45

Nicci war müde, sie fror und wurde ungeduldig. Sie wollte unbedingt ein Zimmer.

Dass sie Richard in das Zentrum des Reiches, nach Altur’Rang, brachte, hatte zum Ziel, ihn unmittelbar mit der gerechten Sache der Imperialen Ordnung zu konfrontieren. Sie kannte Richard als zutiefst moralischen und rechtschaffenen Menschen und wollte herausfinden, wie er reagierte, wenn man ihm die unbestreitbare Tugendhaftigkeit der Absichten seines Feindes vor Augen führte.

Richard sollte lernen, wie schwer es für gewöhnliche Menschen war, zu überleben und in der Welt zu bestehen. Sie war neugierig, wie es ihm unter diesen Umständen ergehen würde – sie wollte ihn sozusagen ins Feuer werfen und sehen, wie er auf die übergroße Hitze reagierte. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er mittlerweile erschüttert und verzweifelt sein würde, er blieb jedoch gleichgültig und gelassen.

Sie hatte geglaubt, er würde außer sich geraten, als er erfuhr, was nötig war, um eine Arbeit zu bekommen, stattdessen hatte er diesem Mr. Gudgeons zugehört, als der ihm die fast nicht zu bewältigende Aufgabe erläuterte, der sich jeder Arbeitsuchende gegenübersah. Nicci hatte erwartet, er würde diesem aufgeblasenen Beamten eins verpassen; stattdessen hatte Richard sich in aller Freundlichkeit bei ihm bedankt. Es war, als hätten die Dinge, für die er in seiner ganzen Naivität eingetreten war und die er so selbstlos verteidigt hatte, als sie ihn damals kannte, jegliche Bedeutung für ihn verloren.

Als sie im Palast der Propheten seine Lehrerin gewesen war, hatte er jedes Mal, wenn sie genau zu wissen glaubte, wie er reagieren würde, etwas getan, das sie niemals vorhergesehen hatte. Jetzt verhielt es sich fast ebenso, wenn auch auf leicht veränderte Weise. Was zuvor sozusagen ziellose jugendliche Rebellion gewesen war, erwies sich als der gefährlich prüfende Blick eines Raubtieres. Nur die Kette um sein Herz hinderte ihn daran, seine Krallen in sie zu schlagen.

Bei Richards Gefangennahme war Nicci die im Fenster seiner Hütte stehende Schnitzerei einer stolzen Frau aufgefallen. So sicher wie auf den Tag die Nacht folgte, hatte Nicci gewusst, dass Richard sie angefertigt hatte; sie verriet seinen einzigartigen Blick, den sie sofort in aller Deutlichkeit erkannte. Die Figur war der greifbare Beweis für eine verborgene Seite seiner Gabe; sie stellte eine Art Gegengewicht zu seinen kriegerischen Fähigkeiten dar, und doch vermochte sie nichts Magisches in ihr zu entdecken.

Die Gewissheit, dass Richard sie geschnitzt hatte, hatte Nicci zu der Annahme verleitet, er sei an der Arbeit als Bildhauer interessiert, die man ihm unten in Tanimura angeboten hatte, doch er hatte abgelehnt. Danach war er tagelang launisch gewesen und hatte kaum ein Wort gesprochen.

Wann immer sie durch eine neue Stadt kamen, konnte sie beobachten, wie er die Statuen und Reliefarbeiten aufmerksam betrachtete. Da er selbst schnitzte, hatte sie erwartet, er würde diese Werke faszinierend finden, doch das war nicht der Fall; für sie war das vollkommen unverständlich. Zugegeben, nichts davon war so fein ausgeführt wie seine eigenen Arbeiten, aber trotzdem waren dies bildhauerische Werke, für die er sich ihrer Meinung nach zumindest hätte interessieren müssen. Seine bedrückte Stimmung, sobald er eines von ihnen erblickte, verwirrte sie jedes Mal aufs Neue.

Einmal hatte sie einen kleinen Umweg eingeschlagen, aus keinem anderen Grund als dem, ihm einen berühmten Stadtplatz mitsamt des heroischen Kunstwerks zu zeigen, das dort stolz ausgestellt war. Ihr Hintergedanke war, ihm eine kleine Freude zu bereiten, indem sie dieses viel gerühmte Werk zeigte. Er war alles andere als erfreut gewesen. Überrascht hatte sie ihn gefragt, warum er die Skulptur mit dem Titel Vision der Qual so ganz offensichtlich nicht mochte.

»Sie bedeutet den Tod«, hatte er, sich von dem allseits verehrten Kunstwerk abwendend, in kaltem Ekel geantwortet.

Es handelte sich um eine eindrucksvoll komponierte Szene, bestehend aus einer Gruppe von Personen, von denen sich einige nach dem Anblick der Vollkommenheit des Lichts des Schöpfers die Augen ausstachen. Andere Figuren im Sockel der Statue, die sich nicht geblendet hatten, wurden von Bestien aus der Unterwelt zerfleischt. Die Günstlinge des Hüters wichen vor den Geblendeten zurück, die über das, was sie gesehen hatten, bevor sie sich eigenhändig das Augenlicht nahmen, in Wehklagen verfielen.

»Aber nein«, erwiderte Nicci, die Mühe hatte, nicht loszulachen und ihn damit wegen seiner unaufgeklärten Sichtweise zu verletzen. Stattdessen suchte sie seine Sichtweise des berühmten Kunstwerks zu korrigieren, indem sie es ihm erklärte.

»Es handelt sich um eine Darstellung der nichtswürdigen Natur des Menschen. Es werden Männer gezeigt, die soeben Zeugen der Vollkommenheit Seines Lichts geworden sind, was ihnen die Aussichtslosigkeit der Verderbtheit des Menschen vor Augen geführt hat. Dass sie sich daraufhin diese selbst ausstechen wollen, ist ein Beweis für die Vollkommenheit des Schöpfers, denn sie können ihren eigenen Anblick nicht länger ertragen.

Die Männer in diesem Kunstwerk sind Helden, denn sie zeigen uns, dass wir nicht danach streben dürfen, uns in unserer Überheblichkeit über unser korruptes Wesen hinwegzusetzen, denn das käme einem sündhaften Vergleich mit unserem Schöpfer gleich. Es beweist uns, dass wir nichts weiter sind als gesichtslose, unbedeutende Teile einer größeren Gesamtheit der Menschen, die Er erschaffen hat, deshalb kann ein einzelnes Leben unmöglich irgendeine Bedeutung haben. Dieses Werk lehrt uns, dass nur die Gesellschaft als Ganzes lohnend sein kann. Die ganz unten, hier, die es nicht geschafft haben, es ihren Mitmenschen gleichzutun und sich zu blenden, erleiden ihr unbarmherziges, ewiges Schicksal durch die Hand des Hüters.

Verstehst du jetzt? Es respektiert den Menschen in seiner ganzen Fehlerhaftigkeit; wir sollen erkennen, dass jeder Einzelne von uns sich ganz der Besserung unserer Mitmenschen verschreiben muss, denn allein dadurch können wir Gutes tun und das Werk des Schöpfers ehren – uns selbst. Du siehst also, es geht überhaupt nicht um Tod, sondern um die wahre Natur des Lebens.«

Man hatte Nicci beigebracht, die Statue sei erhebend für die Menschen, weil in ihr all das zum Ausdruck komme, was die Menschen längst als wahr erkannt hätten.

Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie sich unter einem Blick so klein gefühlt wie in diesem Augenblick, da Richard sie ansah.

Entsetzt über diesen Blick in seinen Augen musste Nicci schlucken – er war das genaue Gegenteil jenes schwer fassbaren Etwas, das sie bei ihm zu finden hoffte. Ohne ein einziges Wort der Erwiderung, hatte er in ihr in diesem Augenblick den Wunsch geweckt, am liebsten unter einen Stein zu kriechen und zu sterben.

Sie verstand nicht, wie er es anstellte, aber er gab ihr das Gefühl, des Lebens unwürdig zu sein. Auf verwirrende Art gab ihr dieser Blick das Gefühl, ebenso blind zu sein wie die Männer in der Statue. Er hatte kein einziges Wort gesagt, trotzdem dauerte es Tage, bis sie es über sich brachte, ihm wieder in die Augen zu sehen.

Manchmal wirkte Richard sanft und freundlich, wenn sie Heftigkeit erwartete, manchmal schien er tief bewegt, wo sie mit Gleichgültigkeit rechnete. Sie begann sich zu fragen, ob sie sich vielleicht getäuscht hatte, als sie dachte, er sei etwas Besonderes.

Einmal hatte sie sogar ihrem Zweifel nachgegeben, ob er tatsächlich etwas an sich hatte, das sich zu entdecken lohnte. Während sie ihn im Schlaf beobachtete – mutlos, weil sie zu hoffen gewagt hatte, dem Leben eine Bedeutung zu entlocken, die über das, was ihre Mutter sie gelehrt hatte, hinausging –, hatte sie den traurigen Entschluss gefasst, am nächsten Tag, nach dem Besuch des Ortes, an dem sie aufgewachsen war, dem ganzen sinnlosen Unterfangen ein Ende zu machen und zu Jagang zurückzukehren.

Doch nach dem Besuch der Manufaktur ihres Vaters hatte sie wieder diese Eigenart in seinen Augen gesehen und jenseits allen Zweifels gewusst, dass sie sich nicht getäuscht hatte.

Der Tanz hatte soeben erst begonnen.

Sie gingen durch den schlecht beleuchteten Flur eines Logierhauses, als sie Richard ein Zeichen gab, beiseite zu treten. Nicci wollte dieses Zimmer unbedingt; sie wollte sich an einem trockenen Ort niederlegen und schlafen. Beherzt klopfte sie an eine Tür, die aussah, als könnte sie auseinanderfallen, wenn man nicht Acht gab.

Suchend überflog sie ihre Liste, stopfte sie wieder in ihren Rucksack und wartete darauf, dass jemand öffnete. Angeblich sollte das Logierhaus, genau wie all die anderen, die sie bereits aufgesucht hatten, Zimmer an jene vermieten, die neu in der Stadt waren. Kaiser Jagang brauchte dringend Arbeitskräfte.

Richard behielt die Treppe jenseits der Tür im Auge, an die Nicci gerade ein weiteres Mal klopfte. Die Treppe führte von ihnen fort deshalb konnte sie nicht verstehen, warum er ständig alle möglichen Dinge beobachtete, verließ sich aber auf seine Ahnungen. Seinem Ausdruck nach war er über das im Schatten liegende Treppenhaus nicht gerade begeistert. Als Schwester der Finsternis konnten sie die einfachen Dinge kaum schrecken, die andere Menschen ängstigen. Sie klopfte abermals.

Eine Stimme von drinnen forderte sie auf, zu verschwinden.

»Wir brauchen dringend ein Zimmer«, verkündete Nicci vor verschlossener Tür, und das in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie gedachte, es auch zu bekommen. Sie klopfte fester. »Ihr steht auf der Liste. Wir wollen dieses Zimmer haben.«

»Das ist ein Versehen«, ließ sich die gedämpfte Stimme von drinnen vernehmen. »Hier ist nichts frei.«

»Jetzt passt mal auf«, rief Nicci erregt, »es wird allmählich spät…«

Drei junge Burschen, die, von ihr unbemerkt, auf der Treppe gehockt hatten, kamen großspurig um den Geländerpfosten herumstolziert. Sie trugen alle drei kein Hemd und stellten ihre Muskeln zur Schau, wie dies junge Burschen zu tun pflegen. Alle drei hatten Messer.

»Sieh mal einer an«, meinte einer der jungen Kerle mit einem dreisten Grinsen im Gesicht, während er sie lüstern mit den Augen musterte. »Was haben wir denn hier? Zwei kleine nasse Ratten?«

»Ich mag das schicke, kleine Zöpfchen von der blonden Ratte«, frohlockte ein zweiter.

Richard packte sie am Arm und schob sie wortlos zur Eingangstür hinaus, zurück in den Regen. Nicci sperrte sich, den ganzen Weg über mit leiser Stimme protestierend. Sie konnte einfach nicht glauben, dass Lord Rahl höchstpersönlich, der Sucher der Wahrheit und der Bringer des Todes, sich von drei Männern – eigentlich noch jungen Burschen – einschüchtern ließ.

Als sie die wackelige Freitreppe vor der Eingangstür hinuntergingen, schob Richard seinen Kopf ganz dicht an sie heran, zog eine Braue hoch und meinte: »Du bist nicht im Besitz deiner Kraft, schon vergessen? Mit dieser Sorte Ärger wollen wir nichts zu tun haben. Ich möchte wegen eines Zimmers kein Messer in den Bauch bekommen, ein solcher Streit wäre sinnlos. Zu wissen, wann man besser nicht kämpft, ist ebenso wichtig wie zu wissen, wie.«

Nicci hatte das Zimmer unbedingt haben wollen, musste sich aber schließlich eingestehen, dass Richard wahrscheinlich Recht hatte. Die drei spöttisch grinsenden jungen Kerle blickten ihnen an der Tür herumlungernd hinterher und überschütteten Richard mit Beschimpfungen. Es war nicht das erste Mal, dass sie solchen jungen Kerlen begegnet war. Diese jüngste Ausgabe unterschied sich in nichts von all den anderen – arrogant, aggressiv und oft gefährlich. Wenigstens gaben sie gute Soldaten für Jagangs Armee ab.

Richard schob sie die Straße entlang. Er nahm eine Abkürzung durch einige schmale Durchgänge und bog mehrere Male aufs Geratewohl ab, um sicherzugehen, dass ihnen niemand folgte.

Die Stadt Altur’Rang schien endlos, unter dem bedeckten Himmel und in diesem Regen war die Sicht allerdings begrenzt. Die völlig vom Zufall bestimmte Anordnung der Straßen und kleinen Gassen ergab ein verwirrendes Labyrinth. Das letzte Mal war sie vor vielen Jahren hier gewesen; allen Anstrengungen des Ordens zum Trotz erlebte die Stadt noch immer schlechte Zeiten. Sie wagte sich kaum vorzustellen, wie es ihr ergangen wäre, wäre die Imperiale Ordnung nicht mit ihrer Hilfe zur Stelle gewesen.

Als sie auf eine breitere Straße hinaustraten, fanden sie unter einem schmalen, überstehenden Dach gemeinsam mit einem kleinen Häuflein anderer, die vor dem Regen Schutz suchten, Unterschlupf. Nicci schlang sich gegen die Kälte die Arme um den Körper. Richard schaute, genau wie die anderen, die sich unter das Vordach drängten, den Wagen zu, die sich ab und an mühsam einen Weg durch den Kot der Straße bahnten. Sie begriff nicht, wie Richard es schaffte, in diesem Wetter warm zu bleiben, wusste aber seine Körperwärme zu schätzen, als sie in der kleinen Menschentraube gegen ihn geschoben wurde. Richard blickte auf sie hinab, konnte sich aber nicht überwinden, einen Arm um sie zu legen, um sie zu wärmen. Sie bat ihn auch nicht darum.

Nicci seufzte; in der Alten Welt war es nie lange kalt. Ein, zwei Tage noch, dann würde es wieder warm und drückend sein.

Zwischen den eingefallenen Trümmern der Manufaktur ihres Vaters hatte es kurz vor ihrem Aufbruch fast so ausgesehen, als wollte Richard den Arm um sie legen und sie trösten. Sosehr er sie hasste, sosehr er von ihr fliehen wollte – sie hatte sein Mitgefühl erregt. Nicci hatte inmitten der Trümmer gestanden und sich, in den köstlichsten Seelenqualen schwelgend, von einer Woge der Erinnerungen durchfluten lassen…

Irgendetwas erregte Richards Aufmerksamkeit. Sie folgte seinem Blick und sah, dass sich nicht weit die Straße hinunter ein Wagen seltsam schaukelnd fortbewegte. Beinahe im selben Augenblick, als sie ihn erblickte, brach mit lautem Krachen das Rad.

Wegen der Beanspruchung, die auf dem im Kot wegrutschenden und schlingernden Wagen lastete, waren die Speichen unter dem Gewicht der Ladung weggebrochen. Die Seitenwand der Ladefläche klappte klatschend auf; Leute auf dem Gehweg wurden mit Kot bespritzt und verwünschten die beiden Männer auf dem Bock. Das aus vier Pferden bestehende Gespann konnte, als die ungleich verteilte Ladung zum Achsenbruch führte, nur mit Mühe anhalten, was zur Folge hatte, dass auch die Speichen des unversehrten Hinterrades brachen; der gesamte hintere Teil des Wagens versank im Morast.

Die beiden Männer kletterten herunter, um sich den Schaden anzusehen. Der grobknochige Fahrer trat fluchend gegen das schräg aus dem Morast ragende Rad. Der andere, kleiner und stämmig gebaut, inspizierte derweil ruhig den Rest des Wagens sowie dessen Ladung.

Neugierig die Stirn runzelnd, hielt Richard, Nicci vor sich herschiebend, die Straße entlang auf den Wagen zu. Sie ließ es, nicht sonderlich begeistert, den Schutz des Daches verlassen zu sollen, nur widerstrebend mit sich geschehen.

»Da hilft alles nichts«, meinte der Stämmige mit ruhiger Entschlossenheit. »Es ist ja nur ein kurzes Stück.«

Der andere stieß erneut einen Fluch aus. »Das ist nicht meine Arbeit, Ishaq, und das weißt du. Kommt nicht in Frage!«

Daraufhin warf Ishaq in einer hilflosen Geste seine Hände in die Luft, während sein dickköpfiger Partner zum vorderen Ende des Wagens ging und das Gespann zum Weitergehen drängte, bis es ihm endlich gelang, den Wagen an den Straßenrand zu ziehen und für die anderen Wagen Platz zu schaffen, die sich bereits die Straße hinunter zu stauen begannen. Nachdem er den Wagen zur Seite geschafft hatte, ging er sofort daran, die Pferde auszuspannen.

Der Mann am hinteren Wagenende drehte sich um und musterte die Schaulustigen.

»Ich brauche jemanden, der mir hilft«, rief Ishaq in den spärlichen Menschenauflauf.

»Wobei?«, wollte ein Mann ganz in der Nähe wissen.

»Ich muss diese Ladung Eisen ins Lagerhaus bringen.«

Er reckte seinen dicken Hals und zeigte. »Gleich da drüben – in dem Backsteingebäude mit der verblichenen roten Farbe an der Seite.«

»Was lässt du dafür springen?«, erkundigte sich der Passant.

Ishaq ließ die ersten Anzeichen von Verzweiflung erkennen, als er über die Schulter blickte und seinen Partner die Pferde fortführen sah. »Ich bin nicht befugt, etwas zu zahlen, jedenfalls nicht ohne Genehmigung, aber ich bin sicher, wenn du morgen früh vorbeischaust…«

Die Zuschauer lachten wissend, angewidert, und gingen ihrer Wege. Der Mann stand bis zu den Knöcheln im Morast, allein gelassen im strömenden Regen. Seufzend drehte er sich zu seinem Wagen um und schlug die Plane zurück, unter der Eisenbarren zum Vorschein kamen.

Richard trat auf die Straße. Nicci wollte sich vor dem Dunkelwerden noch ein paar weitere Zimmer ansehen und hielt ihn am Ärmel fest, doch er sah sie nur tadelnd an. Mit einem missfällig verärgerten Schnauben folgte sie ihm, als er sich schwerfällig einen Weg durch den Morast bahnte, schließlich doch hinüber zu dem Mann, der soeben unter großen Mühen einen langen Eisenbarren vom Wagen zog.

»Du heißt Ishaq, richtig?«, fragte Richard.

Der Mann wandte sich um und nickte Richard zu. »Das ist richtig.«

»Angenommen ich helfe dir, Ishaq«, erkundigte sich Richard, »bekomme ich dann morgen wirklich Geld dafür? Raus mit der Sprache.«

Ishaq, ein kräftiger Kerl, auf dem Kopf eine komische rote Mütze mit schmaler, ganz umlaufender Krempe, schüttelte schließlich resigniert den Kopf.

»Na schön«, fuhr Richard fort. »Angenommen, ich helfe dir, die Ladung in dein Lagerhaus zu tragen, würdest du dann mir und meiner Frau erlauben, dort drinnen zu übernachten, damit wir für die Nacht aus dem Regen rauskommen?«

Der Mann kratzte sich im Nacken. »Ich darf dort niemand reinlassen. Was, wenn etwas passiert? Oder wenn plötzlich irgendwas fehlt? Dann wäre ich meine Arbeit los« – er schnippte mit den Fingern –, »und zwar so schnell.«

»Nur bis morgen. Ich möchte sie halt aus dem Regen rausbringen, bevor sie ernsthaft krank wird. Im Übrigen habe ich keine Verwendung für Eisenbarren. Und ich bestehle niemanden.«

Sich abermals im Nacken kratzend, blickte er über seine Schulter hinüber zum Wagen. Dann warf er einen kurzen Blick auf Nicci. Sie zitterte am ganzen Körper, und das war nicht gespielt. Er musterte Richard.

»Eine Übernachtung im Lagerhaus, das ist kein angemessener Preis dafür, dass du das ganze Zeug hier nach drüben schleppst. Das wird Stunden dauern.«

»Wenn du einverstanden bist, und ich auch«, versuchte Richard das Rauschen des Regens zu übertönen, »dann ist es ein angemessener Preis. Ich habe nicht mehr verlangt und bin bereit, es für diesen Preis zu machen.«

Der Mann starrte Richard an, als hätte er womöglich den Verstand verloren. Er zog seine rote Mütze vom Kopf und kratzte sich in seinen dunklen Haaren. Dann strich er sein nasses Haar nach hinten und setzte die Mütze wieder auf.

»Ihr müsstet gleich morgen früh verschwinden, sobald ich mit einem anderen Wagen komme. Sonst kriege ich am Ende Ärger…«

»Ich werde dafür sorgen, dass du wegen mir keinen Ärger bekommst. Sollte man mich schnappen, werde ich behaupten, ich sei eingebrochen.«

Der Mann überlegte einen Augenblick; das letzte Angebot, das Richard gemacht hatte, um die Sache unter Dach und Fach zu bringen, schien ihn ein wenig überrascht zu haben. Er blickte noch einmal über seine Schulter auf die Ladung, dann willigte er nickend ein.

Ishaq hob einen langen Eisenbarren an und stemmte seine Schulter darunter. Richard schnappte sich deren zwei, ließ den schweren Stahl auf die geballten Muskeln seiner Schulter sinken, und schob den Arm nach vorn, um sie zu stabilisieren.

»Komm mit«, sagte er an Nicci gewandt. »Gehen wir nach drinnen, wo du dich endlich trocknen und aufwärmen kannst.«

Sie wollte helfen und versuchte, einen Eisenbarren anzuheben, doch das ging über ihre Kräfte. Manchmal vermisste Nicci ihre Kraft; wenigstens spürte sie sie über ihre Verbindung zur Mutter Konfessor. Neben Richard hertrottend, folgte sie dem Mann in den trockenen Lagerraum, den Richard soeben für sie ergattert hatte.


Der nächste Tag dämmerte unter einem wolkenlosen Himmel, obwohl das Regenwasser noch immer von den Traufen tropfte. Am Abend zuvor hatte Nicci, während Richard Ishaq dabei half, die Ladung in das Lagerhaus zu schleppen, eine dünne Schnur aus Richards Rucksack zwischen den Regalen aufgespannt, um ihre nassen Sachen zum Trocknen aufzuhängen. Am Morgen waren die meisten ihrer Kleidungsstücke leidlich trocken.

Sie hatten auf hölzernen Pritschen genächtigt, denn die einzige Alternative wäre der nackte Fußboden gewesen. Alles roch nach Eisenstaub und war mit einer hauchfeinen, schwarzen Schicht überzogen. Von einer einzigen Laterne abgesehen, die Ishaq ihnen dagelassen hatte, und über der Nicci sich wenigstens die Hände wärmen konnte, gab es im Lagerhaus nichts, das ihnen Wärme hätte spenden können. Sie schliefen, so gut es ging, in ihren feuchten Kleidern. Am Morgen waren auch diese halbwegs trocken.

Nicci hatte den größten Teil der Nacht kein Auge zugetan, aber im Licht der ihre Hände wärmenden Laterne hatte sie Richard im Schlaf beobachtet und dabei über seine grauen Augen nachgedacht. Es war ein schwerer Schlag für sie gewesen, diese Augen in der Manufaktur ihres Vater auf sie gerichtet zu sehen, und es hatte eine Flut von Erinnerungen zurückgerufen.

Richard öffnete das Tor der Lagerhalle gerade weit genug, um sich hindurchzuzwängen, und trug ihre Siebensachen hinaus in den anbrechenden Morgen. Der Himmel über der Stadt schien von Rost befallen. Er ließ sie als Bewachung bei ihren Sachen zurück und ging noch einmal hinein, um das Tor von innen zu verriegeln. Sie hörte, wie er über die Regale der Lagerhalle zu einem Fenster hinaufkletterte; an der Außenseite musste er hinunterspringen.

Als Ishaq schließlich mit einem anderen Wagen die Straße heraufkam, saßen Richard und Nicci bereits auf einer niedrigen Mauer an der Zufahrt zum Lagerhallentor. Während der Wagen an ihnen vorbei auf den Hof vor dem Gebäude rollte und schließlich vor der Doppeltür hielt, sah Nicci, dass an den Zügeln jener Fahrer saß, der Ishaq am Abend zuvor im Stich gelassen hatte.

Der schlaksige Fahrer zog, sie misstrauisch musternd, die Feststellbremse an.

»Was geht hier vor?«, fragte er Richard.

»Tut mir Leid, wenn ich Euch störe, aber ich wollte einfach hier sein, bevor Ihr aufmacht, damit ich mich erkundigen kann, ob es hier vielleicht Arbeit gibt.«

Mit einem kurzen Blick auf Nicci stellte Ishaq fest, dass sie trocken war. Das verriegelte Tor beäugend, sah er, dass Richard Wort gehalten und ihn davor bewahrt hatte, dass er Ärger bekam, weil er jemand in der Halle hatte schlafen lassen.

»Wir sind nicht berechtigt, jemanden einzustellen«, erklärte der Fahrer. »Du musst zum Büro gehen und deinen Namen in eine Liste eintragen lassen.«

Richard seufzte. »Verstehe. Vielen Dank, Leute, ich werde es versuchen. Schönen Tag Euch beiden.«

Nicci hatte gelernt, es Richards Stimme anzuhören, wenn er etwas im Schilde führte. Suchend schaute er erst rechts, dann links die Straße hinunter, so als wollte er sich orientieren. Jetzt führte er zweifellos etwas im Schilde. Er schien Ishaq Gelegenheit geben zu wollen, sich für die geleistete Hilfe etwas großzügiger zu revanchieren.

Am Abend zuvor hatte er Richard einen doppelt so großen Anteil der Wagenladung schleppen lassen. Richard hatte es ohne ein Wort des Protestes über sich ergehen lassen.

Ishaq räusperte sich. »Warte mal.« Er kletterte vom Wagen herunter, um das Tor aufzuschließen, blieb aber kurz vor Richard stehen. »Ich bin hier der Lademeister. Wir brauchen noch einen zusätzlichen Mann. Du siehst aus, als könntest du ganz ordentlich anpacken.« Er zeichnete mit der Stiefelspitze eine kleine Karte in den Morast. »Geh rüber ins Büro« – er deutete mit dem Daumen über die Schulter – »die Straße hier runter bis zur dritten Biegung, dann nach rechts bis zur sechsten Querstraße.« Er malte ein Kreuz in den Morast. »Das Büro ist hier. Lass deinen Namen in die Liste eintragen.«

Richard lächelte und verneigte sich. »Werd ich machen, Sir.«

Nicci wusste ganz genau, dass Richard Ishaqs Namen nicht vergessen hatte, aber wegen des Fahrers, dem Richard nicht über den Weg traute, weil der Mann seinen Kumpel am Abend zuvor im Stich gelassen hatte, tat er so, als kenne er ihn nicht. Was Richard nicht recht verstand, war, dass der Fahrer ausschließlich die ihm zugeteilte Arbeit ausgeführt hatte.

Offenbar war es nicht gestattet, Arbeiten zu übernehmen, die anderen gehörten; vielleicht war es auch Diebstahl. Die Ladung fiel in die Verantwortung des Ladearbeiters, nicht des Fahrers, »Erst einmal musst du dich beim Kollektiv der Ladearbeiter einschreiben lassen«, erklärte ihm Ishaq, »das geht hier alles seinen geregelten Gang. Die haben ihr Büro im selben Gebäude. Dann gehst du hin und setzt deinen Namen auf die Liste für die Arbeitsstelle. Ich gehöre dem bürgerlichen Arbeiterkollektiv an, das vom Prüfungsausschuss bei der Berücksichtigung neuer Antragsteller gehört wird. Setz dich einfach hin und warte draußen. Bei unserer Versammlung später werde ich mich dann für dich verbürgen.«

Der Fahrer beugte sich zur Seite und spie aus. »Wieso tust du das, Ishaq? Du kennst den Kerl doch gar nicht.«

Ishaq sah den Fahrer missmutig an. »Hast du bei der Innung irgendjemanden gesehen, der so kräftig war wie dieser Bursche hier? In der Lagerhalle brauchen wir noch einen zusätzlichen Ladearbeiter. Wir haben gerade einen verloren und benötigen dringend Ersatz. Willst du vielleicht, dass man mir irgendeinen klapprigen alten Kerl ans Bein bindet, damit ich am Ende alles allem machen muss?«

Der Fahrer lachte amüsiert. »Wohl kaum.«

Ishaq deutete auf Nicci. »Außerdem, sieh dir seine junge Frau an. Sie braucht dringend etwas Fleisch auf die Rippen, findest du nicht? Scheint mir ein ganz nettes junges Paar zu sein.«

Ishaq, bereits auf dem Weg zur Halle, um die Tür dort aufzuschließen, bedachte Richard beiläufig mit einer fahrigen Handbewegung. »Und sieh bloß zu, dass du auch kommst.«

»Ich werde da sein.«

Ishaq blieb stehen und drehte sich um. »Das hätte ich beinahe vergessen – wie heißt du?«

»Richard Cypher.«

Ishaq nickte ihm zu und wandte sich herum zur Tür. »Ich bin Ishaq. Dann bis heute Abend, Richard Cypher. Und lass mich bloß nicht im Stich – hast du verstanden? Wenn sich rausstellt, dass du ein fauler Hund bist, der andere im Stich lässt, ziehe ich dir das Fell über die Ohren und lasse dich mit einem Eisenbarren um den Hals in den Fluss schmeißen.«

»Ich werde dich nicht enttäuschen, Ishaq.« Richard grinste. »Ich bin zwar ein guter Schwimmer, aber so gut auch wieder nicht.«

Als sie durch die morastigen Straßen stapften, um noch etwas zu essen aufzutreiben, bevor sie das Büro aufsuchten, um sich in die Liste der Arbeitssuchenden einschreiben zu lassen, fragte Richard: »Was hast du?«

Nicci schüttelte angewidert den Kopf. »Normale Menschen haben nicht so viel Glück wie du, Richard. Normale Menschen müssen hart arbeiten und sich anstrengen, aber du findest einfach mit Glück eine Arbeit.«

»Wenn das Glück war«, entgegnete Richard, »wie kommt es dann, dass mir vom Schleppen der Fuhre Eisenbarren bis ins Lagerhaus der Rücken weh tut?«

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