19

Mittlerweile verließ Kahlan die Hütte zu jeder sich bietenden Gelegenheit. Die Schnitzfigur Seele stellte sie auf das Fensterbrett, damit sie sie nicht nur vom Bett aus sehen konnte, sondern auch wenn sie sich draußen aufhielt. Sie drehte die Figur so, dass sie stets mit dem Gesicht nach draußen schaute, denn sie hatte das Gefühl, Seele sollte stets der Welt zugewandt sein.

Die Wälder rings um die Hütte waren geheimnisvoll und verlockend; verführerische Pfade verloren sich in schattiger Ferne, und am Ende eines sanft gebogenen Tunnels durch die Bäume konnte sie eben gerade Licht erkennen. Sie brannte darauf, diese schmalen Wege zu erkunden, Wildwechsel, die Richard und Cara auf ihren kurzen Ausflügen zur Kontrolle ihrer Angelschnüre und ihren Beutezügen auf der Suche nach Nüssen und Beeren ausgetreten hatten. Kahlan humpelte mit Hilfe eines Stocks durch die Hütte und über die Wiese, um ihre Beine zu kräftigen; sie wollte Richard unbedingt auf diesen Ausflügen begleiten, durch das laubgefilterte Sonnenlicht und den sanft wehenden Wind, über die Stellen, wo die Felsvorsprünge unter freiem Himmel lagen, und unter den gebogenen, alles umschließenden mächtigen Ästen riesiger Eichen hindurch.

Einer der ersten Spaziergänge, auf den Richard sie mitnahm, als sie darauf beharrte, sie sei im Stande, ein kurzes Stück zu gehen, führte durch besagten Tunnel im dichten, dunklen Wald bis hin zu jenem Lichtpunkt am anderen Ende, wo ein Bach eine felsige Rinne herabfloss. Am Hang oberhalb von ihnen lag der Bach geschützt unter einer dichten Baumreihe. Eine gewaltige Wasserlast stürzte über das stufenartige Felsengewirr hinab, umspülte Flusssteine und ergoss sich in glasähnlichen Kaskaden über Felsvorsprünge. Viele der bärengroßen Steine in den schattigen Wasserbecken waren mit Büscheln von dunkelgrünem Moos bewachsen und mit den langen bräunlich-gelben Nadeln jener Kiefernarten übersät, die mit Vorliebe an felsigen Hängen wuchsen. Auf den glasklaren Tümpeln tanzten glitzernd Flecken des durch das dichte Blätterdach zwinkernden Sonnenlichts.

Am Fuß dieser Felsenrinne, in jenem sonnendurchfluteten, engen Bergtal ein Stück hinter ihrer Hütte, wo der Pfad den Wald verließ, wurde der Bach breiter und langsamer und mäanderte durch das ausgedehnte, von Ehrfurcht gebietend aufregendem Gebirge umringte Tal. Manchmal ließ Kahlan ihre knochendürren Beine über eine Uferböschung baumeln und ihre Füße vom kühlen Wasser umschmeicheln. Dort konnte sie sich im warmen Gras sitzend von der Sonne wärmen lassen und dabei zusehen, wie die Fische durch das kristallklare, über Kieselbetten dahinfließende Wasser schwammen. Richard hatte Recht gehabt mit seiner Behauptung, dass Forellen Orte von besonderer Schönheit liebten.

Es machte ihr großen Spaß, den Fischen zuzusehen, den Fröschen, den Panzerkrebsen und sogar den Salamandern. Oft lag sie auf dem niedrigen grasbewachsenen Ufer auf dem Bauch, das Kinn auf die Handrücken gestützt, und sah stundenlang zu, wie die Fische unter versunkenen Baumstämmen und Felsen oder aus den verborgenen Tiefen der größeren Tümpel hervorkamen, um ein Insekt von der Wasseroberfläche wegzuschnappen. Kahlan fing Grillen, Grashüpfer und Maden und warf sie den Fischen in regelmäßigen Abständen vor. Richard lachte, wenn sie sich mit den Fischen unterhielt und sie aufforderte, aus ihren finsteren Schlupfwinkeln hervorzukommen und sich ein leckeres Insekt zu holen. Manchmal stand ein eleganter Reiher auf seinen dünnen Beinen in den nicht weit entfernten flachen, morastigen Stellen und durchbohrte ab und an einen Fisch oder Frosch mit seinem messerspitzen Schnabel.

Kahlan vermochte sich nicht zu erinnern, in ihrem ganzen Leben jemals an einem so von Leben sprühenden Ort gewesen zu sein, umgeben von solcher Herrlichkeit. Richard zog sie auf und erzählte ihr, eigentlich habe sie überhaupt noch nichts gesehen, und machte sie damit neugierig, ja geradezu versessen darauf, weiter zu Kräften zu kommen, um immer neue Sehenswürdigkeiten zu entdecken. Sie kam sich vor wie ein kleines Mädchen in einem verzauberten Königreich, das nur ihnen und ihnen allein gehörte. Aufgewachsen als Konfessor, hatte Kahlan nie viel Zeit unter freiem Himmel verbracht, um Tiere zu beobachten, zuzusehen, wie Wasser über Felsen in die Tiefe stürzt, oder die Wolken oder einen Sonnenuntergang zu betrachten. Sie hatte eine ganze Reihe von prachtvollen Dingen gesehen, doch stets im Zusammenhang mit Reisen, mit Städten, Gebäuden und Menschen. Nie hatte sie an einem Ort auf dem Land lange genug verweilt, um all dies wirklich in sich aufzunehmen.

Trotzdem verfolgte eine Überlegung sie bis in ihre verborgensten Gedanken; sie wusste, dass sie und Richard eigentlich anderswo gebraucht wurden; sie trugen Verantwortung. Richard wich dem Thema jedes Mal aus, wenn sie darauf zu sprechen kam; er hatte seine Gründe bereits dargelegt und war überzeugt, das Richtige zu tun.

Seit langem schon hatten sie keinen Besuch von Boten mehr erhalten. Auch diese Sorge ging ihr durch den Kopf, Richard jedoch hielt dagegen, er könne es sich nicht erlauben, Einfluss auf die Armee zu nehmen, daher spiele es keine Rolle, dass General Reibisch offensichtlich das Schicken von Berichten eingestellt hatte. Außerdem, sagte er, gefährde dies nur unnötig die Boten, die diese Reisen unternahmen.

Vorläufig wusste Kahlan, dass sie gesund werden müsse, und ihr abgeschiedenes Leben in den Bergen ließ sie – vermutlich wie nichts anderes dies vermocht hätte – mit jedem Tag kräftiger werden. Wenn sie erst in den Krieg zurückkehrten – sobald sie ihn überzeugt hatte, dass sie zurückkehren mussten –, würde dieses friedliche Dasein nur noch eine überaus angenehme Erinnerung sein. Solange es währte, beschloss sie zu genießen, was sie ohnehin nicht ändern konnte.

Einmal, nachdem es mehrere Tage hintereinander geregnet hatte und Kahlan ihre Spaziergänge zum Bach, um die Fische zu beobachten, zu vermissen begann, tat Richard etwas noch nie Dagewesenes.

Er begann, ihr Fische in einem Glas zu bringen, lebende Fische, einfach nur zum Anschauen.

Nachdem er einen leeren Lampenölkrug und mehrere Gläser mit weiter Öffnung gereinigt hatte, die Eingemachtes, Kräuter, Salben für ihre Verletzungen und andere, von ihm nach ihrer Abreise aus Anderith erstandene Vorräte enthalten hatten, bedeckte er ihren Boden mit ein wenig Kies und füllte sie mit Wasser aus dem Bach. Anschließend fing er einige schwarze Tanzelritzen und legte sie in die Glasbehälter. Auf dem Rücken waren sie gelblich-oliv mit schwarzen Sprenkeln, am Bauch weiß, mit einem dicken, schwarzen Streifen an beiden Seiten. Er versah sie mit einigen Wasserpflanzen aus dem Bach, damit sie ein Versteck hatten und sich geborgen fühlen konnten.

Kahlan staunte, als Richard das erste Glas mit lebenden Fischen mit nach Hause brachte. Sie stellte die Gläser – alles in allem vier Stück – sowie einen Krug neben einige von Richards kleineren Schnitzereien auf das Fensterbrett im mittleren Zimmer. Beim Essen saßen Richard, Kahlan und Cara an dem kleinen Holztisch und betrachteten das kleine Wunder aus in Gläsern lebenden Fischen.

»Gib ihnen bloß keine Namen«, sagte Richard, »denn sie werden eines Tages sterben.«

Was sie anfangs für eine alberne Idee gehalten hatte, zog sie schließlich ganz in seinen Bann. Selbst Cara, die die Fische im Glas für eine beispiellose Verrücktheit hielt, fand Gefallen an den kleinen Tierchen. Es schien, als halte jeder Tag in den Bergen mit Richard ein neues Wunder bereit, um sie von ihren Schmerzen und Sorgen abzulenken.

Nachdem sich die Fische an die Menschen gewöhnt hatten, vermittelten sie einem das Gefühl, als wäre das Leben in einem Glas für sie die natürlichste Sache der Welt. Ab und zu schüttete Richard einen Teil des Wassers fort, um es gegen frisches Wasser aus dem Bach auszutauschen. Kahlan und Cara fütterten die kleinen Fische mit Brotkrumen oder winzigen Essensresten sowie kleinen Insekten. Die Fische fraßen gierig und verbrachten die meiste Zeit damit, am Kies auf dem Glasboden herumzuknabbern, umherzuschwimmen und sich die Welt draußen anzuschauen. Nach einer Weile hatten die Fische herausgefunden, wann sie gefüttert wurden. Sobald sich jemand näherte, warteten sie ungeduldig zappelnd auf der anderen Seite der Glaswand – jungen Hunden gleich, die sich freuen, ihr Herrchen zu sehen.

Im Hauptzimmer gab es einen kleinen Kamin, den Richard aus zu Ziegeln geformtem, in der Sonne getrocknetem und schließlich im Feuer gebackenem Ton von der Uferböschung des Baches gebaut hatte. Sie hatten einen Tisch, den er gemacht hatte, dazu aus ineinander verschlungenen und zusammengebundenen Ästen gefertigte Stühle. Sitzflächen und Rückenlehnen der Stühle hatte er aus lederartiger Innenrinde geflochten.

In einer Zimmerecke war eine hölzerne Falltür über einem tiefen Erdkeller, an dessen Rückwand einfache Regale und ein großer mit Vorräten gefüllter Geschirrschrank standen. Unterwegs hatten sie eine Menge Vorräte eingekauft und diese entweder bei Kahlan im Wagen oder auf dessen Rück- oder Seitenwände gebunden transportiert. Auf dem letzten Abschnitt ihres Weges hatten Richard und Cara alles schleppen müssen, da die schmalen Bergpässe, auf denen es keine Straßen gab, für den Wagen unpassierbar waren. Richard war so klug gewesen, den Pfad für sie zu markieren.

Cara hatte gegenüber dem ihren ihr eigenes Zimmer. Wieder auf den Beinen, stellte Kahlan zu ihrer Überraschung fest, dass Cara eine Steinesammlung besaß. Cara sträubte sich allerdings gegen die Bezeichnung ›Sammlung‹ und behauptete, es handele sich um Waffen zu ihrer Verteidigung, für den Fall, dass sie angegriffen wurden und im Haus eingeschlossen waren. Kahlan fand, dass die Steine – alle von unterschiedlicher Farbe – verdächtig hübsch aussahen. Cara beharrte jedoch darauf, es seien tödliche Waffen.

Solange Kahlan ans Bett gefesselt war, hatte Richard entweder auf einem Strohlager im Hauptzimmer oder manchmal auch draußen unter den Sternen geschlafen. Anfangs, wenn sie starke Schmerzen hatte, war Kahlan einige Male aufgewacht und hatte ihn, dösend und den Kopf an die Wand gelehnt, auf dem Fußboden neben ihrem Bett sitzen sehen, jederzeit bereit aufzuspringen, falls sie etwas brauchte, oder um ihr Medizin oder Kräutertee zu reichen. Aus Angst, ihr wehzutun, hatte er nicht bei ihr im Bett schlafen wollen. Für das wohlige Gefühl, ihn neben sich zu spüren, hätte sie selbst das beinahe auf sich genommen. Als sie dann wieder auf den Beinen war, konnte er endlich wieder neben ihr liegen. In jener ersten Nacht mit ihm zusammen im Bett hatte sie sich seine große, warme Hand auf den Bauch gelegt, die Figur Seele angeschaut, die sich als Silhouette im Mondlicht abzeichnete, und auf die nächtlichen Rufe der Vögel, das Gezirpe der Insekten und auf das Geheul der Wölfe gelauscht, bis ihr die Augen zufielen und sie in einen friedlichen Schlummer hinüberglitt.

Am Tag darauf hatte Richard sie zum ersten Mal getötet.

Sie waren am Bach, um nach den Angelschnüren zu sehen, als er zwei gerade gewachsene Weidenzweige abschnitt. Einen davon warf er neben der Stelle, wo sie saß, auf den Boden, und erklärte, dies sei ihr Schwert.

Er schien in ausgelassener Stimmung zu sein und verlangte, sie solle sich verteidigen. Selbst in ausgelassener Laune nahm Kahlan die Herausforderung an, indem sie ihn unvermittelt zu erstechen versuchte – nur um ihn in die Schranken zu weisen. Er kam ihr zuvor und erklärte sie für tot. Sie kämpfte abermals gegen ihn, beim zweiten Mal mit größerem Ernst, und er erledigte sie blitzschnell mit einer überzeugend angetäuschten Enthauptung. Als sie zum dritten Mal auf ihn losging, war sie bereits leicht vergrätzt. Obwohl sie sich bei ihrem Angriff allergrößte Mühe gab, durchkreuzte er elegant ihre Attacke, presste ihr anschließend die Spitze seines Weidenrutenschwerts zwischen die Brüste und erklärte sie zum dritten Mal in Folge für tot.

Danach entwickelte sich daraus ein Spiel, das Kahlan unbedingt gewinnen wollte. Richard ließ sie nie gewinnen, nicht einmal aus Nettigkeit, wenn sie sich wegen der langsamen Fortschritte bei ihrer Kraftzunahme niedergeschlagen fühlte. Wiederholt demütigte er sie vor Caras Augen. Kahlan wusste, dass er es nur tat, damit sie sich einen Ruck gab, ihre Muskeln benutzte und ihre Schmerzen vergaß, um ihren Körper zu straffen und zu kräftigen. Kahlan wollte nichts weiter als gewinnen.

Sie trugen ihre Weidenrutenschwerter beide jederzeit bereit in einer Hülle hinter dem Gürtel. Jeden Tag griff entweder sie ihn oder er sie an, und der Kampf ging los. Anfangs war sie für ihn keine ebenbürtige Gegnerin, was er sie deutlich spüren ließ. Das bestärkte sie nur in ihrer Entschlossenheit, ihm zu beweisen, dass sie keine Anfängerin war, dass es nicht so sehr um ein Kräftemessen ging, sondern einen Kampf um Macht, Überlegenheit und Schnelligkeit. Er machte ihr Mut, bedachte sie aber nie mit falschem Lob. Im Laufe der Wochen brachte sie ihn ganz allmählich so weit, dass er für seine Siege arbeiten musste.

Kahlan hatte den Gebrauch des Schwertes von ihrem Vater, König Wyborn, gelernt. Zumindest war er König gewesen, bevor Kahlans Mutter ihn zum Gefährten nahm. Für eine Konfessor war der Titel ›König‹ ohne jede Bedeutung. König Wyborn von Galea hatte mit seiner Gemahlin und ersten Frau zwei Kinder, somit hatte Kahlan sowohl eine ältere Halbschwester als auch einen Halbbruder.

Kahlan wollte eine gute Figur machen und zeigen, was sie bei ihrem Vater gelernt hatte. Es war frustrierend zu wissen, dass sie weit besser mit einer Waffe umgehen konnte, als sie dies Richard zeigte, was nicht so sehr daran lag, dass sie nicht wusste, was sie tun musste, sondern dass sie es einfach nicht konnte; weder hatten ihre Muskeln schon wieder genug Kraft, noch reagierten sie annähernd schnell genug.

Dennoch war etwas daran verwirrend, denn Richard kämpfte auf eine Weise, der Kahlan weder während ihrer Ausbildung noch in den echten Kämpfen, die sie erlebt hatte, jemals begegnet war. Sie vermochte den Unterschied nicht näher zu beschreiben oder zu analysieren, aber sie spürte ihn und wusste nicht, was sie dem entgegensetzen sollte.

Anfangs hielten Richard und Kahlan die meisten ihrer Gefechte auf der Wiese vor ihrer Hütte ab, damit Kahlan nicht so schnell stolperte, und falls doch, sich dabei nicht den Kopf an einem Felsen aufschlug. Cara bildete ihr stets präsentes Publikum. Mit der Zeit dauerten die Gefechte länger und wurden mit größerer Verbissenheit geführt. Sie wurden wild und anstrengend.

Einige Male brachte die Unerbittlichkeit, mit der Richard ihre Schwertkämpfe anging, Kahlan so sehr aus der Fassung, dass sie noch Stunden danach nicht mit ihm sprach, um nicht versehentlich etwas zu sagen, was sie nicht wirklich meinte und was sie später sicherlich bereuen würde.

Manchmal sagte Richard dann zu ihr: »Spar dir deinen Zorn für den Feind auf. Hier wird er dir nichts nützen; dort kann er die Angst besiegen. Nutze diese Zeit, um deinem Schwert zu zeigen, was es tun muss, um diese Dinge später zu beherrschen, ohne dass du darüber nachdenken musst.«

Kahlan wusste nur zu gut, dass kein Feind sich jemals freundlich verhalten würde. Wenn Richard sich auf Freundlichkeiten einließe und sie mit falschem Stolz belohnte, konnte sich das nur zu ihrem Schaden auswirken. So unbequem diese Lektionen manchmal auch sein mochten, es war unmöglich, Richard lange böse zu sein, vor allem, wenn sie wusste, dass sie im Grunde nur auf sich selber böse war.

Ihr ganzes Leben lang war Kahlan von Waffen umgeben gewesen, und von Soldaten, die diese zu gebrauchen wussten. Einige der Fähigeren von ihnen waren, zusätzlich zu ihrem Vater, ihre Lehrmeister gewesen. Doch keiner von ihnen hatte gekämpft wie Richard. Richard vermochte es, den Kampf mit der Klinge wie eine Kunst aussehen zu lassen, und verlieh dem Akt des Tötens Schönheit. Etwas daran ließ ihr jedoch keine Ruhe, etwas, von dem sie wusste, dass es noch immer ihr Verständnis überstieg.

Vor ihrer Verwundung hatte Richard ihr einmal gestanden, er sei zu der Überzeugung gelangt, Magie selbst sei eine Form der Kunst. Sie hatte geantwortet, sie halte diesen Gedanken für verrückt, jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Aus den Bruchstücken der Geschichte, die sie aufgeschnappt hatte, schloss sie, dass Richard die Magie vermutlich ungefähr auf diese Weise benutzt hatte, um die Chimären zu besiegen: Er hatte eine noch unbekannte Lösung geschaffen, die man sich bis dahin nicht einmal hatte vorstellen können.

Eines Tages war sie bei einem ihrer verbissenen Schwertkämpfe absolut sicher, ihn in einem unbedachten Augenblick ertappt zu haben und ihm den Siegesstoß zu versetzen. Er wich dem, wie sie glaubte, Todesstoß mühelos aus und tötete stattdessen sie. Bei ihm erhielt das Unmögliche den Anschein des Selbstverständlichen.

In diesem Augenblick fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Sie hatte es von der völlig falschen Seite betrachtet. Es war keineswegs so, dass Richard gut mit dem Schwert kämpfen oder wundervolle Figuren mit Messer und Meißel schaffen konnte, nein, es verhielt sich so, dass Richard eins mit der Klinge wurde – der Klinge in jeder Erscheinungsform: egal ob Schwert, Messer, Meißel oder Weidenrute. Er war ein Meister – nicht des Schwertkampfes oder mit dem Schnitzmesser, sondern auf viel grundsätzlichere Weise, er war ein Meister der Klinge selbst.

Kämpfen war nur eine Art, eine Klinge zu gebrauchen. Sein Ausgleich für den zerstörerischen Gebrauch des Schwertes – Magie strebte stets nach Ausgewogenheit – bestand darin, mit Hilfe einer Klinge schöne Dinge herzustellen. Sie hatte die einzelnen Bereiche seines Schaffens gesehen und sie von einander getrennt zu verstehen versucht; Richard dagegen sah nur das vereinte Ganze.

Alles an ihm, die Art, wie er einen Pfeil abschoss, wie er schnitzte oder sein Schwert gebrauchte, ja sogar seine Art, sich fließend und mit wohl durchdachter Zielstrebigkeit fortzubewegen – all das war untrennbar miteinander verknüpft, das waren keine separaten Fähigkeiten … sondern alles ein und dasselbe.

Richard hielt inne. »Was ist? Dein Gesicht wird ja ganz blass.«

Kahlan stand da und hatte ihr Weidenschwert gesenkt. »Du tanzt mit dem Tod. Das ist es, was du mit dem Schwert tust.«

Richard blinzelte sie verständnislos an, als hätte sie soeben verkündet, der Regen sei nass. »Aber ja, natürlich.« Richard berührte das auf seiner Brust hängende Amulett. In der Mitte, umgeben von einem Gefüge aus goldenen und silbernen Linien, befand sich ein tränenförmiger Rubin von der Größe ihres Daumennagels. »Das habe ich dir doch schon vor langer Zeit erklärt. Glaubst du mir etwa erst jetzt?«

Sie sah ihn offenen Mundes an. »Ja, ich glaube, genau so ist es.«

Kahlan erinnerte sich nur zu deutlich an seine frösteln machenden Worte, als sie das Amulett an seinem Hals zum ersten Mal gesehen und ihn gefragt hatte, was das sei.

»Der Rubin stellt einen Blutstropfen dar. Es handelt sich um die symbolische Darstellung der Funktionsweise des Ersten Edikts. Sie hat nur eine einzige Bedeutung, und in ihr ist alles enthalten: schneide. Hast du dich einmal darauf festgelegt zu kämpfen, schneide. Alles andere ist zweitrangig. Schneide, das ist deine Pflicht, dein Ziel, dein Verlangen. Es gibt keine Regel, die wichtiger wäre, keine Verpflichtung, die diese eine außer Kraft setzen könnte. Schneide. Die Linien sind ein Abbild des Tanzes. Schneide aus der Leere, nicht aus dem Gefühl der Verwirrung. Schneide den Feind so schnell und unmittelbar wie möglich. Schneide mit Gewissheit. Schneide fest und entschlossen. Schneide in seine Stärke. Fließe durch die Lücken seiner Wachsamkeit und schneide ihn. Schneide ihn und mache ihn vollkommen kampfunfähig. Gestatte ihm keinen einzigen Atemzug. Schneide ihn ohne Erbarmen bis in die Tiefen seiner Seele. Das ist der Ausgleich für das Leben: der Tod. Das ist der Tanz mit dem Tod.« Richard machte eine kurze Pause und fügte dann hinzu: »Das ist das Gesetz, nach dem ein Kriegszauberer lebt, oder er stirbt.«

Der Tanz war Kunst. Im Grunde war es nichts anderes als die Schnitzerei. Eine Kunst, die ihren Ausdruck in der Klinge fand. Für ihn war es alles ein und dasselbe. Er sah keinen Unterschied, denn in seinem Innern gab es ihn nicht.


Sie teilten sich die Wiese mit einem Rotfuchs, der dort hauptsächlich Jagd auf Nagetiere machte, aber auch nicht abgeneigt war, die saftigen Insekten in Betracht zu ziehen, die er dort fing. Ihre Pferde störte der Fuchs nicht sonderlich, die Kojoten aber, die gelegentlich des Weges kamen, mochten sie gar nicht. Kahlan bekam sie nur selten zu Gesicht, wusste aber, dass sie in der Nähe waren, wenn die Pferde ihrem Unbehagen schnaubend Luft machten. Oft hörte sie nachts die Kojoten weiter oben auf den umliegenden Hängen bellen. Gewöhnlich gaben sie ein langes, gleichbleibendes Jaulen von sich, gefolgt von einer Serie von hellen, kläffenden Lauten. In manchen Nächten sangen die Wölfe, dass ihr lang gezogenes, monotones Geheul, allerdings ohne die Kläfflaute der Kojoten, durch die Berge hallte. Einmal sah Kahlan ein Stück entfernt zwischen den Bäumen einen Bären vorübertrotten, der sie nur eines flüchtigen Blickes würdigte, ein anderes Mal streifte ein Rotluchs an ihrer Hütte vorbei, woraufhin die Pferde panikartig die Flucht ergriffen. Richard brauchte fast einen ganzen Tag, um die Tiere wieder einzufangen.

Backenhörnchen fanden sich bettelnd vor ihrer Tür ein und huschten hin und wieder auch in die Hütte hinein, um sich ein wenig umzusehen. Oft ertappte Kahlan sich dabei, wie sie mit ihnen sprach und ihnen Fragen stellte, so als könnten sie jedes ihrer Worte verstehen. Ihre Art, wie sie in der Tür innehielten und den Kopf zur Seite neigten, ließ sie fast glauben, sie seien tatsächlich dazu fähig. Häufig suchten in den frühen Morgenstunden kleine Rotwildherden die Wiese auf, manchmal frische Spuren in Gestalt eines umgedrehten Herzens in der Nähe ihrer Tür zurücklassend. In letzter Zeit hatten sich gelegentlich auch aggressive, brünftige Rehböcke mit mächtigen Geweihen gezeigt. Eines der Felle, die Kahlan trug, stammte von einem Wolf, der von einem dieser Böcke in einem nicht weit entfernten Eichenwäldchen verwundet worden war. Richard hatte dem verletzten Tier einen langsamen, qualvollen Tod erspart.

Neben den Schwertkämpfen unternahmen sie Fußmärsche hinauf in die Berge, um Kahlans Glieder zu kräftigen. Diese Spaziergänge beanspruchten ihre Beinmuskeln so stark, dass sie manchmal vor Schmerzen nicht schlafen konnte. Gewöhnlich rieb Richard dann ihre Füße, Fesseln und Schenkel mit Öl ein. Meist funktionierte das, sie entspannte sich, wurde schläfrig und konnte schließlich einschlafen.

Sie erinnerte sich noch deutlich an jenen verregneten Abend, als sie bei Nässe und Kälte nach Hause gekommen waren und sie mit geschlossenen Augen auf dem Rücken in ihrem Bett lag, nachdem Richard ihre Beine mit warmem Öl eingerieben hatte. Leise erklärte er, dass seiner Meinung nach ihre Beine endlich ihre ganze Fülle und Spannkraft zurückgewonnen hatten. Kahlan schaute hoch und sah den verlangenden Blick in seinen Augen. Sie hatte fast vergessen, wie erregend es war, zu wissen, dass er sie begehrte. Und sie war so erschrocken, dass ihr vor Freude, sich plötzlich wieder wie eine Frau, eine begehrenswerte Frau, zu fühlen, die Tränen über die Wangen rollten.

Richard hob ihr Bein an seinen Mund und küsste sachte ihren entblößten Knöchel. Als seine sanften, warmen Küsse ihre Schenkel erreichten, keuchte sie vor ebenso plötzlich wie unerwartet erwachtem Verlangen. Er öffnete ihr Nachthemd und rieb das warme Öl auf ihren nackten Bauch. Seine großen Hände wanderten ihren Körper hinauf und liebkosten ihre Brüste. Offenen Mundes atmend nahm er ihre Brustwarzen zwischen Daumen und Zeigefinger, bis sie hart wurden.

»Vorsicht, Lord Rahl«, hauchte sie leise, »ich glaube fast, du lässt dich hinreißen.«

Er hielt inne, schien sich zu fangen und zu merken, was er dort tat, und wich zurück.

»Ich werde schon nicht zerbrechen, Richard«, sagte sie, ergriff seine Hand und zog sie wieder nach unten. »Es geht mir wieder gut. Es würde mir sehr gefallen, wenn du dich hinreißen ließest.«

Sie packte sein Haar mit beiden Händen, während er erst ihre Brust, dann ihre Schultern mit Küssen bedeckte und sich dann ihren Hals hinaufarbeitete. Sein keuchender Atem war warm an ihrem Ohr, seine forschenden Finger machten sie verrückt vor Verlangen. Das Gefühl, ihn mit dem ganzen Körper zu spüren, war hemmungslos erotisch; ihre Müdigkeit war verflogen. Schließlich küsste er sie zärtlich auf die Lippen. Die Art, wie sie seinen Kuss erwiderte, sagte ihm, dass er nicht gar so rücksichtsvoll sein musste.

Als der Regen auf das Dach trommelte, ein Blitz die Umrisse und die geballte Kraft der Figur im Fenster beleuchtete und ein Donnern durch die Berge rollte, schloss Kahlan, ganz ohne Angst, ganz ohne sich Gedanken zu machen und ohne sich zu fragen, ob sie dazu fähig sei, Richard fest in ihre Arme, und sie liebten sich leise, hemmungslos und voller Zärtlichkeit. Noch nie hatten sie einander so sehr gebraucht wie in jener Nacht. All ihre Ängste und Sorgen verdampften in der Hitze des überwältigenden Verlangens, das durch ihren Körper schoss. Sie weinte, so gewaltig war ihr Vergnügen, so erlösend die Befreiung ihrer Gefühle.

Als Richard später in ihren Armen lag, spürte sie, wie eine Träne aus seinem Gesicht rollte, und fragte ihn, ob etwas nicht in Ordnung sei. Er schüttelte den Kopf und meinte zurückhaltend, er habe so lange befürchtet, sie zu verlieren, dass er manchmal schon geglaubt hatte, nicht länger Herr seines Verstandes zu sein. Er schien sich von seinem ganz persönlichen Albtraum befreien zu können. Der Schmerz, den Kahlan anfangs, als sie sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnern konnte, in seinen Augen gesehen hatte, war endlich verbannt.


Ihre Fußmärsche in die Berge hinein wurden immer ausgedehnter. Manchmal nahmen sie ihre Rucksäcke mit und verbrachten die Nacht im Wald, oft, sofern sie eine finden konnten, unter einer Launenfichte. Das zerklüftete Gelände bot eine unendliche Vielfalt von Ausblicken; an manchen Stellen ragten senkrechte Felsenklippen über ihnen in die Höhe, dann wieder verfolgten sie – am Rand eines jähen Abgrunds stehend –, wie die untergehende Sonne den Himmel orange und purpurrot verfärbte, während dünne Wolkenschleier unten durch die grünen Täler zogen. Sie suchten hoch aufragende Wasserfälle auf, die ihre eigenen Regenbogen erzeugten. In den Bergen gab es klare, sonnendurchflutete Wasserbecken, in denen sie schwammen. Sie speisten auf Felsen, die eine zerklüftete Landschaft überblickten und die bisher wohl niemand außer ihnen je zu Gesicht bekommen hatte. Sie folgten Tierspuren durch endlose Wälder aus knorrigen Bäumen und spürten anderen auf dem dunklen Waldboden nach, aus dem Bäume mit Stämmen wie gewaltige braune Säulen wuchsen, die so mächtig waren, dass zwanzig Männer sie mit den Händen nicht hätten umfassen können.

Richard ließ Kahlan mit dem Bogen üben, um ihre Arme zu kräftigen. Sie jagten Kleinwild für den Topf oder zum Rösten. Einige räucherten und trockneten sie zusammen mit den Fischen, die sie fingen. Normalerweise aß Richard kein Fleisch, gelegentlich aber doch. Der Verzicht auf Fleisch war Teil jenes Ausgleichs, den seine Gabe benötigte, wenn er gezwungen war zu töten. Dieses Bedürfnis nach Ausgleich war im Schwinden begriffen, da er niemanden tötete; er hatte seinen inneren Frieden gefunden. Vielleicht wurde diesem Ausgleich jetzt durch seine Schnitzereien Genüge getan. Mit der Zeit konnte er immer mehr Fleisch essen. Auf ihren Ausflügen bestand ihre Ernährung, zusätzlich zu dem Wild, das sie fingen, gewöhnlich aus Reis mit Bohnen, Gerstenmehlfladen und den Beeren, die sie unterwegs sammelten.

Kahlan half, Fische zu putzen, sie in Salz einzulegen oder für ihre Wintervorräte zu räuchern, eine Arbeit, die sie noch nie zuvor gemacht hatte. Sie sammelten Beeren, Nüsse und wilde Äpfel, die sie in großer Zahl zusammen mit dem Wurzelgemüse, das sie vor ihrem Aufstieg in die Berge gekauft hatten, im Erdkeller einlagerten. Richard grub kleine Apfelbäume aus, wenn er welche fand, und pflanzte sie unweit der Hütte auf der Wiese ein, um eines Tages, wie er sagte, jederzeit Äpfel zu haben.

Kahlan fragte sich, wie lange er sie noch von jenem Ort fern halten wollte, wo sie dringend gebraucht wurden. Die stumme Frage hing immer in der Luft, jeder sah sie, doch niemand sprach sie aus. Cara fragte ihn nie danach, manchmal aber, wenn sie allein waren, machte sie Kahlan gegenüber diesbezüglich eine vorsichtige Andeutung. Sie war Lord Rahls Beschützerin und froh, in seiner unmittelbaren Nähe sein zu können, daher beschwerte sie sich im Allgemeinen nicht. Schließlich war er der Lord Rahl und außerdem in Sicherheit.

Kahlan hatte die Last ihrer Verpflichtungen niemals ablegen können. Wie die hohen Berge, die zu allen Seiten über ihnen in die Höhe ragten und stets ihre Schatten auf sie warfen, konnte sie diese Verpflichtungen niemals ganz verdrängen. So sehr sie die Hütte liebte, die Richard am Rand der Wiese errichtet hatte, und so sehr es ihr gefiel, die zerklüfteten, wunderschönen, imposanten und endlosen Berge zu erkunden – mit jedem Tag, der verstrich, spürte sie zunehmend die Last und das bange Verlangen, an jenen Ort zurückzukehren, wo sie am meisten gebraucht wurden. Die Vorstellung, was alles geschehen konnte, ohne dass sie etwas davon mitbekamen, zerfraß sie innerlich. Die Imperiale Ordnung würde nicht an Ort und Stelle verharren, eine Armee von dieser Größe verweilte nur widerwillig an einem Ort. Soldaten, besonders Soldaten dieses Schlags, wurden unruhig, wenn sie lange im Feldlager festsaßen, und früher oder später würden sie Schwierigkeiten machen. Sie sorgte sich um all die Menschen, denen Richards – und ihre – Gegenwart Mut machte und die auf seine Führung angewiesen waren, dass die Mutter Konfessor sich für sie einsetzte.

Da es allmählich Winter wurde, hatte Richard Kahlan einen warmen Überwurf genäht, größtenteils aus Wolfsfell. Die beiden anderen Felle stammten von Kojoten. Einen der Kojoten hatte Richard mit einem wahrscheinlich bei einem Absturz gebrochenen Bein gefunden und ihn von seinem Elend erlöst. Bei dem anderen handelte es sich um einen von der hiesigen Meute fortgejagten bösartigen Einzelgänger, der es sich zur Gewohnheit gemacht hatte, Lebensmittel aus ihrer kleinen Räucherkammer zu stehlen. Richard hatte den durchtriebenen Räuber mit einem einzigen Pfeil erlegt.

Die meisten Wolfspelze hatten sie von verletzten oder alten Tieren genommen. Oft gingen Richard, Kahlan und Cara den Spuren der Wolfsrudel nach, damit Kahlan wieder zu Kräften kam. Mit der Zeit lernte Kahlan, ihre Spuren zu lesen und bereits auf den ersten Blick zu unterscheiden, ob die Abdrücke, sofern sie sich in Schlamm oder weicher Erde befanden, von ihren Vorderpfoten oder Hinterläufen stammten. Richard zeigte ihr, dass die Zehen vorne ein wenig gespreizter waren, während sich der Fersenballen hinten deutlicher abzeichnete. Er hatte in den Bergen mehrere Rudel aufgespürt, und oft folgten die drei einer Gruppe oder einer Familie, nur um herauszufinden, ob es ihnen von den Wölfen unbemerkt gelang. Richard sagte, dies sei eines der Spiele, die sie früher als Waldführer gespielt hätten, um in der Übung zu bleiben und ihre Sinne zu schärfen.

Als Kahlans Mantel fertig war, begannen sie damit, Felle für Caras Winterpelz zu sammeln. Cara gefiel die Vorstellung, dass Richard ihr, die stets ihre Berufskleidung trug, etwas zum Anziehen nähte – das Gleiche, das er auch Kahlan genäht hatte. Zwar hatte sie es nie ausdrücklich gesagt, dennoch hatte Kahlan stets das Gefühl, dass Cara den Mantel, den er für sie nähte, als Zeichen seiner Zuneigung, seines Respekts betrachtete – und als Beweis dafür, dass sie mehr war als nur seine Leibwächterin.

Dieser Ausflug hatte dazu gedient, Felle für Caras Mantel zu suchen, und sie war mit Begeisterung bei der Sache gewesen; sie hatte sogar für sie gekocht.

Als sie jetzt von dem Grat herunterstiegen, auf dem Kahlan Richard zum ersten Mal in einem Schwertkampf besiegt hatte, war Kahlan guter Dinge. Während der letzten beiden Tage hatten sie ein Wolfsrudel oben in den Bergen westlich ihrer Hütte verfolgt. Es war nicht einfach nur eine Jagd gewesen, auch ging es nicht ausschließlich darum, ein Fell für Cara zu bekommen, sondern es war Teil des niemals nachlassenden Drucks, unter den Richard Kahlan setzte, damit sie sich behauptete.

Fast jeden Tag während der vergangenen zwei Monate hatte Richard sie durch schwierigstes Gelände marschieren lassen, Gelände, das sie zwang, jeden einzelnen Muskel ihres Körpers zu belasten. Mit dem Anwachsen ihrer Kräfte waren Kahlans Wanderungen immer länger geworden. Anfangs hatten sie nur quer durch die Hütte geführt, mittlerweile führten sie mitten durch das Hochgebirge. Darüber hinaus attackierte er sie häufig mit dem Weidenschwert und machte sich über sie lustig, wenn sie ihm nicht nach besten Kräften Widerstand leistete.

In gewisser Hinsicht verwirrte es sie, dass sie Richard schließlich doch in einem ihrer gespielten Schwertkämpfe besiegt hatte. Vielleicht war er müde gewesen, weil er den schwersten Rucksack getragen und einige der steileren Pfade erst allein erkundet hatte und sie anschließend holen gekommen war; dennoch war er keineswegs langsamer geworden, und sie hatte ihn trotzdem besiegt. Sie konnte nichts dagegen tun, sie war zufrieden mit sich, auch wenn sie ihren Sieg in Zweifel zog. Aus den Augenwinkeln hatte sie ihn dabei ertappt, wie er lächelnd zu ihr herüberblickte. Kahlan wusste, Richard war stolz darauf, dass sie ihn besiegt hatte. In gewisser Hinsicht war seine Niederlage für ihn ein Sieg.

Nach allem, was Richard sie hatte durchmachen lassen, glaubte Kahlan, sie müsse stärker sein als je zuvor in ihrem Leben. Einfach war es nicht gewesen, aber wenn sie sich am Ende so fühlte wie die Schnitzfigur in ihrem Schlafzimmerfenster, dann hatte sich die Mühe gelohnt.

Kahlan legte Richard eine Hand auf die Schulter, als er Cara über zerklüftete, vom Zufall zu einer Treppe aus mächtigen, ungleichmäßigen Stufen angeordnete Granitblöcke nach unten folgte. »Richard, wieso habe ich dich besiegt?«

Er sah ihren Augen an, wie ernst ihr diese Frage war. »Du hast mich getötet, weil ich einen Fehler gemacht habe.«

»Einen Fehler? Willst du damit sagen, du bist vielleicht zu selbstsicher geworden? Vielleicht warst du einfach müde, oder du warst mit den Gedanken woanders.«

»Das ist doch eigentlich egal, oder? Was immer es war, es war ein Fehler, der mich im Spiel den Sieg gekostet hat. In einem echten Kampf wäre ich ums Leben gekommen. Du hast mir die wertvolle Lektion erteilt, meine Entschlossenheit zu verdoppeln und stets mit all meiner Kraft aufs Ganze zu gehen. Es hat mich einfach daran erinnert, dass ich jederzeit einen Fehler machen und verlieren kann.«

Kahlan konnte sich nicht dagegen wehren, dass ihr die nahe liegende Frage in den Sinn kam: Beging er vielleicht auch einen Fehler, wenn er sich aus den Bemühungen raushielt, die Midlands vor der Tyrannei der Imperialen Ordnung zu bewahren? Kahlan konnte sich dieses Gefühls nicht erwehren, sie spürte den Drang, ihrem Volk beizustehen, auch wenn Richard immer noch der Ansicht war, dass sein Eingreifen, so lange das Volk seine Führerschaft nicht wollte, nichts Gutes bewirken konnte. Als Mutter Konfessor war Kahlan sich darüber im Klaren, dass man sein Volk nicht im Stich lassen durfte, nur weil es nicht immer verstand, dass sein Anführer in seinem besten Interesse handelte.

Da es allmählich Winter wurde, hoffte sie, die Imperiale Ordnung würde in Anderith bleiben. Kahlan musste Richard unbedingt davon überzeugen, umzukehren und den Midlands beizustehen, doch wusste sie beim besten Willen nicht, wie. Er blieb standhaft bei seiner Argumentation, und sie vermochte keine Lücke im Panzer seiner Logik zu entdecken. Mit Gefühlen war ihm in diesem Punkt nicht beizukommen.

Cara führte sie den felsigen Abhang hinunter und musste nur zwei Mal denselben Weg zurückgehen. Der Abstieg war schwierig. Cara war mit sich und damit, dass Richard sie die Route selbst hatte aussuchen lassen, zufrieden. Schließlich war es ihr Fell, dem sie hinterher jagten, daher hatte er ihr gestattet, sie durch das Unterholzgewirr in der Senke auf dem Talgrund und den sich daran anschließenden Ausläufer des Einschnitts zu führen, wo die Bäume sich mit ihren Wurzeln an den felsigen Steilhang klammerten.

Der durch die Schlucht heraufwehende Wind war bitterkalt geworden, die Wolken waren immer dichter geworden, bis die letzten goldenen Strahlen der Sonne erloschen waren. Ihr Anstieg führte sie hinauf in einen düsteren, dunklen Wald aus hoch aufragenden Nadelhölzern. Hoch über ihren Köpfen schwankten die Wipfel im Wind, unten auf dem Boden jedoch regte sich kein Lüftchen. Eine dichte, weiche Schicht aus braunen Nadeln dämpfte ihre Schritte.

Der Anstieg war steil, aber nicht schwierig. Je höher sie stiegen, desto weiter wurden die Abstände zwischen den riesigen Bäumen; ihre Zweige wurden spärlicher, so dass immer mehr des trüben Lichts durchsickern konnte. Die weiter oben gelegenen Felsen waren größtenteils frei von Moos und Blättern. An manchen Stellen mussten sie sich an den Felsen oder Wurzeln festhalten, um sich beim Hinaufklettern hochzuziehen. Kahlan zog die kalte Luft in tiefen Zügen ein, es tat gut, ihre Muskeln auf die Probe zu stellen.

Sie verließen den Wald und traten hinaus in das stahlgraue Licht des späten Nachmittags und in den stöhnenden Wind. Sie befanden sich im Krüppelwald.

Geröll und Felsen fehlte jener dichte Moosbewuchs, der weiter unten am Berg weit verbreitet war, stattdessen wiesen sie gelbliche, schwarz umrandete Flechtenkleckse auf. Nur wenig verkrüppeltes Gestrüpp klammerte sich da und dort in tiefer gelegene Stellen. Am seltsamsten jedoch waren die Bäume, denen dieser Ort oberhalb der Baumgrenze seinen Namen verdankte. Sie waren sämtlich verkümmert – nur wenige überragten Kahlan oder Richard. Wegen der vorherrschenden Winde wuchsen die meisten Äste nur zu einer Seite hin, was den Bäumen das Aussehen von grotesken, fliehenden, in ihrer Qual erstarrten Skeletten verlieh.

Oberhalb des Krüppelwaldes wuchs außer Seggen und Flechten kaum etwas. Und darüber führte die ewige Schneedecke das Regiment.

»Hier ist es«, rief Cara.

Sie entdeckten den Wolf dahingestreckt auf dem Geröll unterhalb eines Felsbrockens, an dessen scharfer Kante man einen dunklen Fleck getrockneten Blutes sah. Weiter oben hatte das Rudel grauer Wölfe ein Berglandkaribu zu schlagen versucht, und der alte Bulle hatte den unglücklichen Wolf mit einem Tritt gestreift. Das allein wäre vermutlich kaum mehr als schmerzhaft gewesen, aber der Wolf war von dem höher gelegenen Felssims abgerutscht und in den Tod gestürzt. Kahlan fuhr mit den Fingern durch das dichte, gelblichgraue Fell mit den schwarzen Spitzen. Es war in gutem Zustand und würde ihren Winterüberwurf erheblich wärmer machen.

Richard und Cara gingen daran, das verhältnismäßig große Weibchen aus dem Fell zu schlagen, während Kahlan an den äußeren Rand eines Überhangs trat. Sie zog ihren Überwurf bis zu den Ohren hoch, stand im bitterkalten Wind und nahm die heraufziehenden Wolken in Augenschein. Was sie dort sah, alarmierte sie ein wenig.

»Das ist kein Nieselregen, der auf uns zukommt, Richard«, sagte Kahlan. »Es ist Schnee.«

Er sah von seiner blutigen Tätigkeit auf. »Kannst du unten im Tal Launenfichten erkennen?«

Sie schaute mit zusammengekniffenen Augen hinunter in den sich vor ihr ausbreitenden Talgrund.

»Ja, ein paar kann ich erkennen. Der Schnee ist noch ein gutes Stück entfernt. Wenn ihr nicht zu lange braucht, schaffen wir es vielleicht bis hinunter und können noch etwas Holz sammeln, bevor es feucht wird.«

»Wir sind fast fertig«, rief Cara.

Richard stand auf, um sich kurz mit eigenen Augen zu überzeugen. Mit blutverschmierter Hand hob er gedankenverloren sein echtes Schwert ein paar Zoll aus der Scheide und ließ es anschließend wieder zurückgleiten, eine Angewohnheit von ihm, mit der er sich vergewisserte, dass die Waffe sicher in ihrer Scheide steckte. Die Geste hatte etwas Beunruhigendes. Seit jenem Tag, als er gezwungen gewesen war, all die Männer zu töten, die sie unten in der Nähe von Kernland überfallen hatten, hatte er die Waffe nicht mehr blank gezogen.

»Stimmt etwas nicht?«

»Was?« Richard bemerkte, wohin sie geschaut hatte, und warf einen Blick auf das Schwert an seiner Hüfte. »Ach, nein, es ist nichts. Vermutlich nur eine Angewohnheit.«

Kahlan streckte die Hand vor. »Dort unten steht eine Launenfichte. Es ist die Nächste von hier aus, und ziemlich groß ist sie auch.«

Richard wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und strich sich die Haare aus den Augen. Seine Finger glänzten von Blut.

»Noch bevor es dunkel wird, werden wir dort unten im Schutz einer Launenfichte an einem gemütlichen Lagerfeuer sitzen und Tee trinken. Ich kann das Fell unter dem Baum über die Zweige spannen und es dort ausschaben. Der Schnee wird uns unter den Asten zusätzlich gegen die Kälte schützen. Wir werden uns ordentlich ausruhen und uns dann morgen auf den Rückweg machen. Weiter unten wird es schlimmstenfalls regnen.«

Kahlan hüllte sich bis über die Wangen in ihren Wolfspelz, als ein Frösteln durch ihre Schultern kroch und kribbelnd ihren Hals hinauflief. Der Winter hatte sie eingeholt.

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