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Die Sonne war soeben im Begriff aufzugehen, und die ersten staubdurchsetzten Sonnenstrahlen fielen durch die hohen Fenster schräg ins Lagerhaus. Richard sah Ishaq durch den Mittelgang kommen, der ihm die Frachtliste mit den Eisenfuhren für die verschiedenen Wagen übergeben wollte, und sprang von dem Gestell herunter, auf dem er gewartet hatte.

Richard hatte den Lademeister eine Woche lang nicht gesehen. »Ishaq, ist alles in Ordnung mit dir? Wo bist du gewesen?«

Der stämmige Lademeister kam eilig den Gang herauf. »Dir auch einen guten Morgen.«

»Entschuldige – guten Morgen. Ich hab mir Sorgen gemacht. Wo warst du?«

Er verzog das Gesicht. »Versammlungen, nichts als Versammlungen. Warte in diesem Büro, warte in jenem Büro. Man bekommt keinen Handschlag getan und muss wegen jeder Kleinigkeit auf eine Versammlung. Ich hätte Leute aufsuchen und versuchen müssen, dringend benötigte Lieferungen abzuklären. Manchmal glaube ich, niemand hat wirklich ein Interesse daran, dass in dieser Stadt überhaupt Güter befördert werden. Für die meisten wäre es einfacher, wenn alle bezahlt würden, ohne dafür arbeiten zu müssen – dann brauchten sie ihren Namen nicht unter ein Stück Papier zu setzen und sich nicht den Kopf zu zerbrechen, ob sie deswegen vielleicht eines Tages zur Rechenschaft gezogen werden.«

»Ist es wahr, Ishaq, dass das Fuhrunternehmen früher dir gehört hat?«

Der Mann hielt inne, um zu verschnaufen. »Wer erzählt denn so etwas?«

»Nun red schon. War das früher dein Fuhrunternehmen oder nicht?«

Ishaq zuckte mit den Achseln. »Schätze, das ist es noch immer.«

»Was ist passiert?«

»Was passiert ist? Nichts ist passiert, außer vielleicht, dass ich schlau geworden bin und mir ausgerechnet habe, dass es mehr Arbeit macht, als ich gebrauchen kann.«

»Womit hat man dir gedroht?«

Ishaq musterte Richard eine Weile abschätzend. »Woher kommst du eigentlich? Du scheinst anders zu sein als all die Farmerburschen, die mir bis jetzt über den Weg gelaufen sind.«

Richard schmunzelte. »Du hast meine Frage nicht beantwortet, Ishaq.«

Der Mann gestikulierte gereizt. »Warum willst du etwas über die Vergangenheit wissen? Vorbei ist vorbei. Man muss die Dinge sehen wie sie sind und versuchen, das Beste aus seinem Leben zu machen. Man hat mich vor eine Wahl gestellt, und ich habe mich entschieden. Die Dinge sind so, wie sie sind. Mit Wunschdenken bekomme ich meine Kinder nicht satt.«

Plötzlich kam Richard sein neugieriger, missbilligender Gesichtsausdruck hart und unbarmherzig vor, deshalb ließ er davon ab. »Ich verstehe, Ishaq. Wirklich. Tut mir Leid.«

Der Mann zuckte abermals mit den Achseln. »Jetzt arbeite ich hier wie alle anderen. Ist viel einfacher. Wenn ich meine Stelle nicht verlieren will, muss ich dieselben Regeln befolgen wie alle anderen auch. Hier sind jetzt alle gleich.«

»Gelobt sei der Orden.« Richards Stichelei brachte Ishaq zum Schmunzeln. Richard streckte ihm die Hand entgegen. »Lass mal die Liste sehen.«

Der Lademeister reichte ihm das Blatt. Außer den Namen zweier Empfänger sowie Qualitäts-, Längen- und Mengenangaben stand nichts darauf.

»Was ist das?«, fragte Richard.

»Wir brauchen einen Lader, der auf den Wagen mitfährt, das Eisen auflädt und dafür sorgt, dass es ausgeliefert wird.«

»Dann arbeite ich jetzt also auf den Wagen. Ich dachte, du brauchst mich im Lagerhaus.«

Ishaq nahm seine rote Mütze ab und kratzte seinen dunklen, schütter werdenden Haarschopf. »Wir haben einige … Beschwerden erhalten.«

»Über mich? Was habe ich angestellt? Du weißt, dass ich hart gearbeitet habe.«

»Zu hart.« Ishaq setzte seine Mütze wieder auf und rückte sie zurecht. »Es gibt Männer im Lagerhaus, die behaupten, du bist kleinlich und boshaft. Das haben sie gesagt, nicht ich. Sie behaupten, du gibst ihnen das Gefühl, minderwertig zu sein, indem du mit deiner Jugend und Kraft angibst.«

Viele der Männer waren jünger als Richard und alles andere als schwächlich.

»Ishaq, ich habe nie…«

»Ich weiß, ich weiß. Aber sie empfinden das eben so. Mach dich deswegen nicht verrückt, Richard. Was zählt, ist ihr Eindruck, nicht das, was wirklich ist.«

Richard seufzte entnervt. »Aber im Arbeiterkollektiv hat man mir erklärt, ich sei im Gegensatz zu anderen arbeitstauglich und solle meine ganze Arbeitskraft in den Dienst der weniger Arbeitstauglichen stellen, die nicht über meine Leistungsfähigkeit verfügen, und ihnen einen Teil ihrer Belastung abnehmen. Es hieß, ich würde meine Arbeit verlieren, wenn ich nicht die volle Leistung bringe.«

»Da wandelt man auf einem schmalen Grat.«

»Und ich bin übergetreten.«

»Sie wollen, dass du entlassen wirst.«

Richard seufzte. »Dann bin ich also hier fertig?«

Ishaq winkte ab. »Ja und nein. Du bist wegen mangelhafter Einstellung aus dem Lagerhaus entlassen. Aber ich konnte das Komitee überzeugen, dir eine zweite Chance zu geben und deiner Versetzung zu den Wagen zuzustimmen. Die Arbeit auf den Wagen ist nicht ganz so schwer, weil du sie nur beladen darfst und entladen, sobald du an deinem Bestimmungsort angelangt bist. Auf diese Weise kannst du dir nicht allzu viel Ärger einhandeln.«

Richard nickte. »Danke, Ishaq.«

Ishaqs Blick suchte Zuflucht zwischen den mit Eisen vollgepackten Gestellen, den Behältern für die Holzkohle und den langen Reihen kostbaren Metalls, das dringend ausgeliefert werden musste. Er kratzte sich an der Schläfe.

»Die Bezahlung ist geringer.«

Richard klopfte sich den Eisen- und Erzstaub von Händen und Hosenboden. »Was macht das für einen Unterschied? Man wird mir ohnehin alles fortnehmen und verteilen. Im Grunde geht nicht mir der Lohn verloren, sondern den anderen.«

Ishaq lachte amüsiert in sich hinein und versetzte Richard einen Schulterklaps. »Du bist der Einzige hier, auf den ich zählen kann, Richard. Du bist anders als die anderen – ich habe das Gefühl, dass ich mit dir reden kann, ohne dass gleich ein anderer Wind davon bekommt.«

»Das würde ich dir niemals antun.«

»Weiß ich. Deswegen erzähle ich dir auch Dinge, die ich den anderen nicht erzähle. Man erwartet von mir, dass ich genauso bin wie alle anderen und genauso schufte wie sie, andererseits verlangt man von mir, dass ich Arbeitsplätze schaffe. Sie haben mir meinen Betrieb weggenommen, erwarten aber immer noch, dass ich ihn für sie führe. Verrückte Welt.«

»Du weißt noch längst nicht alles, Ishaq. Also, was ist jetzt mit der Arbeit als Wagenbelader? Was soll ich für dich tun?«

»Der Schmied draußen auf der Großbaustelle macht mir die Hölle heiß.«

»Warum?«

»Man hat Werkzeuge bei ihm bestellt, aber er hat kein Eisen. Eine Menge Leute warten auf ihre Bestellungen.« Er deutete mit einer ausladenden Handbewegung auf das mit Eisen vollgepackte Gestell. »Das meiste davon wurde bereits letzten Herbst bestellt. Letzten Herbst! Mittlerweile ist es fast Frühling, und ich habe es erst jetzt hereinbekommen. Das alles ist längst denen zugesagt, die es lange vorher bestellt haben.«

»Und warum hat es solange gedauert, bis es hier eintraf?« Ishaq schlug sich die Hand vor die Stirn. »Vielleicht bist du ja doch ein unwissender Farmerbursche. Wo hast du in der letzten Zeit gesteckt? Unter irgendeinem Stein? Man bekommt nicht einfach deswegen irgendwelche Dinge, weil man sie haben will. Man muss warten, bis man an der Reihe ist. Deine Bestellung muss erst von einem Prüfungsausschuss bewilligt werden.«

»Warum?«

»Warum, warum, warum. Mehr fällt dir dazu nicht ein?« Ishaq seufzte und machte leise eine Bemerkung über den Schöpfer, der seine Geduld auf die Probe stelle. Er schlug seine geballte rechte Hand in die linke Handfläche und erklärte es Richard.

»Weil man an die anderen denken muss, deswegen. Man muss stets die Bedürfnisse der anderen bedenken und das Wohl aller im Auge behalten. Bekäme ich alle Fahrten für die Abholung und Auslieferung von Eisen, welche Chance bliebe dann für die anderen, die das Gleiche tun wollen? Es wäre ungerecht, wenn ich alle Aufträge bekäme. Menschen würden ihren Arbeitsplatz verlieren. Das Vorhandene muss unter allen aufgeteilt werden. Der Kontrollausschuss hat dafür zu sorgen, dass alles für alle gleich ist. Manche können die Bestellungen nicht so schnell abwickeln wie ich, oder sie haben Schwierigkeiten, vielleicht kriegen sie auch keine Arbeitskräfte, oder ihre Arbeiter haben Schwierigkeiten, deshalb muss ich warten, bis sie nachkommen können.«

»Aber es ist doch dein Betrieb, warum kannst du nicht…«

»Warum, warum, warum. Hier, nimm die Bestellung. Ich bin nicht scharf darauf, dass dieser Schmied noch einmal den weiten Weg hierher macht und mich anbrüllt. Er ist mit seinen Aufträgen im Verzug und braucht das Eisen dringend.«

»Und warum ist er in Schwierigkeiten? Ich dachte, jeder hat zu warten, bis er an der Reihe ist.«

Ishaq zog eine Braue hoch und senkte seine Stimme. »Sein Auftraggeber ist der Ruhesitz.«

»Der Ruhesitz? Was ist das?«

»Der Ruhesitz.« Die Arme ausbreitend, deutete Ishaq etwas außerordentlich Großes an. »So lautet der Name des Palastes, der zurzeit für den Kaiser errichtet wird.«

Richard hatte den Namen noch nie gehört. Der neue Kaiserpalast war also der Grund dafür, dass all die zahllosen Arbeitskräfte nach Altur’Rang strömten. Vermutlich hatte Nicci deswegen auch darauf bestanden, dass sie in diese Stadt kamen. Offenbar war sie recht interessiert daran, dass er an diesem gewaltigen Vorhaben Teil hatte. Vermutlich zeigte sich darin ihr etwas wunderlicher Sinn für Ironie.

»Der neue Palast wird gewaltig werden«, erklärte Ishaq, abermals seine Arme schwenkend. »Massenhaft Arbeit für eine ganze Masse von Menschen. Der Bau des Palastes bedeutet Arbeit für viele Jahre.«

»Und wenn die Materialien für den Orden bestimmt sind, dann tust du gut daran zu liefern, nehme ich an.«

Ishaq lächelte und machte eine knappe, tiefe Verbeugung. »Endlich fängst du an zu begreifen, mein lieber Richard Warumwarumwarum. Der Schmied arbeitet unmittelbar auf Bestellung der Bauherren des Palastes, die den allerhöchsten Stellen Rechenschaft ablegen müssen. Die Erbauer benötigen Werkzeuge, müssen bestimmte Dinge anfertigen lassen. Sie haben keine Lust, sich die Ausflüchte eines einfachen Schmieds anhören zu müssen. Und der Schmied will von mir keine Ausflüchte hören, ich dagegen muss mich danach richten, was der Prüfungsausschuss sagt – er nicht, er richtet sich nach den Vorgaben des Palastes. Und ich sitze mitten zwischen sämtlichen Stühlen.«

Ishaq hielt inne, als sich einer der anderen Lader mit einem Stück Papier durch den Mittelgang näherte. Ishaq überflog den Zettel, den der Mann ihm reichte, während dieser Richard mit einem verstohlenen Seitenblick bedachte. Ishaq seufzte und erteilte dem Mann ein paar knappe Anweisungen. Als er gegangen war, wandte Ishaq sich wieder Richard zu.

»Ich darf nur befördern, was mir der Prüfungssausschuss bewilligt. Dieses Schreiben gerade – das war die Anweisung des Ausschusses, ich solle eine Holzlieferung an die Minen zurückhalten, weil dieser Lieferauftrag an eine Firma gehen soll, die auf den Auftrag dringend angewiesen ist. Verstehst du jetzt? Ich kann nicht einfach irgendwelche anderen aus dem Geschäft drängen, indem ich mehr ausliefere als sie, weil sie dann in Schwierigkeiten geraten, und ich gegen einen anderen ausgetauscht werden würde, der sich seinen Mitbewerbern gegenüber nicht so unfair verhält. Tja, es ist nicht mehr so wie früher, als ich noch jung und töricht war.«

Richard verschränkte die Arme. »Soll das etwa heißen, du bekommst Scherereien, wenn du gute Arbeit machst – genau wie ich?«

»Gute Arbeit! Wer will schon bestimmen, was gute Arbeit heißt? Alle müssen gemeinsam für das Wohl aller arbeiten. Das bedeutet gute Arbeit – wenn man seinen Mitmenschen hilft.«

Richard beobachtete zwei Männer, die ein gutes Stück entfernt einen Wagen mit Holzkohle beluden. »Du glaubst diesen hochtrabenden, sentimentalen Unfug doch nicht etwa wirklich, oder, Ishaq?«

Ishaq seufzte ausgiebig und leidgeprüft. »Richard, bitte belade den Wagen, sobald du bei der Gießerei eintriffst, fahr anschließend raus zum Ruhesitz und lade die Fuhre bei der Werkstatt des Schmieds ab. Bitte. Und sieh zu, dass du mir nicht unpässlich wirst, keinen schlimmen Rücken bekommst, und deine Kinder nicht mitten in der Fuhre krank werden. Ich bin nicht scharf darauf, den Schmied noch einmal hier zu sehen; es könnte sein, dass ich sonst mit einem Eisenbarren um den Hals schwimmen gehen muss.«

Richard entfuhr ein brummiges Lachen. »Meinem Rücken geht es ausgezeichnet.«

»Sehr gut. Ich lasse einen Fahrer herkommen, der den Wagen fahren wird.« Ishaq drohte Richard mit erhobenem Finger. »Und komm nicht auf die Idee, den Fahrer zu bitten, dir beim Auf- oder Abladen zu helfen. Wir können gern drauf verzichten, dass diese Art von Missstand bei der nächsten Versammlung zur Sprache gebracht wird. Ich musste Jori geradezu anflehen, dass er keine Beschwerde vorbringt, nachdem ich gebeten hatte, mir an jenem Tag, als es so geregnet hat und wir einen Radbruch hatten, beim Abladen zu helfen – an dem Tag, an dem du mir geholfen hast, die Ladung ins Lagerhaus zu schleppen – erinnerst du dich noch?«

»Ich erinnere mich noch.«

»Also, mach Jori bitte keine Schwierigkeiten. Und Finger weg von den Zügeln, das ist seine Arbeit. Wirst du dich zusammenreißen? Und dich darum kümmern, dass das Eisen aufgeladen und wieder abgeladen wird, damit der Schmied nicht noch einmal hier auftaucht?«

»Sicher, Ishaq. Ich werde dir keinen Ärger machen. Du kannst dich auf mich verlassen.«

»So ist es recht.« Ishaq wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um. »Auf der Farm gab es nicht so viele Schwierigkeiten, was?«

»Nein, die gab es nicht. Mittlerweile wünsche ich mir, ich wäre wieder dort.«

Er war noch nicht weit gekommen, als Ishaq sich abermals umdrehte. »Und vergiss bloß nicht, dich von deiner untertänigsten Seite zu zeigen, sobald du einen von diesen Priestern erblickst, hast du verstanden?«

»Priester? Was für Priester? Woran erkenne ich die?«

»Braunes Gewand und Kappen mit einem Kniff – sei unbesorgt, du wirst sie ganz bestimmt erkennen, sie sind ja nicht zu übersehen. Wenn du einen vor dir hast, leg deine besten Manieren an den Tag.

Sollte ein Priester auf die Idee kommen, dich der mangelhaften Einstellung gegenüber dem Schöpfer oder Ähnlichem zu verdächtigen, kann er dich foltern lassen. Die Priester sind die Jünger von Bruder Narev.«

»Bruder Narev?«

»Der Hohepriester der Bruderschaft des Ordens.« Ishaq fuchtelte ungeduldig mit den Armen. »Ich muss Jori holen gehen, damit er mit dem Wagen herkommt. Tu bitte, was ich dir sage, Richard. Dieser Schmied verheizt mich in seiner Esse, wenn ich ihm das Eisen heute nicht liefere.«

Richard bedachte Ishaq mit einem Lächeln, um seine Nerven zu beruhigen.

»Du hast mein Wort, Ishaq. Der Schmied wird sein Eisen bekommen.«

Ishaq tat einen schweren Seufzer, dann eilte er davon, um den Fahrer zu suchen.

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