Richard zerbröckelte die Wurst, die Nicci ihm aus ihrer Satteltasche gegeben hatte, und warf sie in den Topf mit dem köchelnden Reis. Soeben hatte sie ihm Dinge anvertraut, die ihm, während er sie richtig einzuordnen versuchte, immer wieder wie laut schreiend durch den Kopf gingen.
Er wusste nicht, wie viel er von dem, was sie erzählt hatte, zu glauben wagte, befürchtete jedoch, dass alles stimmte. Nicci machte einfach nicht den Eindruck, als habe sie es nötig, ihn anzulügen – zumindest nicht bei dem, was sie ihm bislang erzählt hatte. Sie wirkte längst nicht so … feindselig, wie er vermutet hatte. Wenn, dann wirkte sie eher traurig –, auch wenn ihm die Vorstellung schwer fiel, dass eine bekennende Schwester der Finsternis unter einem schlechten Gewissen leiden könnte. Wahrscheinlich war es einfach ein exzentrischer Aspekt ihrer Rolle, irgendein Trick, mit dem sie ihre Interessen durchzusetzen versuchte.
Er rührte mit einem Stock im Reistopf. »Ihr sagtet, wir hätten etwas zu besprechen.« Er klopfte den Stock am Topfrand ab. »Ich nehme an, das heißt, Ihr wollt mir Eure Verhaltensregeln mitteilen.«
Nicci machte ein verständnisloses Gesicht, so als habe er sie beim Gedanken an etwas anderes ertappt. Mit ihrer steifen, aufrechten Haltung und in ihrem eleganten schwarzen Kleid wirkte sie fehl am Platz. Richard wäre niemals zuvor auf die Idee gekommen, sich Nicci unter freiem Himmel vorzustellen, und erst recht nicht auf dem nackten Boden hockend; schon der Gedanke war ihm stets absurd erschienen. Ihr Kleid ließ ihn unablässig an Kahlan denken, nicht nur, weil seine völlige Gegensätzlichkeit den Vergleich geradezu herausforderte, sondern auch, weil es ihn lebhaft an den furchtbaren magischen Strang erinnerte, der Nicci und Kahlan verband.
Beim Gedanken daran wand er sich gequält.
»Verhaltensregeln?« Nicci faltete die Hände im Schoß und sah ihm in die Augen. »Ja, richtig, ich hätte einige Bitten, um deren Erfüllung ich dich ersuchen möchte. Erstens darfst du keinen Gebrauch von deiner Gabe machen, was dir weder schwer fallen noch dich belasten dürfte, insbesondere da es einen Menschen gibt, der diesen Verrat nicht überleben würde. Hast du das verstanden?«
Ihre kalten blauen Augen machten ihre Drohung vielleicht noch deutlicher als ihre Worte. Richard bedachte sie mit einem knappen Nicken und ging damit eine Verpflichtung ein, über die er sich im Augenblick noch nicht recht im Klaren war.
Er füllte ihr dampfendes Abendessen in eine flache Schale, die er ihr zusammen mit einem Löffel reichte. Nicci bedankte sich lächelnd. Er stellte den Topf zwischen seinen Beinen auf den Boden, nahm einen Löffel Reis und blies darüber, bis er kalt genug war. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie sie geziert einen winzigen Happen probierte.
Nicci besaß, über ihre körperliche Vollkommenheit hinaus, ein außergewöhnlich ausdrucksstarkes Gesicht. War sie unzufrieden, wollte sie ihren Ärger oder ihr Missfallen zum Ausdruck bringen oder bedrohlich wirken, schien es kalt und leer zu werden. Sie sah einen nicht etwa missbilligend an, wie andere dies taten, wenn sie diese Gefühle verspürten, vielmehr überkam sie ein Blick von kalter Gleichgültigkeit, ein Blick, der auf seine Art weitaus verstörender wirkte; er war ihr undurchdringlicher Panzer.
Andererseits reagierte sie überaus lebhaft, wenn sie sich freute oder dankbar war, mehr noch, diese Freude und Dankbarkeit schienen wirklich echt. Er hatte sie als zurückhaltend in Erinnerung, und obwohl sie sich ihre noble Haltung bewahrt hatte, war ihre zurückhaltende Art gleichsam verflogen und darunter eine unschuldige Freude an jeder Art von Freundlichkeit oder auch nur schlichter Höflichkeit zum Vorschein gekommen.
Richard hatte noch etwas vom Brot übrig, das Cara ihm gebacken hatte. Es widerstrebte ihm, das Brot mit dieser skrupellosen Frau zu teilen, im Augenblick jedoch erschien ihm diese Überlegung kindisch. Er brach ein Stück ab und bot es Nicci an. Sie nahm es mit einer Ehrfurcht entgegen, die eigentlich etwas Bedeutenderem als einem Stück Brot zukam.
»Außerdem erwarte ich, dass du keine Geheimnisse vor mir hast«, sagte sie, nachdem sie einen weiteren Bissen genommen hatte. »Sollte ich dich dabei erwischen, wird dir das nicht gefallen. Mann und Frau dürfen keine Geheimnisse voreinander haben.«
Das war vermutlich richtig, nur traf es auf sie ja wohl kaum zu. Statt diesen Gedanken offen anzusprechen, erwiderte er: »Ihr scheint eine Menge über das Verhältnis von Mann und Frau zu wissen.«
Statt auf seinen Köder anzuspringen, deutete sie mit dem Stück Brot auf die Schale. »Es ist sehr gut, Richard. Wirklich ausgezeichnet.«
»Was wollt Ihr, Nicci? Welchen Zweck verfolgt Ihr mit dieser albernen Posse?«
Der Feuerschein spielte über ihr Alabastergesicht und verlieh ihrem Haar einen feurigen Glanz, den es in Wahrheit gar nicht hatte. »Ich habe dich gefangen genommen, weil ich eine Antwort brauche, von der ich überzeugt bin, dass du sie mir geben kannst.«
Richard zerbrach einen kräftigen Ast über seinem Knie. »Ihr sagtet, Mann und Frau dürften keine Geheimnisse voreinander haben.« Mit der einen Hälfte schob er das brennende Holz zusammen, bevor er den Ast ins Feuer legte. »Sollten dann nicht auch die Ehefrauen offen und aufrichtig sein?«
»Selbstverständlich.« Sie ließ die Hand mit dem Brot sinken und legte ihr Handgelenk auf ein Knie. »Ich werde aufrichtig zu dir sein, Richard.«
»Wie lautet dann die Frage? Ihr sagtet, Ihr hättet mich gefangen genommen, weil Ihr eine Frage habt, auf die ich Euch die Antwort geben kann. Also, wie lautet die Frage?«
Wieder starrte Nicci ins Nichts, einmal mehr alles andere als die erbarmungslose Häscherin. Sie sah aus, als verfolgten Erinnerungen oder vielleicht Ängste sie, was auf ihn eine Furcht einflößendere Wirkung hatte als das hämische Grinsen eines bewaffneten Postens vor den Gitterstäben seines Käfigs.
Der Regen draußen hatte sich zu einem dumpfen, gleichförmigen Prasseln gesteigert. Sie hatten ihr Nachtlager gerade noch rechtzeitig aufgeschlagen. Richard konnte sich der Vorstellung nicht erwehren, wie behaglich es eng an Kahlan geschmiegt unter den Launenfichten gewesen war. Beim Gedanken an Kahlan verließ ihn aller Mut.
»Ich weiß es nicht«, sagte Nicci. »Ich weiß es ehrlich nicht. Ich bin auf der Suche nach etwas, doch wonach, werde ich erst wissen, wenn ich es gefunden habe. Nachdem ich nahezu meine ganzen einhunderteinundachtzig Jahre nichts von seiner Existenz wusste, habe ich vor kurzem zum ersten Mal einen Hinweis darauf gesehen…« Wieder schien sie durch ihn hindurchzuschauen, auf einen hinter ihm liegenden Punkt, und auch ihre Stimme schien an diesen fernen Ort gerichtet, den sie in ihrer Vision vor sich sah. »Das war, als du mit einem Halsring vor all diesen Schwestern standest und ihnen die Stirn geboten hast. Vielleicht werde ich die Antwort finden, wenn ich verstehe, was ich an jenem Tag in diesem Saal gesehen habe. Du warst es nicht allein, aber du warst der Mittelpunkt…«
Ihre Augen konzentrierten sich wieder auf sein Gesicht; sanft, beruhigend, redete sie auf ihn ein. »Bis dahin wirst du weiterleben, ich habe nicht die Absicht, dir Schaden zuzufügen. Du hast keine Folter von mir zu befürchten, ich bin nicht wie die anderen, wie diese Frau, diese Denna oder die Schwestern des Lichts, die dich für ihre Spielereien missbrauchen.«
»Verschont mich mit Eurer gönnerhaften Art. Ihr missbraucht mich ebenso für Eure Spiele wie sie.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte, dass du eines weißt, Richard, ich empfinde für dich nichts als Respekt. Vermutlich habe ich mehr Respekt vor dir als alle anderen Menschen, denen du je begegnet bist. Deswegen habe ich dich gefangen genommen. Menschen wie du sind überaus selten, Richard.«
»Ich bin ein Kriegszauberer. Ihr seid zuvor einfach noch keinem begegnet.«
Sie wies diese Vorstellung mit einer wegwerfenden Handbewegung zurück. »Versuche bitte nicht, mich mit deiner ›Kraft‹ zu beeindrucken. Für diese Albernheiten bin ich nicht in Stimmung.«
Das war keine eitle Prahlerei ihrerseits, wie Richard wusste, sie war eine Hexenmeisterin von bemerkenswerten Fähigkeiten. Vermutlich durfte er sich keine Hoffnungen machen, sie in ihrem magischen Wissen zu übertreffen.
Allerdings verhielt sie sich ganz und gar nicht so, wie er es von einer Schwester der Finsternis erwartet hatte. Richard stellte seine Verärgerung, seine Kränkung und seinen Kummer erst einmal zurück, er war sich im Klaren, dass er der Wirklichkeit ins Auge blicken musste und seine Hoffnungen nicht auf Wunschvorstellungen gründen durfte, deshalb wandte er sich im selben gemäßigten Ton an sie, den sie ihm gegenüber angeschlagen hatte.
»Ich verstehe nicht, was Ihr von mir wollt, Nicci.«
Sie zuckte in einer unfreiwilligen Geste der Enttäuschung mit den Schultern. »Das weiß ich ja selber nicht. Aber bis ich es weiß, wirst du tun, worum ich dich bitte, und alles wird zum Besten stehen. Ich werde dir kein Leid zufügen.«
»Denkt Ihr unter diesen Umständen wirklich, dass ich Euch glaube?«
»Ich sage dir die Wahrheit, Richard. Solltest du dir den Knöchel verstauchen, werde ich dich wie eine gute Ehefrau stützen und dir beim Gehen helfen. Von jetzt an werde ich dir treu ergeben sein, und du mir.«
Er konnte nur fassungslos die Augen zusammenkneifen, so verrückt war das alles. Fast glaubte er, dass sie womöglich den Verstand verloren hatte. Ihr war klar, dass diese Antwort zu einfach wäre. Wie Zedd stets sagte, war nichts jemals einfach.
»Und wenn ich mich stattdessen entschließe, Euren Wünschen nicht nachzukommen?«
Sie zuckte abermals mit den Achseln. »Dann stirbt Kahlan.«
»Das ist mir klar, aber wenn sie stirbt, dann löst Ihr doch den Ring um mein Herz?«
Sie fixierte ihn aus ihren kalten, blauen Augen. »Worauf willst du hinaus?«
»In diesem Fall werdet Ihr nicht bekommen, was Ihr von mir wollt, Ihr hättet nichts mehr in der Hand.«
»Was ich will, habe ich auch jetzt nicht, mir würde also nichts entgehen. Außerdem würde Jagang in diesem Fall deinen Kopf als Geschenk erhalten, und man würde mich zweifellos mit Geschenken und Reichtümern überhäufen.«
Richard glaubte eigentlich nicht, dass Nicci mit Reichtümern und Geschenken überhäuft werden wollte. Schließlich war sie eine Schwester der Finsternis und, falls sie dies wirklich wollte, vermutlich im Stande, sich jederzeit mit Geschenken überschütten zu lassen.
Nichtsdestoweniger war zweifellos ein Preis auf seinen Kopf ausgesetzt, den sie sich verdienen konnte, sollte er sich als unkontrollierbar erweisen. Möglicherweise machte sie sich nichts aus Geschenken oder Reichtümern, aber wenn es etwas gab, auf das sie ganz versessen war, dann war dies Macht. Mit ziemlicher Sicherheit konnte sie ein hohes Maß davon erlangen, wenn sie den Feind der Imperialen Ordnung ausschaltete.
Über den Topf zwischen seinen Beinen gebeugt, wandte er sich wieder seinem Nachtmahl und seinen düsteren Gedanken zu. Es war sinnlos, sich mit ihr zu unterhalten; sie bewegten sich nur im Kreis.
»Richard«, sprach sie ihn leise an, damit er ihr in die Augen sah, »du denkst, ich tue dies, weil ich dich verletzen oder besiegen will, weil du der Feind der Imperialen Ordnung bist. Das stimmt nicht, ich habe dir meine wahren Gründe genannt.«
»Dann werdet Ihr mich also, sobald Ihr die gesuchte Antwort gefunden habt, als Gegenleistung für meine ›Hilfe‹ laufen lassen?« Es war nicht wirklich eine Frage, eher ein schneidender Vorwurf.
»Laufen lassen?« Sie starrte in ihre Schüssel mit Reis und Wurst und rührte darin herum, als könnte sich dort ein Geheimnis offenbaren. Sie sah auf. »Nein, Richard, dann werde ich dich töten.«
»Verstehe.« In seinen Augen war dies kaum die geeignete Methode, ihn zur Hilfe bei ihrer Suche zu ermutigen. »Und Kahlan? Nachdem Ihr mich getötet habt, meine ich.«
»Du hast mein Wort darauf: Sollte ich zu dem Schluss gelangen, dass ich dich töten muss, wird sie leben, solange auch ich lebe. Ich will ihr nichts Böses.«
Er versuchte, wenigstens darin einen kleinen Trost zu finden. Aus irgendeinem Grund glaubte er Nicci. Die Gewissheit, dass Kahlan nicht zu Schaden kommen würde, machte ihm Mut. Was immer mit ihm geschehen würde, es war erträglich, solange sie dabei unbehelligt blieb. Es war ein Preis, den er zu zahlen bereit war.
»Nun denn, ›Weib‹, was ist unser Ziel? Wohin werdet Ihr mich bringen?«
Statt ihn anzusehen, stippte sie ihr Brot ins Essen und dachte, während sie abbiss, über seine Frage nach.
»Gegen wen kämpfst du, Richard? Wer ist dein Feind?« Sie biss ein weiteres kleines Stück von ihrem Brot ab.
»Jagang. Jagang und die Imperiale Ordnung.«
Einer Lehrerin gleich, die ihn verbessert, schüttelte Nicci langsam den Kopf. »Nein, du irrst dich. Ich glaube, auch du brauchst dringend ein paar Antworten.«
Spiele. Sie trieb ein törichtes Spiel mit ihm. Richard biss die Zähne aufeinander, hielt seinen Zorn jedoch im Zaum.
»Gegen wen also dann, Nicci? Gegen wen oder was kämpfe ich, wenn nicht gegen Jagang?«
»Das hoffe ich, dir zeigen zu können.« Sie musterte seine Augen auf eine Weise, die er als beunruhigend empfand. »Ich werde dich in die Alte Welt bringen, in das Herz der Imperialen Ordnung, um dir zu zeigen, gegen was du kämpfst – und was das wahre Wesen dessen ist, was du für deinen Feind hältst.«
Richard runzelte die Stirn. »Warum?«
Nicci lächelte. »Sagen wir, weil es mich amüsiert.«
»Wollt Ihr damit sagen, wir gehen nach Tanimura zurück, wo Ihr all die Jahre als Schwester gelebt habt?«
»Nein. Wir werden das Herz und die Seele der Alten Welt aufsuchen: Altur’Rang, Jagangs Heimat. Der Name bedeutet ungefähr ›Die Auserwählten des Schöpfers‹.«
Richard spürte, wie ihm ein Frösteln über den Rücken lief. »Ihr glaubt, Ihr könnt mich, Richard Rahl, in das Zentrum des Feindeslandes bringen? Ich glaube, in diesem Fall werden wir als ›Mann und Frau‹ nicht lange überleben.«
»Du wirst nicht nur auf deine Magie verzichten, sondern auch auf die Verwendung des Namens Rahl, der damit untrennbar verbunden ist, und stattdessen den Namen benutzen, mit dem du aufgewachsen bist: Richard Cypher. Ohne deine Magie und deinen Namen wird in dir niemand etwas anderes sehen als einen bescheidenen Mann mit seiner Gemahlin. Und nichts anderes wirst du – werden wir beide sein.«
Richard seufzte. »Schön, aber wenn der Feind dahinterkommt, dass ich auch noch etwas anderes bin, wird eine gewisse Schwester der Finsternis doch wohl ihren … Einfluss geltend machen können?«
»Nein, das wird nicht möglich sein.«
Richard sah auf. »Was wollt Ihr damit sagen?«
»Ich kann meine Kraft nicht benutzen.«
Eine Gänsehaut überzog prickelnd seinen Arm. »Wie bitte?«
»Sie ist ganz der Verbindung zu Kahlan gewidmet, damit sie am Leben bleibt; das ist die übliche Wirkungsweise eines Mutterbanns. Es bedarf einer gewaltigen Kraftmenge, um einen so komplexen Bann auch nur zu erzeugen, von seiner Aufrechterhaltung ganz zu schweigen. Meine gesamte Kraft muss für die Mühe aufgewendet werden, diese Verbindung am Leben zu erhalten. Ein Mutterbann lässt keinerlei Reserven übrig; ich bezweifle, ob ich auch nur einen Funken entzünden könnte.
Sollten wir in Schwierigkeiten geraten, wirst du dich darum kümmern müssen. Selbstverständlich kann ich mich jederzeit auf meine Fähigkeiten als Hexenmeisterin berufen, doch dazu müsste ich die Kraft aus unserer Verbindung abziehen. Tue ich das … stirbt Kahlan.«
Ein Gefühl der Bestürzung schoss durch seinen Körper. »Aber was ist, wenn Ihr versehentlich…«
»Dazu wird es nicht kommen. Solange du gut auf mich Acht gibst, ist Kahlan vollkommen sicher. Sollte ich jedoch vom Pferd stürzen und mir das Genick brechen, bricht ihr Genick ebenfalls. Solange du gut auf mich Acht gibst, gibst du auch auf sie gut Acht. Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir wie Mann und Frau zusammenleben – damit du stets in der Nähe bist, und ich dich anleiten und dir Hilfestellung geben kann. Es wird nicht einfach sein, ganz ohne unsere Kraft zu leben wie jedes andere Ehepaar auch, aber ich glaube, wenn ich finden soll, was ich bei dir suche, lässt sich das nicht vermeiden. Verstehst du das?«
Er war nicht vollkommen sicher, antwortete aber trotzdem mit einem Ja.
Dumpfe Verzweiflung drohte ihn zu ersticken. Er hätte nie für möglich gehalten, dass diese Frau ihre Kraft bereitwillig für irgendeine nicht näher bestimmte Erkenntnis aufgeben würde. Allein der Gedanke ließ ihm kalte Panik durch die Adern schießen.
Richard wurde einfach nicht klug daraus. Während sein Verstand blind tastend in einer wahnsinnig gewordenen Welt herumirrte, sprach er, ohne über seine Worte nachzudenken.
»Ich bin bereits verheiratet. Ich werde nicht wie ein Ehemann mit Euch schlafen.«
Nicci machte ein überraschtes Gesicht, dann entfuhr ihr ein geziertes Kichern, das sie mit dem Handrücken verdeckte, nicht etwa aus Verlegenheit, sondern weil seine Vermutung so vermessen war. Richard spürte, wie seine Ohren heiß wurden.
»Das ist nicht die Art, in der es mich nach dir verlangt, Richard.«
Richard räusperte sich. »Gut.«
Während es draußen leise plätschernd regnete und das glühende, maserige Holz leise zischte, wurde Niccis konzentrierter, angespannter und entschlossener Gesichtsausdruck in der Stille der Launenfichte überaus kalt und starr.
»Sollte ich mich aber dennoch so entscheiden, Richard, wirst du mir auch darin zu Willen sein.«
Nicci war eine wunderschöne Frau, eine Frau, die jeder Mann nur zu gerne akzeptieren würde; doch das war es eigentlich nicht, was ihn dazu brachte, ihr zu glauben. Es war der Blick in ihren Augen. Nie war ihm die vage Möglichkeit sexueller Betätigung so lasterhaft und verworfen erschienen.
Sie legte den plauderhaften Unterton ab und verkündete, in einem leblosen, leierhaften Tonfall fortfahrend, dem nichts Menschliches anhaftete, seine lebenslange Strafe. Eine Strafe, die er selbst vollstrecken würde, oder Kahlan würde sterben.
»Du wirst als mein Ehemann auftreten. Du wirst für uns sorgen, wie dies ein jeder Ehemann täte, und dich, soweit es unsere weltlichen Bedürfnisse betrifft, um mich kümmern, und ich mich um dich. Ich werde deine Hemden flicken, für dich kochen und deine Kleider waschen. Du wirst für unseren Lebensunterhalt sorgen.«
Niccis bleierne Stimme traf ihn mit der vorsätzlichen, überlegten Wucht einer Züchtigung mittels einer Eisenstange.
»Du wirst Kahlan niemals Wiedersehen – darüber musst du dir vollkommen im Klaren sein –, aber so lange du tust, was ich verlange, kannst du sicher sein, dass sie lebt. Auf diese Weise wirst du ihr beweisen können, dass du sie liebst. Jeden Morgen, wenn sie aufwacht, wird sie wissen, dass du sie am Leben hältst. Eine andere Möglichkeit, ihr deine Liebe zu beweisen, hast du nicht.«
Ihm wurde übel. Sein Blick war starr auf die Erinnerungen an einen anderen Ort, an eine andere Zeit gerichtet.
»Und wenn ich beschließe, Schluss zu machen?« Das Gewicht dieses Wahnsinns war so erdrückend, dass er das ernsthaft in Erwägung zog. »Statt Euer Sklave zu sein?«
»Dann zeigt sich darin womöglich die Gestalt jenes Wissens, nach dem ich trachte. Vielleicht ist es dieses sinnlose Ende, das ich begreifen muss.« Sie formte mit Zeigefinger und zweitem Finger eine Schere und deutete das Durchtrennen jener magischen Nabelschnur an, über die Kahlan am Leben erhalten wurde. »Eine allerletzte Zuckung, mit der die Sinnlosigkeit der Existenz endgültig ihre Bestätigung findet.«
Richard dämmerte, dass man dieser Frau nicht drohen konnte, weil sie, wie er allmählich begriff, ein Geschöpf war, das jedes nur erdenklich schreckliche Ende geradezu herbeisehnte.
»Von allen Dingen, die mir in dieser Welt etwas bedeuten«, sagte er düster und gequält, und eher an sich selbst und Kahlan als an seine unerbittliche Häscherin gewandt, »ist nur eines unersetzlich: Kahlan. Wenn ich das Dasein eines Sklaven führen muss, damit Kahlan leben kann, dann werde ich es tun.«
Richard bemerkte, dass Nicci schweigend sein Gesicht musterte. Ihre Blicke kreuzten sich flüchtig, dann sah er fort, unfähig, diesen grausam prüfenden Blick aus ihren wunderschönen blauen Augen zu ertragen, solange er den Gedanken an Kahlans Liebe in seinem Geist bewahrte.
»Was immer ihr an Glück, Freude und Vergnügen gemeinsam erlebt und genossen habt, kann dir niemand nehmen, Richard.« Fast schien es, als könnte Nicci in ihn hineinsehen und in seiner Vergangenheit lesen wie in einem Buch. »Halte diese Erinnerungen in Ehren, denn du wirst dich an sie klammern müssen. Ihr werdet euch nie wieder sehen. Dieses Kapitel deines Lebens ist abgeschlossen, ihr habt jetzt beide ein neues Leben, du kannst dich also ebenso gut daran gewöhnen, denn das ist jetzt deine Wirklichkeit.«
Die tatsächlich existierende Wirklichkeit, nicht die Welt, die er sich wünschte. Er selbst hatte Kahlan erklärt, sie müssten der tatsächlich existierenden Wirklichkeit gemäß handeln und dürften ihr kostbares Leben nicht mit dem Wunsch nach dem Unmöglichen vergeuden.
Richard strich sich mit den Fingerspitzen über die Stirn und versuchte zu verhindern, dass seine Stimme brach. »Ihr erwartet doch hoffentlich nicht, dass ich lerne Euch zu mögen.«
»Ich bin es, die etwas zu lernen hofft, Richard.«
Richard sprang auf, die geballten Fäuste an den Seiten. »Und wozu braucht Ihr dieses Wissen so unbedingt?«, verlangte er voller ungezügelter, leidenschaftlicher Bitterkeit zu wissen. »Warum ist das so ungeheuer wichtig für Euch?«
»Es ist meine Strafe.«
Richard starrte sie in fassungslosem Unglauben an. »Was?«
»Ich möchte Schmerzen spüren.« Sie lächelte entrückt.
Richard ließ sich wieder auf den Boden sinken.
»Aber warum?«, fragte er leise.
Nicci faltete die Hände in ihrem Schoß. »Allein der Schmerz kann dieses kalte, leblose Etwas in meinem Innern erreichen, das mein Leben ist, Richard. Schmerz ist das Einzige, wofür ich lebe.«
Er starrte sie benommen an und musste an seine Vision denken: Es gab nichts, was er tun konnte, um den Vormarsch der Imperialen Ordnung aufzuhalten, ihm fiel nichts ein, wie er seine schicksalhafte Verbindung mit dieser Frau abwenden konnte.
Wäre Kahlan nicht gewesen, er hätte sich in diesem Augenblick in ein Handgemenge mit Nicci gestürzt und die Angelegenheit ein für alle Mal entschieden. Im Kampf gegen diesen grausamen Irrsinn wäre er bereitwillig in den Tod gegangen. Doch das verbot ihm die Vernunft.
Er musste weiterleben, damit auch Kahlan weiterleben konnte, dafür, und nur dafür, musste er, einen Fuß vor den anderen setzend, in Richtung Vergessenheit marschieren.