend.

So beängstigend die Aussicht auf ein solches Schicksal war, er hatte die Statue in bewusster Absicht und mit Vorbedacht geschaffen – und in Kenntnis des Preises, den er wahrscheinlich am Ende dafür würde zahlen müssen. Was er erreicht hatte, war diesen Preis wert, denn Sklaverei war kein Leben. Nicci hatte ihm damals versichert, dass ihre Frage mit seinem Tod oder seiner Entscheidung für den Tod an sich bereits beantwortet sei und sie Kahlan kein Leid zufügen würde. Nun hatte Richard keine andere Wahl, als auf dieses Versprechen zu vertrauen.

Die Statue existierte, das allein zählte. Das Leben existierte. Das war es, was die Menschen erkennen mussten. So viele Menschen in der Alten Welt sollten erkennen, dass das Leben existierte und gelebt werden musste.

Für diese frühe Morgenstunde herrschte in den Straßen von Altur’Rang ein ungewöhnliches Maß an Betriebsamkeit. Ab und zu eilten schwer bewaffnete Trupps der Stadtwache durch die Straßen. Eine große Anzahl von Menschen war anlässlich der Weihungsfeierlichkeiten in die Stadt gekommen; vermutlich war das der Grund, weshalb so viele Leute die Straßen bevölkerten.

Die Gardisten schenkten ihm keinerlei Beachtung, doch das würde sich, wie er wusste, bald ändern.

Als Richard beim Ruhesitz anlangte, bot sich ihm ein schockierender Anblick: Das sich über Meilen erstreckende offene Gelände wimmelte von Menschen. Wie Ameisen um ausgelaufenen Honig drängten sie sich von allen Seiten bis an die Palastmauern. Er vermochte nicht einmal ansatzweise abzuschätzen, wie viele Menschen die umliegenden Hügel bevölkerten. Das bunte Spiel der Farben zu beobachten, dort, wo er zuvor nur braune Erde und grünen Winterroggen gesehen hatte, war verwirrend. Er hatte gar nicht gewusst, dass so viele Menschen zur Weihung kommen wollten. Andererseits hatte er monatelang Tag und Nacht gearbeitet – wie hätte er erfahren sollen, was die Menschen vorhatten?

Richard umging das schlimmste Gedränge und begab sich die Straße hinauf zur Schmiedewerkstatt. Er wollte Victor abholen und mit ihm gemeinsam zur Baustelle hinuntergehen, um sich die Statue anzusehen, bevor der Orden in Erscheinung trat, um mit der Weihung zu beginnen. Zweifellos erwartete Victor ihn bereits voller Spannung.

Auf der Straße herrschte dichtes Geschiebe; die Menschen schienen aufgeregt, glücklich und voller Erwartung. Es war ein großer Unterschied zu dem üblichen Verhalten und Auftreten der Menschen in der Alten Welt. Vielleicht war ein Fest, sogar eines wie dieses, besser als all die anderen Tage ihres trostlosen Daseins.

Eine halbe Meile vor Victors Werkstatt sprang ein verstört aussehender Bruder Neal mitten auf die Straße und deutete mit ausgestrecktem Arm in Richards Richtung.

»Da ist er! Ergreift ihn!«

Gardisten, die die Menschenmassen in der Nähe durchkämmten, zogen auf Neals Kommando hin ihre Waffen. Als sie herbeistürmten, um ihn einzukreisen, war Richards erster Gedanke zu kämpfen. Blitzschnell hatte er den Feind eingeschätzt und sich seinen Gegenangriff überlegt. Er musste einem ungeschickten Gardisten lediglich das Schwert entreißen, und schon konnte er sie alle überwältigen. In Gedanken war diese schauerliche Tat bereits vollzogen; er brauchte sie nur noch auszuführen.

Die Gardisten kamen in vollem Tempo auf ihn zugerannt. Passanten sprangen aus dem Weg, manche vor Angst schreiend.

Allerdings war da noch immer Neal, und Neal war ein Zauberer. Doch auch diese Gefahr würde Richard meistern – Notlagen stärkten seine Fähigkeiten. Notlagen und Zorn – und zornig genug war er für diese Aufgabe allemal. Bereits jetzt toste in seinem Innern jenes Gefühl, jenes Toben düsterer Gewalt, dessen sich das Schwert der Wahrheit bediente.

Nur hatte Nicci ihm erklärt, dass Kahlan sterben würde, wenn er von seiner Magie Gebrauch machte. Würde sie davon erfahren?

Früher oder später ganz bestimmt.

Richard blieb artig stehen, als die Gardisten ihn derb bei den Armen packten, um ihn zu überwältigen.

Was spielte es im Grunde für eine Rolle? Wenn er Widerstand leistete, schadete er damit nur Kahlan. Wenn sie ihn hinrichteten, würde Nicci Kahlan ihr Leben leben lassen.

Aber er wollte nicht zurück in dieses finstere Loch!

Neal kam angerannt und fuchtelte ihm drohend vor dem Gesicht herum. »Was hat das zu bedeuten, Cypher! Was hast du geglaubt, damit erreichen zu können?«

»Dürfte ich fragen, wovon Ihr sprecht, Bruder Neal?«

Neals Gesicht war dunkelrot. »Von der Statue!«

»Was denn, gefällt sie Euch etwa nicht?«

Neal rammte Richard seine Faust mit voller Wucht in den Leib. Die ihn festhaltenden Gardisten lachten. Richard hatte es kommen sehen und seine Muskeln angespannt, trotzdem trieb es ihm den Atem aus den Lungen. Schließlich gelang es ihm, wieder Luft zu holen.

Neal merkte, dass er Geschmack am Austeilen gefunden hatte, und schlug abermals zu.

»Oh, du wirst für deine Gotteslästerung bezahlen, Cypher. Diesmal wirst du den Preis bezahlen. Du wirst alles gestehen, bevor wir mit dir fertig sind. Aber zuerst wirst du mit ansehen, wie das Ergebnis deiner sündhaften Verirrung vernichtet wird.« Neal, das Gesicht entstellt von sich überlegen dünkender, selbstgerechter Empörung, gab den stämmigen Gardisten ein Zeichen. »Schaffen wir ihn dort hinunter. Und seid nicht zu zimperlich, wenn ihr euch einen Weg durch die Menge bahnt.«


Gegen Mitte des Vormittags hatte Kahlan die Hoffnung nahezu aufgegeben, dass der Schmied erschien.

»Tut mir Leid«, meinte Kamil, der mit verdrießlicher Miene verfolgte, wie sie auf und ab lief. »Ich hab keine Ahnung, wieso Victor nicht hier ist. Ich dachte, er würde hier sein, wirklich.«

Schließlich blieb Kahlan stehen und tätschelte dem besorgten jungen Burschen die Schulter. »Das weiß ich doch, Kamil. Wegen der Feier heute und den Tumulten, die sich rings um die Statue abspielen, ist der heutige Tag gewiss alles andere als normal.«

»Schaut«, rief Cara. Kahlan sah, dass sie zum Palast hinunterspähte. »Mit Speeren bewaffnete Gardisten drängen die Menschenmenge vom Vorplatz.«

Kahlan spähte aus halb zugekniffenen Augen den Hang hinunter. »Ihr habt bessere Augen als ich. Ich kann nichts erkennen.« Verzweifelt und voller Wut blickte sie zu der verschlossenen Schmiedewerkstatt hinüber. »Aber wenn wir hier oben warten, nützt uns das auch nichts. Versuchen wir, ob wir uns nicht bis dort unten durchschlagen können, von wo wir einen besseren Blick haben.« Kahlan legte Cara eine Hand auf den Arm und bat sie, sich zurückzuhalten. »Aber wir werden uns nicht mit der Menschenmenge anlegen, einverstanden?«

Cara verzog empört den Mund. Kahlan wandte sich zu dem jungen Mann, der, erfüllt von Scham über das Scheitern seines Plans, ihnen beim Auffinden von Richard zu helfen, mit dem großen Zeh ein ums andere Mal in den Boden trat.

»Würdest du mir einen Gefallen tun, Kamil?«

»Klar. Was denn?«

»Würdest du hier oben warten, für den Fall, dass Richard oder der Schmied auftaucht? Vielleicht weiß der Schmied etwas, wenn er in seine Werkstatt kommt.«

Kamil reckte seinen Hals und schaute zum Palast hinunter. »Also gut, meinetwegen. Wenn Richard tatsächlich hier auftaucht, möchte ich nicht, dass er Euch verpasst. Was soll ich ihm sagen, wenn ich ihn sehe?«

Kahlan lächelte. Dass ich ihn liebe , dachte sie, sagte aber stattdessen: »Richte ihm aus, dass ich hier bin, zusammen mit Cara, und dass wir hinuntergegangen sind, um ihn zu suchen. Ich möchte ihn auf keinen Fall verfehlen, falls er tatsächlich erscheint. Sorge dafür, dass er hier wartet – wir kommen in jedem Fall hierher zurück.«

Kahlan hatte geglaubt, sie könnten einfach den Hang zum Vorplatz hinunterspazieren und sich dort umsehen, aber offenbar hatten alle anderen dieselbe Idee gehabt. Es dauerte eine Ewigkeit, nur den Hang hinunter und bis zum Palastgelände vorzudringen. Je näher sie kamen, desto dichter wurde das Gedränge, bis es schließlich überhaupt kein Weiterkommen mehr gab. Es war schon schwierig genug, Cara nicht aus den Augen zu verlieren. Jeder in der Menge schien fest entschlossen, sich bis zum Vorplatz durchzuzwängen. Die ganze Zeit über drängten immer mehr Menschen nach.

Kahlan erkannte bald, dass sie und Cara in dem dichten Geschiebe festsaßen.

Es gab nur ein einziges Thema, das in aller Munde war: die Statue.


Es war bereits später Nachmittag, als Nicci sich halbwegs bis zum Vorplatz vorgearbeitet hatte; jeder gewonnene Zoll war ein Kampf gewesen. Sie stand jetzt so nah, dass sie die Menschen oben bei der Statue sehen konnte, aber näher kam sie nicht heran. So sehr sie sich auch mühte, sie kam kein Stück mehr weiter. Wie sie, so wollten auch alle anderen ebenfalls näher heran. Man bedrängte sie von allen Seiten und presste ihr die Arme an den Körper. Manchmal war dieses Gefühl der Hilflosigkeit beängstigend. Es gelang ihr, einen Arm zu befreien, sodass sie sich selbst helfen konnte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Ihr dämmerte, dass ein Sturz unter diesen Umständen lebensgefährliche Folgen haben konnte.

Wenn sie nur ihre Kraft besäße.

In ihrer Überheblichkeit hatte sie sich dazu verleiten lassen, sie einfach zu verschachern. Allerdings hatte sie als Gegenleistung das Leben erhalten, was wiederum Richard und Kahlan die Freiheit gekostet hatte. Nicci konnte ihre Kraft nicht einfach aus der Verbindung zurückziehen, da Kahlan sonst sterben würde. Nicci wollte ihr Leben nicht auf Kosten eines anderen – das war, wie sie schließlich begriffen hatte, wahre Verderbtheit.

Nicci hatte Richard gesucht und nicht gefunden. Auch den Schmied, Mr. Cascella, oder Ishaq hatte sie nicht ausfindig machen können. Sobald sie Richard gefunden hatte, würde sie ihm erklären können, dass sie einem Irrtum erlegen war und sie nun endlich Altur’Rang verlassen konnten. Wie gerne sähe sie sein Gesicht, wenn sie ihm mitteilte, dass sie ihn zu Kahlan zurückbringen und den Bann aufheben werde. Ausgerechnet sie waren die Letzten, die für Niccis Einsichten büßen mussten.

Als letzter Ort, wo sie noch nach ihm suchen konnte, fiel ihr die Statue ein. Gut möglich, dass er sich dort befand. Aber sosehr sie sich auch bemühte, sie kam nicht näher heran. Jetzt dämmerte ihr auch, dass sie sich wahrscheinlich nicht einfach aus dem dichten Gewühl würde befreien können. Höchstwahrscheinlich waren es weit mehr als eine halbe Million Menschen, die sich in der gewaltigen Menge um den Palast drängten.

Und dann sah Nicci Bruder Narev und seine Jünger auf dem Vorplatz erscheinen, allesamt in ihren dunkelbraunen Gewändern, Bruder Narev in seiner geknifften Kappe, die übrigen Gesichter tief unter weiten Kapuzen verborgen. Auf dem rückwärtigen Teil des Vorplatzes drängten sich einige hundert Beamte des Ordens, die angereist waren, um der Weihung des Palastes beizuwohnen – wichtige Männer alle miteinander.

Wenn sie nur über ihre Kraft verfügte, dann hätte sie sie alle auf der Stelle töten können.

In diesem Augenblick erhaschte sie, im Rücken der Beamten, einen flüchtigen Blick auf Richard, umringt von Gardisten. Der gesamte zentrale Bereich rund um den Platz wimmelte nur so von den herrischen Soldaten der Stadtwache.

Bruder Narev trat bis an den Rand des Platzes vor, unter seiner geknifften Kappe und der unter einer Kapuze verborgenen Stirn hervor ließ er den Blick über die Versammlung schweifen. Die Menschen befanden sich in einem Zustand lärmiger, gefühlsgeladener Erregtheit. Bruder Narev schien alles andere als amüsiert zu sein, doch das war er ohnehin niemals. Amüsiertheit, so predigte er stets, war sündhaft. Er hob die Arme und bat sich Ruhe aus.

Als die Menge verstummt war, begann er mit der entsetzlichen schnarrenden Stimme zu sprechen, jener Stimme, die sie, als sie noch klein war, vom ersten Tag an in ihrem Heim verfolgt hatte, jener Stimme, der sie gestattet hatte, ihre Gedanken zu beherrschen, jener Stimme, die ihr, gemeinsam mit der Stimme ihrer Mutter, das Denken abgenommen hatte.

»Bürger des Ordens der Imperialen Ordnung, wir haben für euch ein ganz besonderes Ereignis vorgesehen. Heute werden wir euch das Schauspiel der Versuchung vorführen … und mehr noch.«

In einer gleitenden Bewegung deutete er mit dem Arm hinter sich, auf die Statue. Seine langen, dürren Finger öffneten sich, und seine Stimme polterte vor Abscheu. »Das Böse selbst.«

Ein unsicheres Murren ging durch die Menge. Bruder Narev lächelte; der dünne Spalt seines Mundes zog seine Wangen in Falten, als er wie der Schädel des Todes höchstpersönlich grinste; seine Augen waren ebenso düster wie sein Gewand. Die untergehende Sonne floh, alle Pracht mit sich nehmend, das Geschehen, und zurück blieb der flackernde Schein Dutzender von Fackeln, der sich orangefarben auf die massiven, sich im Hintergrund des Platzes erhebenden Säulen legte, sowie das schwache Licht des Mondes, das die grimmigen Gesichter der Beamten mit einem fahlen Glanz belegte. Die Luft, so überladen von den schweren Gerüchen der Menge, war kalt geworden.

»Mitbürger des Ordens der Imperialen Ordnung«, wiederholte Bruder Narev mit einer Stimme, die nach Niccis Dafürhalten geeignet war, die Mauern zerspringen zu lassen, »heute werdet ihr sehen, was dem Bösen widerfährt, wenn man es mit der Tugendhaftigkeit des Ordens konfrontiert.«

Mit einem knochendürren Finger gab er ein Zeichen hinter die Köpfe der Beamten. Gardisten drängten Richard gewaltsam nach vorn. Nicci entfuhr ein Schrei, der jedoch im Getöse von zehn tausenden anderer Stimmen unterging.

Schließlich trat Bruder Neal, einen Vorschlaghammer mit sich schleppend, wankend vor.

Nicci schaute sich nach beiden Seiten um und sah, dass mehrere tausend bewaffnete Gardisten bereitstanden; weitere schirmten den Vorplatz vor der Bevölkerung ab – Bruder Narev war kein Risiko eingegangen. Mit höflichem Lächeln und einer unterwürfigen Verbeugung überreichte Neal Bruder Narev den Hammer.

Bruder Narev hob den Vorschlaghammer über seinen Kopf, so als wäre er ein im Triumph gen Himmel gerecktes Schwert.

»Das Böse muss vernichtet werden, wo immer man ihm begegnet.« Er deutete mit dem schwankenden Kopf des Vorschlaghammers auf die Statue. »Dies ist ein Werk des Bösen, geschaffen von einem seine Mitmenschen hassenden Fanatiker, um die Schwachen zu peinigen und zu quälen. Er trägt nichts bei zum Fortschritt seiner Mitmenschen, zum Schutz seiner Mitmenschen, zur Ausbildung und Unterstützung seiner Mitmenschen. Er hat nichts zu bieten als lüsterne und gotteslästerliche Bilder, die auf die Leichtgläubigen und Wankelmütigen abzielen.«

In ihrer Verwirrung und Enttäuschung war die Menge verstummt. Nach den Eindrücken, die Nicci im Laufe des Tages mitten unter ihnen gewonnen hatte, waren sie zu der Überzeugung gelangt, dass diese Statue eine neue Spende des Ordens an das Volk darstellte – ein prachtvolles Werk, das sie am Palast des Kaisers bewundern konnten, ein Werk, das eine strahlende, glänzende Hoffnung verhieß. Was sie jetzt hörten, verwirrte und bestürzte sie.

Bruder Narev hob den Vorschlaghammer in die Höhe. »Bevor die Leiche dieses Verbrechers für seine Verbrechen gegen den Orden an einen Pfahl gehängt wird, soll er mit ansehen müssen, wie sein abscheuliches Machwerk unter dem Jubel der unbescholtenen Bevölkerung zertrümmert wird!«

Als der allerletzte Sonnenstrahl hinter dem Horizont versank, reckte Bruder Narev den schweren Vorschlaghammer hoch in den flackernden Schein der qualmenden Fackeln. Unsicher schwankend verharrte der Vorschlaghammer einen kurzen Augenblick auf dem Scheitelpunkt seines Bogens, bevor er sich mit wuchtigem Schwung senkte. Ein Aufstöhnen wie aus einem Munde erhob sich über der Menge, als der stählerne Kopf beim Aufprall auf das Bein der männlichen Figur erklang. Einige wenige kleine Gesteinssplitter lösten sich, mehr nicht.

In der darauf folgenden vollkommenen Stille war zu hören, wie Richard Bruder Narevs kraftlosen Schlag voller Spott verlachte.

Selbst aus der Ferne vermochte Nicci zu erkennen, wie Bruder Narevs Gesicht sich dunkelrot verfärbte, während Richard ihn amüsiert in sich hineinlachend beobachtete. Ein Raunen ging durch die Menge; niemand konnte so recht glauben, dass ein Mann es wagte, einen Bruder des Ordens, noch dazu Bruder Narev höchstpersönlich, auszulachen.

Bruder Narev konnte es selbst kaum glauben.

Auch die vielen Gardisten, die ihre Speere auf Richard richteten, konnten es kaum glauben.

In der angespannten Stille hallte Richards Gelächter von dem Halbkreis aus steinernen Mauern und hoch aufragenden Säulen hinter ihnen wider. Dann kehrte das Totenkopfgrinsen zurück. Bruder Narev nahm den Vorschlaghammer, dessen Gewicht er mit seiner knochigen Hand kaum halten konnte, an seinem Kopf auf und hielt Richard den Stiel hin.

»Du wirst dein sündiges Werk eigenhändig vernichten.« Die Worte ›oder du stirbst auf der Stelle‹ wurden nicht laut ausgesprochen, und doch hörte jeder, dass sie stillschweigend mit Inbegriffen waren.

Richard nahm den Stiel des Vorschlaghammers entgegen. Er hätte nicht würdevoller aussehen können, hätte er ein mit Juwelen besetztes Schwert in Empfang genommen.

Richards Raubtierblick löste sich von Bruder Narev und glitt, während er mehrere Schritte in Richtung Treppe zurücklegte, über die Menschenmenge hinweg. Mit dem Heben eines Fingers bedeutete Bruder Narev den Gardisten, ihre Speere zurückzuhalten. Nach dem spöttischen Feixen auf den Gesichtern der Brüder Narev und Neal waren sie nicht der Meinung, dass die Menge hören wollte, was ein Sünder zu verkünden hatte.

»Ihr werdet«, sprach Richard mit einer Stimme, die über die Menschenmassen hinweghallte, »von erbärmlichen, unbedeutenden Männern beherrscht.«

Wie aus einem Mund stöhnte die Menge auf. Das Wort gegen einen Ordensbruder zu erheben, das war höchstwahrscheinlich Verrat und ganz sicher Ketzerei.

»Worin besteht mein Verbrechen?«, fragte Richard laut. »Ich habe euch ein Stück Schönheit geschenkt, das ihr betrachten könnt, in der ebenso gewagten wie festen Überzeugung, dass ihr, so ihr denn wollt, ein Recht darauf habt, es zu betrachten. Schlimmer noch … ich habe erklärt, dass es euch zusteht, euer Leben eigenmächtig zu bestimmen.«

Ein lautes Raunen wogte durch die Menge. Richards Stimme wurde kräftiger und verschaffte sich mit ihrer Klarheit über dem Getuschel Gehör.

»Das Böse ist nicht ein einziges, großes Ganzes, sondern eine Ansammlung zahlloser kleiner Schlechtigkeiten, aus dem Schmutz hervorgezerrt von unbedeutenden Männern. Da ihr unter dem Joch des Ordens lebt, habt ihr die Bereicherung der Fantasie gegen den grauen Dunst der Mittelmäßigkeit eingetauscht – die fruchtbare Inspiration von Streben und Wachstum gegen gedankenlosen Stillstand und allmählichen Verfall – das kühne Neuland des Bemühens gegen einen angstbesetzten Morast aus Interesselosigkeit.«

Die Menge lauschte mit starrem Blick und bewegungslosen Lippen. Richard deutete mit seinem Vorschlaghammer, den er erneut mit der mühelosen Eleganz eines königlichen Schwertes schwenkte, über ihre Köpfe hinweg.

»Nicht etwa gegen einen Teller Suppe habt ihr eure Freiheit eingetauscht, sondern schlimmer, gegen die leeren Versprechungen anderer, die behaupten, euch stehe ein Teller Suppe zu, den aber wieder andere für euch bereitstellen sollen.

Glück, Freude, Erfüllung, Leistung … sind keine begrenzten Güter, die es zu verteilen gilt! Kann man das Lachen eines Kindes aufspalten und verteilen? Nein! Sorgt einfach dafür, dass mehr gelacht wird!«

Gelächter, freudiges Gelächter ging durch die Menge.

Bruder Narevs Miene verfinsterte sich. »Wir haben von dem unsinnigen Geplapper dieses Fanatikers genug gehört! Zerstöre deine gotteslästerliche Statue! Auf der Stelle!«

Richard legte seinen Kopf schräg. »Ach? Die vereinte Versammlung des Ordens und der Brüder fürchtet sich vor den Worten eines einzelnen Mannes? So viel Angst machen Euch bloße Worte, Bruder Narev?«

Seine dunklen Augen riskierten einen verstohlenen Blick in die Menge, als diese sich, gespannt auf seine Antwort, nach vorne beugte.

»Worte machen uns keine Angst. Die Tugendhaftigkeit steht auf unserer Seite und wird obsiegen. Sprich deine Gotteslästerungen, damit alle begreifen, warum sittenstrenge Menschen sich gegen dich zusammentun.«

Richard lächelte in die Menge, seine Worte aber waren von brutaler Aufrichtigkeit.

»Jeder Mensch hat das Recht auf ein eigenes Leben. Das Leben eines jeden Einzelnen kann und muss allein ihm gehören, nicht einer Gesellschaft oder Gemeinschaft, denn sonst wäre er nichts weiter als ein Sklave. Weder kann jemand einem anderen das Recht auf sein Leben verwehren noch ihm mit Gewalt das nehmen, was er geschaffen hat, denn damit würde er ihn der Mittel zum Bestreiten seines Lebensunterhalts berauben. Einem Mann das Messer an die Kehle zu halten und ihm vorzuschreiben, wie er sein Leben zu leben hat, ist Verrat an der Menschheit. Eine Gesellschaft kann niemals wichtiger sein als die Einzelwesen, aus denen sie besteht, denn sonst misst man nicht etwa dem Menschen die höchste Wichtigkeit bei, sondern, um den Preis eines niemals endenden Blutzolls, jeder beliebigen Idee, die dieser Gesellschaft plötzlich in den Sinn kommt. Allein Vernunft und Wirklichkeitssinn führen zu einer gerechten Gesetzgebung; geistloses Wunschdenken wird, wenn man es zur obersten Gewalt erklärt, zu einem tödlichen Gebieter.

Mit dem Verzicht auf die Vernunft zugunsten des Glaubens an diese Männer billigt ihr deren Gewaltanwendung zum Zwecke eurer eigenen Versklavung – und des Mordes an euch. Es steht in eurer Macht, selbst zu entscheiden, wie ihr euer Leben gestalten wollt. Ein Wort von euch, und diese erbärmlichen, nichtswürdigen Männer hier oben sind nichts weiter als Ungeziefer. Sie haben über euch keine andere Macht als die, die ihr ihnen gewährt!«

Richard deutete mit dem Vorschlaghammer auf die Statue hinter seinem Rücken. »Das ist das Leben, euer Leben, das ihr leben sollt, so wie es euch gefällt.« Den Kopf des Vorschlaghammers in weitem Bogen schwenkend, deutete er auf die Bildhauereien auf den Mauern. »Das ist es, was der Orden euch zu bieten hat: der Tod!«

»Wir haben genug von deinen Gotteslästerungen!«, kreischte Bruder Narev. »Zerstöre auf der Stelle dein Werk des Bösen oder stirb!«

Die Speere wurden angehoben.

Seelenruhig erfasste Richard die Gardisten einen nach dem anderen mit unerschrockenem Blick, bevor er zu seiner Statue hinüberging. Niccis Herz schlug gegen ihre Rippen; sie wollte nicht, dass sie zerstört wurde. Sie war zu prachtvoll, um zerstört zu werden. Dies alles durfte nicht geschehen. Das durften sie den Menschen nicht wieder nehmen.

Richard legte den Vorschlaghammer über seine Schulter. Seine andere Hand zur Statue erhebend, richtete er ein letztes Mal das Wort an die Menschenmenge.

»Das ist es, was der Orden euch nehmen wird – eure Menschlichkeit, eure Eigenständigkeit, die Freiheit, euer Leben selbst zu gestalten.« Richard legte den Vorschlaghammer kurz an seine Stirn.

Dann sauste der stählerne Kopf in mächtigem Schwung herum. Nicci konnte die Luft sirren hören. Die gesamte Statue schien zu erzittern, als der Vorschlaghammer mit donnerndem Schlag gegen den Sockel prallte.

Es folgte ein Augenblick unerträglicher Stille, in dem sie ein kaum hörbares Geräusch vernahm: das Reißen, Knacken und Flüstern des Steins selbst.

Dann stürzte die gesamte Statue in einem Getöse aus Trümmerstücken und wallendem weißem Staub in sich zusammen.

Die Beamten auf der Rückseite des Platzes brachen in Jubel aus. Die Gardisten johlten und grölten und schwenkten ihre Waffen.

Sie waren die Einzigen. Als der Staub sich über den Vorplatz wälzte, war es in der Menge totenstill. All ihre Hoffnungen, die diese Statue verkörperte, waren soeben zunichte gemacht worden.

Nicci starrte benommen. Ein heftiger, quälender Schmerz schnürte ihr die Kehle zu, und sie bekam feuchte Augen. Alle schauten zu, so als wären sie soeben Zeugen eines tragischen, sinnlosen Todes geworden.

Die Gardisten rückten mit gesenkten Speeren gegen Richard vor und drängten ihn zurück gegen andere Gardisten, die ihn mit schweren Eisenfesseln erwarteten.

Unten, näher bei den Stufen, erhob sich klar und deutlich eine Stimme aus der gelähmten Menschenmenge. »Nein! Das lassen wir uns nicht gefallen!«

In der zunehmenden Dunkelheit erkannte Nicci den Mann, der gerufen hatte. Er stand ziemlich weit vorn und versuchte sich voller Ungestüm einen Weg durch das Gedränge zu bahnen, um auf den Vorplatz zu gelangen.

Es war der Schmied, Mr. Cascella.

»Das lassen wir uns nicht gefallen!«, brüllte er. »Ich lasse mich nicht länger von euch zum Sklaven machen! Hört ihr mich? Ich bin ein freier Mann! Ein freier Mann!«

Die gesamte Menschenmasse vor dem Platz brach in ohrenbetäubendes Gebrüll aus.

Und dann stürzte sie wie ein Mann nach vorn.

Die Fäuste in die Luft gereckt, die Stimmen zu wütendem Geschrei erhoben, brandete die menschliche Masse einer Lawine gleich auf den Platz. Schwer bewaffnete Soldaten marschierten die Stufen hinunter, um sich dem Vorstoß entgegenzustellen. Sie wurden von dem Ansturm fortgespült.

Nicci schrie aus Leibeskräften, um Richards Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, doch ging ihre Stimme in dem mächtigen Getöse unter.

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