Richard hielt sich das Stecheisen der Länge nach an die Stirn, wie er es schon so oft mit dem Schwert der Wahrheit getan hatte. Dies war nicht weniger ein Kampf; auch hier ging es um Leben oder Tod.
Leise sprach er: »Sei mir an diesem Tag treu, Klinge.«
Der Meißel war achtkantig, um einer verschwitzten Hand genügend Halt zu bieten. Victor hatte ihn mit einer zweckmäßig schweren, stumpfen Spitze versehen und darüber hinaus auf einer der Seiten in winzigen Buchstaben seine Initialen – V C – eingestanzt.
Mit einem solchen schweren Meißel konnte man Gestein zertrümmern und in kurzer Zeit eine große Menge überschüssiges Material entfernen, es war ein Werkzeug, das großen Schaden anzurichten und drei Finger tief in das Gefüge des Marmors einzudringen vermochte. Setzte man einen solchen Meißel gedankenlos an einem unbemerkt gebliebenen Fehler im Gestein an, konnte man damit den gesamten Block zerstören.
Feinere Spitzen erzeugten weniger tiefe Brüche, trugen allerdings auch weniger Material ab. Richard war sich darüber im Klaren, dass er sich selbst mit den feinsten Stecheisen nur bis auf eine halbe Fingerbreite der endgültigen Oberfläche nähern konnte. Das spinnwebartige Netz aus feinen Rissen, das ein Meißel hinterließ, bestand aus Brüchen in der kristallinen Struktur des Marmors selbst. Diese Beschädigungen nahmen dem Stein sowohl seine Transparenz als auch seine Fähigkeit, sich auf Hochglanz polieren zu lassen.
Um den nackten Körper in Stein wiedergeben zu können, musste man sich den endgültigen Oberflächen, die von keinem Werkzeug beschädigt werden durften, mit äußerster Behutsamkeit nähern.
Sobald er mit dem schweren Meißel einen Großteil des Überschusses abgetragen hatte, wollte Richard sich mit feineren Meißeln der eigentlichen Form weiter annähern und sie feiner herausarbeiten können. Hatte er sich dann der endgültigen Oberfläche bis auf eine halbe Fingerbreite genähert, würde er zu Kammeisen übergehen – Meißeln, die einfach Kerben in ihrer Schneide aufwiesen –, um damit das Gestein abzuschlagen, ohne die Struktur des darunter liegenden Marmors zu zerstören. Die derben Kerben entfernten den größten Teil des Steins und hinterließen dabei grobe Rillen. Anschließend würde er zur Verfeinerung des Werkes zu immer feineren Meißeln übergehen und ganz zum Schluss glattkantige Meißel einsetzen, von denen manche gerade mal halb so breit wie sein kleiner Finger waren.
Unten auf der Baustelle, wo er Szenen für den Fries meißelte, war die Arbeit der Bildhauer in diesem Stadium beendet. Zurück blieb eine unansehnliche, plumpe und derbe Oberfläche, die die nackte Haut leblos erscheinen ließ und nicht im Stande war, Muskeln und Körperbau Genauigkeit und Feinheit zu verleihen; die in den Werken dargestellten Menschen waren aller Menschlichkeit beraubt.
Bei dieser Statue dagegen würde Richard erst dort richtig beginnen, wo die Werke für den Orden endeten. Er würde Raspeln benutzen, um Knochen, Muskeln und sogar die Adern der Unterarme herauszuarbeiten. Mit Hilfe von feinen Feilen würde er die von den Raspeln hinterlassenen Spuren entfernen und äußerst feine Konturen herausarbeiten. Der Bimsstein wiederum würde die Feilenspuren entfernen und die Oberfläche für das Polieren mit auf Leder, Tuch und schließlich Stroh aufgetragener Bimssteinpaste vorbereiten.
Wenn er alles richtig machte, würde er seine Vision in Stein gehauen erhalten. Nacktes Fleisch, wiedergegeben in Stein. Würde.
Den schweren Spitzmeißel mit dem Daumen in die Handfläche drückend, berührte Richard den Stein mit der Hand und fühlte seine kühle Oberfläche. Er wusste, was sich im Inneren befand – nicht nur im Inneren des Steins, sondern auch in seinem eigenen.
Er empfand keinerlei Zweifel, nur von Herzklopfen unterlegte leidenschaftliche Erwartung.
Wie so oft musste Richard auch jetzt an Kahlan denken. Fast ein Jahr war es her, dass er in ihre grünen Augen geblickt, ihre Wange gestreift, sie in den Armen gehalten hatte. Längst würde sie die Sicherheit ihres Zuhauses gegen Gefahren eingetauscht haben, die er sich nur allzu lebhaft vorstellen konnte. Einen kurzen Augenblick überwältigte ihn die Last der Verzweiflung, schnürte die Traurigkeit darüber, wie sehr er sie vermisste, ihm die Kehle zu, demütigte ihn seine Liebe zu ihr. Jetzt wurde ihm klar, dass er sie aus seinen Gedanken verbannen musste, um sich voll und ganz der Aufgabe widmen zu können, die er sich vorgenommen hatte.
Wie so oft wünschte er Kahlan im Stillen eine gute Nacht.
Dann setzte er die Meißelspitze in einem Winkel von neunzig Grad auf die Oberfläche des Steins und führte mit dem stählernen Hammer einen mächtigen Schlag aus. Steinsplitter flogen explosionsartig davon.
Seine Atemzüge wurden tiefer und gingen schneller. Der Anfang war gemacht.
Richard machte sich mit großer Heftigkeit über den Stein her.
Im Schein der Lampen, die Victor ihm nach Beendigung des Tagewerks dagelassen hatte, verlor Richard sich in der Arbeit und ließ einen Hammerschlag nach dem anderen niedersausen. Spitze Gesteinssplitter prasselten von den Holzwänden ab und stachen, wenn sie ihn an Armen oder Brust trafen. Das deutliche Bild dessen vor Augen, was er schaffen wollte, brach er das überflüssige Gestein fort.
Seine Ohren klangen vom Geräusch von Stahl auf Stahl und Stahl auf Stein; es war wie Musik. Scharfkantige Splitter und Gesteinsbrocken fielen zu Boden, sie waren der gefallene Feind; die Luft war gesättigt vom weißen Staub des Kampfgeschehens.
Richard wusste ganz genau, was er erreichen wollte. Er wusste, was er dafür tun musste und wie er dabei vorzugehen hatte. Er war erfüllt von der Klarheit seines Zieles und von dem Weg, dem es zu folgen galt. Jetzt, da der Anfang gemacht war, ging er vollkommen in seiner Arbeit auf.
Staubwolken wallten um ihn herum, bis seine dunkle Kleidung weiß aussah, so als nähme der Stein ihn in sich auf, als verwandelte er sich mit ihm, bis sie zu einer Einheit wurden. Scharfe Bruchstücke ritzten im Davonfliegen seine Haut. Seine entblößten Arme, weiß wie der Marmor selbst, wiesen von diesem Kampf bald an mehreren Stellen blutig rote Striemen auf.
Von Zeit zu Zeit öffnete er die Tür, um das knöcheltiefe Geröll hinauszuschaufeln; mit einem Geräusch wie von tausend winzigen Glöckchen glitt der Schutt wie eine Lawine den Hang hinunter. Der weiße Staub, der ihn bedeckte, war durchzogen von Rinnsalen aus dunklem Schweiß und roten Kratzern. Die kühle Luft fühlte sich erfrischend an auf seiner schweißnassen Haut. Dann aber schloss er die Nacht, und mit ihr die Welt, wieder aus, um allein zu sein.
Zum allerersten Mal seit nahezu einem Jahr fühlte Richard sich frei. Bei dieser Arbeit unterlag alles seiner Kontrolle, niemand schaute ihm über die Schulter, niemand erklärte ihm, was er zu tun hatte.
Diese Arbeit war sein einziges Ziel, bei dem er nach Vollkommenheit trachtete. Es gab weder Ketten noch Einschränkungen, keine Wünsche anderer, denen er sich beugen musste. In diesem Kampf um das Erreichen des Bestmöglichen war er vollkommen frei.
Was er beabsichtigte, stand in unnachgiebigem Widerspruch zu allem, was den Orden ausmachte. Er beabsichtigte, ihnen das Leben selbst vor Augen zu führen.
Richard wusste, sobald die Ordensbrüder die Statue zu Gesicht bekamen, würden sie ihn zum Tod verurteilen.
Steinsplitter sprangen davon und brachten ihn seinem Ziel mit jedem Hieb näher. Um an den Oberrand des Marmorquaders heranreichen zu können, musste er sich auf einen Hocker stellen, den er um den Monolithen herumrückte, während er diesen von allen Seiten allmählich seiner späteren Gestalt annäherte.
Richard schwang den stählernen Hammer mit dem Ungestüm des Kampfes. Die Hand, die den Meißel hielt, brannte unter den klingenden Schlägen. So heftig seine Attacke war, so kontrolliert war sie. Für diese groben Arbeiten hätte man auch eine Hammerspitzhaue, Spitzhacke genannt, benutzen können. Mit ihr ließe sich das überflüssige Geröll schneller entfernen als mit einem schweren Meißel, aber sie wurde mit weitem Schwung geführt; wegen des Fehlers hatte Richard jedoch Angst, diesen Stein so großen Kräften auszusetzen. Anfangs besaß der Quader allein durch seine schiere Masse Kraft, doch selbst da erachtete er eine solche Spitzhacke als zu gefährlich für diesen Stein.
Richard würde sich von Victor einen Satz Bohrspitzen für einen Bogenbohrer anfertigen lassen. Wenn man die Bogensehne um den Schaft des Bohrers wickelte, konnte man diesen drehen und in den Marmor bohren. Richard hatte lange und ausgiebig über das Problem des Gesteinsfehlers nachgedacht und beschlossen, ihn weitgehend herauszumeißeln. Um zu verhindern, dass sich zusätzliche Risse im Gestein bildeten, würde er als Erstes Löcher durch den Riss hindurchbohren, um dem Stein die Spannung zu nehmen. Mit einer weiteren Reihe eng gesetzter Löcher wollte er das Gestein im Bereich rings um den Fehler, der weggeschlagen werden würde, porös machen und das meiste davon einfach herausmeißeln.
Somit würden zwei Figuren entstehen: ein Mann und eine Frau. Nach Fertigstellung würde der Raum zwischen ihnen sich genau dort befinden, wo Richard die heikelsten Stellen des Fehlers herausgeschlagen hatte. War das poröseste Gestein erst einmal entfernt, würde der restliche Stein stabil genug sein, um der Belastung des Bearbeitens standzuhalten. Da der Fehler am Sockel ansetzte, konnte er ihn nicht restlos beseitigen, aber er konnte das Problem, das er darstellte, auf ein handhabbares Maß vermindern. Das war das Geheimnis dieses Quaders: man musste erst seine Schwächen beseitigen, bevor man seine Stärken herausarbeiten konnte.
Richard hielt den Fehler für einen Glücksfall, vor allem deswegen, weil er den Wert des Steins minderte, weswegen Victor ihn überhaupt erst hatte kaufen können. In Richards Augen hatte der Fehler auch sein Gutes, denn er hatte ihn auf die Idee gebracht, sich über den Stein und seine Bearbeitung Gedanken zu machen, und diese Gedanken hatten schließlich zu seinem Vorhaben geführt. Ohne den Fehler wäre er womöglich nicht auf den gleichen Plan verfallen.
Während der Arbeit war er ganz erfüllt von der Energie des Kampfes, trieb ihn die Hitze des Gefechts voran. Gestein stand zwischen ihm und dem, was er schaffen wollte, und es verlangte ihn danach, dieses Zuviel an Material zu beseitigen, um zum Wesen der Figuren vorzudringen. Eine große Ecke Gesteinsabfall löste sich und glitt herunter, langsam erst, um schließlich krachend auf dem Boden zu landen. Während er weiterarbeitete, regneten Splitter und Bruchstücke hernieder und begruben den gefallenen Widersacher unter sich.
Mehrere Male noch musste er die Türen öffnen, um den Gesteinsabfall nach draußen zu schaufeln. Zu sehen, wie der vormals unregelmäßig geformte Quader erste Konturen annahm, verlieh ihm neue Kräfte. Noch waren die Figuren völlig eingeschlossen, Arme und Beine noch weit davon entfernt, frei zu sein, und ihre Beine noch nicht getrennt, doch sie begannen sich abzuzeichnen. Er würde behutsam vorgehen und Löcher in die Zwischenräume bohren müssen, um zu verhindern, dass die Arme abbrachen.
Zu Richards Überraschung sah er Licht durch die Dachluken fallen. Ohne es zu merken, hatte er die ganze Nacht durchgearbeitet.
Er trat zurück und betrachtete prüfend die Statue, die jetzt mehr oder weniger einem groben Kegel glich. Zurzeit befanden sich dort, wo sich einmal die Arme aus den Körpern lösen würden, noch unförmige Gesteinsmassen. Er wollte, dass die Arme frei schwebten, die Körper Eleganz und Bewegung vermittelten: Leben. Was er bislang für den Orden bildhauerte, wirkte niemals befreit, sondern blieb stets fest im Stein gefangen, für immer starr und bewegungsunfähig wie bei einem Toten.
Richard brannte darauf, zu bleiben und weiterzuarbeiten, aber er wusste, dass er das nicht konnte. Aus der Ecke grub er die Zelttuchplane hervor, die Victor ihm dagelassen hatte, und deckte die Statue damit ab.
Als er die Türen aufstieß, wallte der weiße Staub nach draußen. Victor saß inmitten der Trümmer seines steinernen Monolithen.
Der Schmied blinzelte fassungslos. »Du warst die ganze Nacht dort drinnen, Richard!«
»Schätze schon.«
Victor fuchtelte mit den Armen, während ein breites Grinsen sein Gesicht teilte. »Du siehst aus wie eine Gütige Seele. Wie geht der Kampf mit dem Stein voran?«
Richard wusste nicht recht, was er darauf antworten sollte. Er brachte nur ein freudiges Lächeln zu Stande.
Victor lachte sein aus dem Bauch kommendes Lachen. »Dein Gesicht sagt alles. Du musst müde und hungrig sein, komm, setz dich hin und ruh dich ein wenig aus – und iss ein Stück Lardo.«
Nicci hörte, wie Kamil und Nabbi Richard lauthals begrüßten, als er die Straße heraufkam, anschließend das Getrappel ihrer Schritte, als sie die Vordertreppe hinunterstürmten. Sie warf einen Blick zum vorderen Fenster hinaus und sah im schwindenden Licht der Abenddämmerung, wie sie ihm entgegenliefen, als er die Straße heraufkam. Auch sie war froh, ihn so zeitig nach Hause kommen zu sehen.
In den Wochen, seit er sich darauf eingelassen hatte, die Statue für Bruder Narev zu bildhauern, hatte Nicci herzlich wenig von Richard zu sehen bekommen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Richard es ertrug, eine Statue zu meißeln, die für ihn einer einzigen Qual gleichkam – nicht so sehr wegen ihrer Größe, sondern wegen ihrer Beschaffenheit.
Doch wenn überhaupt, so wirkte Richard geradezu beseelt. Oft arbeitete er, nachdem er den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen war, die Moralpredigten für die Fassade des Palastes in Stein zu hauen, anschließend noch bis spät in die Nacht an der großen Statue für den Vorplatz. Obwohl er beim Nachhausekommen müde sein musste, lief er manchmal unruhig auf und ab; es gab Nächte, in denen er nur ein, zwei Stunden schlief, aufstand und loszog, um noch mehrere Stunden vor Beginn seines eigentlichen Arbeitstages auf der Baustelle an seiner Statue zu arbeiten; mehrmals schon hatte er die ganze Nacht durchgearbeitet.
Richard schien wie von einer inneren Kraft getrieben. Nicci wusste nicht, wie er es schaffte. Manchmal kam er nach Hause, um etwas zu essen und sich für eine Stunde aufs Ohr zu legen, um gleich darauf wieder zurückzueilen. Sie drängte ihn, zu bleiben und sich auszuschlafen, woraufhin er gewöhnlich erwiderte, er müsse seine Buße ableisten, da man ihn sonst wieder ins Gefängnis stecken würde. Auch Nicci machte diese Möglichkeit Angst, weswegen sie nicht darauf bestand, dass er zum Schlafen blieb. Immer noch besser, er verlor seinen Schlaf als gleich sein Leben.
Muskulös und kräftig war er schon immer gewesen, seit er jedoch in die Alte Welt gekommen war, waren seine Muskeln noch schlanker und ausgeprägter geworden. Die schwere Arbeit, erst beim Transport von Eisen und jetzt beim Schleppen von Steinen und beim Hammerschwingen, hatte seine Kräfte zusätzlich gestärkt. Wenn er nach draußen zu den Waschschüsseln ging und sein Hemd auszog, um sich den Gesteinsstaub abzuspülen, bekam sie bei seinem Anblick weiche Knie.
Nicci hörte Schritte den Flur entlangkommen, sowie die aufgeregt fragenden Stimmen von Kamil und Nabbi. Was Richard sagte, konnte sie nicht verstehen, hatte aber keine Mühe, das Timbre seiner Stimme zu erkennen, als er die Fragen der beiden ruhig beantwortete.
So müde er war, so oft er fort auf seiner Arbeitsstelle weilte, immer nahm er sich noch Zeit, mit Kamil und Nabbi und den anderen Hausbewohnern zu sprechen. Bestimmt war er jetzt auf dem Weg hinters Haus, um den beiden Tipps für ihre Schnitzerei zu geben.
Tagsüber werkelten sie am und um das Haus, machten sauber und kümmerten sich um alles. Sie gruben die Gartenerde um und mischten, wenn es so weit war, Kompost darunter. Die Frauen wussten es zu schätzen, dass ihnen jemand die schwere Arbeit mit dem Spaten abnahm. Die beiden putzten, strichen an und reparierten, in der Hoffnung, Richards Anerkennung zu finden, der ihnen daraufhin vielleicht etwas Neues zeigte. Stets boten Kamil und Nabbi Nicci ihre Hilfe an bei allem, was sie vielleicht benötigte – schließlich war sie Richards Ehefrau.
Nicci stand gerade am Tisch und schnitt Möhren und Zwiebeln in einen Kochtopf, als Richard zur Tür hereinkam. Er ließ sich ihr gegenüber auf einen Stuhl fallen. Nach seinem Arbeitstag – und nachdem er bereits Stunden vorher aufgestanden war, um an seiner Statue zu arbeiten – sah er erschöpft aus.
»Ich bin heimgekommen, um etwas zu essen. Ich muss wieder zurück und an der Statue weiterarbeiten.«
»Das ist für den Eintopf morgen. Ich habe dir Hirsebrei gekocht.«
»Ist sonst noch etwas drin?«
Sie schüttelte den Kopf. »Heute hatte ich gerade mal genug Geld für Hirse.«
Er nickte klaglos.
So erschöpft er auch aussah, in seinen Augen war eine bemerkenswerte Eigenschaft zu erkennen, eine innere Glut, die ihren Puls schneller schlagen ließ. Was immer es war, das sie vom ersten Augenblick an erkannt zu haben glaubte, es schien sich seit jener Nacht, als sie ihm fast das Messer ins Herz gestoßen hätte, noch verstärkt zu haben.
»Den Eintopf gibt es morgen«, erklärte sie noch einmal. Seine grauen Augen waren starr auf seine inneren Bilder und Visionen gerichtet. »Es stammt alles aus dem Garten.«
Nachdem sie eine Holzschale vor ihn auf den Tisch gestellt hatte, nahm sie den Kochtopf vom Feuer und löffelte Hirsebrei in seine Schale, bis sie voll war. Ein kleiner Rest blieb übrig, aber den brauchte er dringender als sie. Den ganzen Vormittag hatte sie damit zugebracht, sich für die Hirse anzustellen, und anschließend hatte sie den Nachmittag gebraucht, um all die Maden herauszupicken. Manche Frauen kochten ihn einfach, bis man es nicht mehr erkennen konnte. So etwas wollte Nicci Richard nicht vorsetzen.
Sie stand ganz nah am Tisch und schnitt Möhren klein, als sie es schließlich nicht länger aushielt. »Richard, ich möchte dich zur Baustelle begleiten und mir die Statue anschauen, die du für den Orden machst.«
Er schwieg einen Augenblick, kaute und schluckte. Als er schließlich sprach, tat er dies mit ebenjener Ruhe, die genau dem unerklärlichen Ausdruck seiner Augen entsprach.
»Ich möchte auch, dass du die Statue siehst, Nicci – ich will, dass alle sie sehen. Aber erst, wenn ich fertig bin.«
»Warum?«
Er rührte mit seinem Löffel in der Schale. »Bitte, Nicci, gesteh mir das eine zu. Lass sie mich vollenden, dann wirst du sie sehen.«
Ihr Herz schlug gegen ihre Rippen. Offenbar war ihm dies sehr wichtig.
»Du meißelst gar nicht das, was man dir aufgetragen hat, hab ich Recht?«
»Nein, das tue ich nicht. Ich bildhauere das, was ich machen muss und was die Menschen sehen müssen.«
Nicci schluckte. Ihr war klar: Das war es, worauf sie die ganze Zeit gewartet hatte. Erst war er bereit gewesen, alles hinzuschmeißen, dann war er zu neuem Leben erwacht, und nun war er bereit, dafür zu sterben.
Nicci nickte nur; sie konnte ihm nicht länger in seine grauen Augen schauen. »Ich werde warten, bis sie fertig ist.«
Jetzt wusste sie, warum er in letzter Zeit so gehetzt wirkte. Irgendwie hatte diese Eigenart damit zu tun, die sich auch damals in den Augen ihres Vaters angedeutet hatte und die nun in Richards Augen lichterloh brannte. Schon die Vorstellung war berauschend.
Dies war in mehr als einer Hinsicht eine Frage auf Leben und Tod.
»Bist du dir sicher, Richard?«
»Bin ich.«
Sie nickte abermals. »Also gut. Ich werde dir deinen Wunsch erfüllen. «
Am nächsten Tag war Nicci früh auf den Beinen, um Brot zu kaufen. Sie wollte, dass Richard Brot zu dem Eintopf bekam, den sie gerade kochte. Kamil bot ihr an, ihr den Gang abzunehmen, aber sie wollte aus dem Haus herauskommen. Sie bat ihn, ein Auge auf Richards Eintopf zu halten, der auf frisch aufgelegten Kohlen vor sich hin köchelte.
Es war ein bedeckter und kühler Tag – ein erster Vorbote des rasch nahenden Winters. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen, die auf Arbeitssuche waren, von Karren, die alles, von Düngemitteln bis hin zu Ballen derben dunklen Tuches, transportierten, und von Wagen, die meist Baumaterialien für den Palast beförderten. Als sie sich ihren Weg durch die Stadt bahnte, musste sie darauf achten, wohin sie die Füße setzte, um dem Straßenkot auszuweichen und sich durch den Menschenstrom zu zwängen, der sich ebenso langsam fortbewegte wie der Schlamm der offenen Kanalisation.
Scharen von Bedürftigen verstopften die Straßen; viele von ihnen waren zweifellos auf Arbeitssuche nach Altur’Rang gekommen, auch wenn der Saal des Arbeiterkollektivs nur spärlich besucht war. Die Schlangen vor den Bäckereien waren lang, doch immerhin sorgte der Orden dafür, dass die Menschen Brot bekamen, auch wenn es graues, hartes Brot war. Man musste allerdings früh hingehen, bevor es ausverkauft war. Da die Zahl der Menschen ständig wuchs, ging es den Geschäften jede Woche früher aus.
Eins Tages, so gingen die Gerüchte, würde der Orden im Stande sein, mehr als eine Brotsorte bereitzustellen. Sie hoffte, wenigstens heute auch etwas Butter ergattern zu können. Manchmal wurde Butter angeboten. Brot und Butter waren billig, sie wusste also, dass sie es sich würde leisten können, ein kleines Stück für Richard einzukaufen – vorausgesetzt, es gab überhaupt welche. Das kam jedoch so gut wie nie vor.
Einhundertundachtzig Jahre hatte Nicci damit zugebracht, anderen Menschen zu helfen, und doch schien es den Menschen nicht besser zu gehen als zuvor. Wer allerdings in der Neuen Welt lebte, der war durchaus wohlhabend. Eines Tages, wenn der Orden die Welt beherrschte und man diejenigen, die über die entsprechenden Mittel verfügten, dazu zwingen konnte, ihren Mitmenschen den ihnen zustehenden Anteil abzugeben, dann würde sich endlich alles fügen, und die gesamte Menschheit würde zu guter Letzt in jener Würde leben können, die ihr gebührte. Dafür würde der Orden schon sorgen.
Das Brotgeschäft befand sich an der Kreuzung zweier Straßen, daher reichte die Warteschlange bis um die Ecke. Hinter dieser Ecke stand Nicci, eine Schulter an die Wand gelehnt, und beobachtete die vorüberziehenden Menschenströme, als ein Gesicht in der Menge ihre Aufmerksamkeit erregte.
Ihre Augen weiteten sich, und sie richtete sich auf, traute kaum ihren Augen. Was tat sie in Altur’Rang?
Eigentlich verspürte Nicci gar nicht den Wunsch, es herauszufinden – nicht jetzt, da alles darauf hindeutete, dass sie kurz davor stand, ihre Antworten zu bekommen. Was Richard betraf, schienen sich die Dinge in ihrer entscheidenden Phase zu befinden. Sie war sicher, dass sich bald alles klären würde.
Nicci warf den dunklen Schal über ihren blonden Haarschopf und verknotete ihn fest unterm Kinn. Sich hinter den breiten Rücken einer Frau schiebend, drückte sie sich an die Mauer und spähte zwischen den Schlange stehenden Menschen hindurch.
Nicci beobachtete Schwester Alessandra, die, ihre Nase emporgereckt, ihren berechnenden Blick über die Gesichter der Menschen in der Straße gleiten ließ. Sie sah aus wie ein Berglöwe auf Beutefang.
Nicci wusste, auf wen Alessandra es abgesehen hatte.
Unter normalen Umständen wäre Nicci überaus erfreut gewesen, dass sich ihr Weg mit dem dieser Frau kreuzte, nicht jedoch jetzt.
Nicci ließ sich gegen die groben Schindeln sinken und duckte sich hinter die vor ihr Stehenden, bis Schwester Alessandra in dem endlosen Meer aus Menschen untergetaucht war, die sich durch die Straßen schoben.