63

Das vordere Ende der Feile geschickt mit den Fingerspitzen führend, ließ Richard das stählerne Werkzeug in einer einzigen fließenden Bewegung über den Faltenwurf des lebendig in weißem Marmor verewigten Stoffes gleiten. Ganz in seine Arbeit versunken, konzentrierte er sich darauf, einen gleichmäßigen Druck zu erzeugen, um eine präzise, hauchdünne Gesteinsschicht abzutragen.

Die Feile wies hunderte von Rillen auf, Reihe um Reihe winziger Klingen aus gehärtetem Stahl, die den edlen Stein abtrugen und ihm Gestalt verliehen. Es waren Klingen, die er mit derselben Hingabe und Entschlossenheit führte wie jede andere Klinge auch. Blindlings langte er hinter sich und legte die Feile auf die Holzbank, sorgfältig darauf bedacht, sie auf das Holz zu legen und nicht klirrend gegen eine der anderen Feilen zu stoßen, um sie nicht vorzeitig stumpf zu machen. Er tauschte die Feile gegen eine andere mit noch feineren Rillen aus und glättete die Rauheit, die die Korrektur mit der zuvor benutzten hinterlassen hatte.

Mit Fingern, ebenso staubig weiß wie die eines mit Mehl hantierenden Bäckers, untersuchte Richard die Oberfläche des Armes der männlichen Figur und prüfte sie auf Unebenheiten; vor der abschließenden Politur waren die kleineren Unebenheiten und Schleifflächen mit den Fingern oft leichter zu erkennen als mit dem Auge. Dort, wo er welche entdeckte, benutzte er eine kleinere, mit einer Hand geführte Feile, deren Bewegung er mit seiner anderen Hand über die Schwellung eines Muskels folgte, um den feinen Unterschied zu ertasten, den das Werkzeug auf dem Stein hinterließ. Mittlerweile entfernte er nur noch papierdünne Schichten Material.

Er hatte mehrere Monate gebraucht, um bis zu dieser allerletzten Schicht vorzudringen. Es war ein erregendes Gefühl, dem nackten Fleisch so nahe zu sein. In endloser Folge waren die mühevollen Arbeitstage einer nach dem anderen dahingegangen, während er unten auf der Baustelle tagsüber den Tod und des Nachts das Leben in Stein meißelte. Die Bildhauerei für den Orden fand ihr Gegengewicht in seiner Bildhauerei für sich selbst – ein Kontrast von Sklaverei und Freiheit.

Wann immer sich einer der Ordensbrüder nach der Statue erkundigte, war Richard sorgfältig darauf bedacht, sich seine Zufriedenheit mit dem, was er dort schuf, nicht anmerken zu lassen. Er tat dies, indem er sich jenes Modell ins Gedächtnis rief, das in Stein zu hauen man ihm aufgetragen hatte. Stets verneigte er respektvoll sein Haupt und erstattete über die Fortschritte bei seiner Buße Bericht, indem er versicherte, seine Arbeit liege im Plan und werde rechtzeitig fertig, um anlässlich der Weihung auf dem Vorplatz des Palastes aufgestellt zu werden.

Die Betonung des Begriffs ›Buße‹ half, ihre Überlegungen auf diesen Punkt zu lenken und fort von der eigentlichen Statue. Stets zeigten sich die Ordensbrüder weitaus zufriedener über die durch seine Plackerei bei seiner Büßerarbeit hervorgerufene Müdigkeit, als dass sie sich für irgendeine weitere in Stein gehauene Statue interessierten. Statuen standen überall herum, und auch diese war nur ein weiterer Beweis für die hoffnungslose Unzulänglichkeit des Menschen. So wie in ihrem Kosmos kein einzelner Mensch von Bedeutung war, so zählte auch kein einzelnes Werk der Kunst. Es war die schiere Masse von Statuen, die als überwältigender Beweis des Ordens für die Unzulänglichkeit des Menschen herhalten musste. Die Schnitzereien waren nichts weiter als die Kulisse jener Bühne, auf der die Ordensbrüder ihre Predigten über Aufopferung und Erlösung sprachen.

Stets erstattete Richard artig Bericht über seine Nächte mit wenig Essen und ebenso wenig Schlaf, in denen er nach seiner täglichen Arbeit als Bildhauer an seiner eigenen Kasteiung arbeitete. Da selbstlose Aufopferung das geeignete Mittel gegen Sündhaftigkeit war, zogen die Ordensbrüder stets erfreut wieder von dannen.

Richard ging zu einer noch kleineren, an den Seiten abgeflachten Feile über und bearbeitete den Muskel, dort, wo er sich zur Sehne verjüngte und, die Spannung des Armes wiedergebend, die darunter liegende Struktur sichtbar werden ließ. Über Tag beobachtete er andere Männer bei der Arbeit, um die vielschichtigen Formen der sich im lebenden Körper bewegenden Muskeln zu studieren. Nachts bediente er sich seiner eigenen Arme, die er in den Schein der Lampe hielt, um die sich stolz an der Oberfläche abzeichnenden Adern und Sehnen lebensnah wiedergeben zu können; manchmal griff er auch auf einen kleinen Spiegel zurück. Die von ihm in Stein gehauene Hautoberfläche glich einer vielgestaltigen Landschaft, die sich über Knochen und Muskeln zog, in den Winkeln Falten warf und sich straff über die Körperrundungen spannte.

Für den Körper der Frau war seine Erinnerung an Kahlan lebhaft genug, sodass kaum andere Bezüge nötig waren.

Man sollte seinem Werk die Fähigkeit, sich zu bewegen, zu absichtsvollem Handeln, zu Leistung ansehen können. Die Haltung der Figuren verhieß Bewusstheit. Der Ausdruck ihres Gesichts, insbesondere der Augen, würde die höchste Eigenschaft des Menschen offenbaren: die Fähigkeit zu denken.

Waren die Statuen, die er in der Alten Welt gesehen hatte, eine Verherrlichung des Elends und des Todes, so war diese eine Verherrlichung des Lebens.

In ihr sollte sich die unbändige Kraft des Willens offenbaren.

Der Mann und die Frau, die er in Stein meißelte, waren sein Schutz vor der Verzweiflung über seine Gefangennahme. Sie verkörperten die Freiheit des Geistes; sie verkörperten die sich im Triumph aufschwingende Vernunft.

Zu seinem großen Verdruss bemerkte Richard, dass Licht durch das Fenster über der Statue hereinfiel und die Lampen ablöste, die die ganze Nacht über gebrannt hatten. Die ganze Nacht über; jetzt war es ihm schon wieder passiert.

Dabei war es nicht etwa die von ihm bei weitem bevorzugte Qualität des Lichtes, die ihn ärgerte, sondern die Tatsache, dass dies das Ende seiner Zeit mit der Statue bedeutete; nun musste er hinunter zur Baustelle und Hässlichkeit in Stein meißeln. Glücklicherweise erforderte diese Arbeit weder Konzentration noch Sorgfalt.

Er war gerade dabei, den Schwung des Schultermuskels des Mannes mit der Feinfeile zu bearbeiten, als es an der Tür klopfte. »Richard?«

Es war Victor. Richard seufzte, denn jetzt musste er wohl oder übel seine Arbeit unterbrechen.

Richard zog des rote um seinen Hals geschlungene Tuch von Nase und Mund, das verhinderte, dass er all den Marmorstaub einatmete. Es war ein kleiner Trick, von dem Victor ihm erzählt hatte und den die Marmorbildhauer aus seiner Heimat Cavatura anwendeten.

»Komme gleich.«

Richard stieg von der Kante des Sockels herunter, aus dem er die Beine in Wadenmitte herausgemeißelt hatte. Als er seinen Rücken streckte, merkte er, wie sehr dieser von der ständig gebückten Haltung und dem Schlafmangel schmerzte. Er holte die Zelttuchplane und schüttelte den Staub heraus.

Unmittelbar bevor er die Abdeckung über die Statue warf, nahm er die Figuren in ihrer Gesamtheit auf. Fußboden, Regale und Werkzeug waren mit einer feinen Schicht aus Marmorstaub bedeckt. Der Marmor selbst aber sprang einem in dem von oben einfallenden Licht vor der dunklen Wand in seiner Pracht geradezu ins Auge.

Richard warf die Plane über die unvollendeten Figuren, dann ging er die Tür öffnen.

»Du siehst aus wie ein Gespenst«, verkündete Victor, ein schiefes Grinsen im Gesicht.

Richard klopfte sich ab. »Ich habe die Zeit aus den Augen verloren.«

»Hast du gestern Abend mal einen Blick in die Werkstatt geworfen?«

»In die Werkstatt? Nein, warum?«

Victors Grinsen kehrte zurück, noch breiter diesmal. »Gestern hat Priska das Bronzezifferblatt geliefert. Ishaq hat es gebracht. Komm, sieh es dir an.«

Das Zifferblatt lag, in mehrere Einzelteile zerlegt, im Lagerraum auf der anderen Seite der Werkstatt. Es war zu groß, als dass Priska es in einem Stück hätte gießen können, daher hatte er mehrere Teile angefertigt, die Victor zusammensetzen und montieren sollte. Der Sockel für den Halbring, der als Zifferblatt dienen würde, war massiv. Wissend, dass er für eine Statue bestimmt war, die Richard schuf, hatte Priska eine Arbeit abgeliefert, auf die er stolz sein konnte.

»Es ist wunderschön«, meinte Richard.

»Nicht wahr? Ich habe auch früher schon ausgezeichnete Arbeiten von ihm gesehen, aber diesmal hat Priska sich selbst übertroffen.«

Victor ging in die Hocke und strich mit den Fingern über die eigenartigen, mit schwarzer Farbe ausgefüllten Symbole. »Priska meinte, einst, vor langer Zeit, habe in seiner Heimatstadt Altur’Rang Freiheit geherrscht, die sie aber, wie so viele andere Städte auch, verloren habe. Als Kompliment an jene Zeit hat er es mit Symbolen in seiner Muttersprache versehen. Bruder Narev hat es bereits gesehen und war erfreut, da er sie für eine Respektsbezeugung an den Kaiser hielt, der ebenfalls aus Altur’Rang stammt.«

Richard seufzte. »Priskas Zunge ist ebenso aalglatt und geschliffen wie seine Gussstücke.«

»Möchtest du ein Stück Lardo mit mir essen?«, fragte Victor, sich erhebend.

Die Sonne war längst aufgegangen. Richard streckte seinen Nacken und blickte hinunter zur Baustelle.

»Besser nicht. Ich muss zur Arbeit.« Richard ging in die Hocke und hob eine Seite des Sockels an. »Aber lass mich dir vorher noch zeigen, wo dies hinkommen soll.«

Victor schnappte sich das andere Ende, woraufhin sie den Bronzeguss gemeinsam um die Werkstatt herumtrugen. Als Richard die Flügeltür aufstieß, sah Victor die Statue zum allerersten Mal, wenn auch noch verborgen unter der Plane, die nur die Rundungen der beiden Köpfe erkennen ließ. Dennoch weideten sich Victors Augen an ihr, Augen, denen deutlich anzusehen war, wie seine lebhafte Fantasie manches von dem, was unsichtbar blieb, mit seinen hoffnungsvollsten Erwartungen ergänzte.

»Du kommst gut voran mit deiner Statue?« Victor stieß Richard mit dem Ellbogen an. »Wird sie eine Schönheit?«

Ein freudiges Lächeln überkam Richard. »Nun, Victor, du wirst es früh genug mit eigenen Augen sehen. Die Weihung ist ja nur noch wenige Wochen entfernt, und bis dahin werde ich fertig sein. Sie wird unsere Herzen mit Musik erfüllen … bis sie mich umbringen, jedenfalls.«

Victor tat dieses Gerede mit einer heftigen Handbewegung ab. »Ich hoffe doch, sie werden zu schätzen wissen, endlich wieder so viel Schönheit zu Gesicht zu bekommen, noch dazu in ihrem eigenen Palast.«

Richard gab sich diesbezüglich keinen Illusionen hin. In diesem Augenblick fiel es ihm ein, und er griff in eine Tasche, zog ein Blatt Papier hervor und reichte es dem Schmied.

»Priska sollte auf der Rückseite des Zifferblatts keinen Text anbringen, weil ich nicht wollte, dass die falschen Leute ihn zu Gesicht bekommen. Ich möchte dich bitten, diese Worte in die rückwärtige Fläche zu gravieren, ungefähr in derselben Höhe wie die Symbole auf der Vorderseite.«

Victor nahm das Blatt entgegen und faltete es auseinander. Sein Grinsen erlosch, er hob den Kopf und sah Richard mit unverhohlener Überraschung an.

»Das ist Verrat.«

Richard zuckte mit den Achseln. »Sie können mich nur einmal umbringen.«

»Aber davor können sie dich lange foltern. Zumal sie über äußerst unangenehme Methoden verfügen, um Menschen umzubringen, Richard. Hast du je gesehen, wie ein Mann im Himmel begraben wird, während er noch lebt, aus tausenden von kleinen Wunden blutet und seine Hände gefesselt sind, damit die Geier sich an seinem lebendigen Fleisch weiden können?«

»Der Orden hat mir schon lange die Hände gebunden, Victor. Wenn ich dort unten arbeite und um mich herum nichts als Tod sehe, blute ich aus tausend Wunden. Die Geier des Ordens weiden sich längst an meinem Fleisch.« Entschlossen hielt Richard Victors Blick stand. »Wirst du es tun?«

Victor schaute abermals auf das Blatt Papier. Er atmete tief durch und langsam wieder aus, während er den Zettel in seiner Hand betrachtete. »Diese Worte mögen Verrat sein, aber sie gefallen mir. Ich werde es tun.«

Richard versetzte ihm einen Schlag gegen die Schulter und bedachte ihn mit einem zuversichtlichen Lächeln. »So ist es recht. Und jetzt pass auf, wo der Sockel angebracht werden soll.«

Richard hob die Plane gerade so weit an, dass man den Sockel sehen konnte. »Hier habe ich dir eine ebene Fläche gemeißelt, die genau im richtigen Winkel geneigt ist. Da ich nicht wusste, wo sich die Befestigungslöcher im Guss befinden werden, habe ich es dir überlassen, die Löcher zu bohren und für die Bolzen mit Blei zu füllen. Sobald du den Sockel angebracht hast, kann ich den Winkel der Fassung ausrechnen, die ich für den Zeiger bohren muss.«

Victor nickte. »Die Stange für den Sonnenuhrzeiger wird bald fertig sein. Ich werde dir für sie eine Bohrspitze in der passenden Größe anfertigen.«

»Gut. Und dazu eine Rundraspel für den Feinschliff der Fassung?«

»Sollst du bekommen«, sagte Victor, während sich beide erhoben.

Er deutete mit der Hand auf die abgedeckte Statue. »Du vertraust mir, dass ich keinen Blick riskiere, während du fort bist, um deine hässlichen Figuren zu meißeln?«

Richard lachte amüsiert. »Ich weiß, dass du dir nichts sehnlicher wünschst, als die Erhabenheit dieser Statue zu sehen, wenn sie erst einmal fertiggestellt ist, Victor. Dieses Erlebnis würdest du dir um keinen Preis nehmen lassen.«

Victor stimmte sein polterndes, aus dem Bauch kommendes Lachen an. »Vermutlich hast du Recht. Komm nach der Arbeit vorbei, dann essen wir zusammen ein Stück Lardo und unterhalten uns über in Stein gemeißelte Schönheit und über frühere Zeiten.«

Richard bekam kaum mit, was Victor sagte. Er starrte auf den Gegenstand, der ihm mittlerweile so vertraut war. Seinen Blicken war er verborgen, aber seiner Seele konnte er sich nicht entziehen.

Er war so weit, dass er mit dem Vorgang des Polierens beginnen konnte, um nacktes Fleisch in Stein wiederzugeben.


Den Kopf gesenkt, vor dem eisigen winterlichen Wind durch ihren Schal geschützt, eilte Nicci durch die schmale, enge Gasse. Ein ihr entgegenkommender Mann rempelte gegen ihre Schulter, nicht weil er es eilig hatte, sondern weil er einfach nicht darauf zu achten schien, wohin er lief. Nicci schleuderte einen zornentbrannten Blick in Richtung seiner leeren Augen, doch ihr wütender Blick versank in einem bodenlosen Abgrund aus Gleichgültigkeit.

Den Beutel mit Sonnenblumenkernen fester an ihren Körper gedrückt, setzte sie ihren Weg durch die morastige Gasse fort. Um nicht von anderen entgegenkommenden Passanten angerempelt zu werden, hielt sie sich dicht an die hölzernen Wände der Gebäude. Gegen die kurze Kälteperiode in wärmende Kleider gehüllte Menschen schoben sich auf der Suche nach einem Zimmer, nach etwas zu essen, nach Kleidung oder Arbeit durch die enge Gasse auf die dahinter liegende Straße. Jenseits der Gasse konnte sie Männer sehen, die, an die Häuserwände der gegenüberliegenden Straßenseite gelehnt, auf dem Boden hockten und leeren Blicks verfolgten, wie Wagen durch die Straßen ratterten, um Nachschub für den Palast des Kaisers zur Baustelle zu liefern.

Nicci war auf dem Weg zum Brotladen. Sie wollte Butter für Richards Brot besorgen. Er würde zum Abendessen nach Hause kommen – das hatte er fest versprochen. Sie wollte ihm eine ordentliche Mahlzeit vorsetzen, er musste schließlich essen. Er hatte ein wenig abgenommen, auch wenn dies lediglich dazu beitrug, dass sich sein muskulöser Körperbau auf verwirrende Weise noch deutlicher abzeichnete. Er glich einer Fleisch gewordenen Statue – ganz ähnlich den Statuen, die sie früher, vor langer Zeit, stets gesehen hatte.

Sie erinnerte sich, wie die Dienerinnen ihrer Mutter, als sie noch klein war, kleine Kuchen aus Sonnenblumenmehl gebacken hatten. Glücklicherweise hatte sie genug davon ergattern können, um ihm ein paar dieser Kuchen zu backen, und vielleicht würde sie sogar Butter bekommen, um sie damit zu bestreichen.

Niccis Besorgnis wuchs zusehends. Die Weihung sollte in wenigen Tagen stattfinden. Richard behauptete, seine Statue würde fertig sein; er schien diesbezüglich vollkommen ruhig, als hätte er so etwas wie seinen inneren Frieden gefunden.

Fast wirkte er wie ein Mann, der sich mit seiner bevorstehenden Hinrichtung abgefunden hatte.

Wann immer Richard mit ihr sprach, schien er trotz der Unterhaltung mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein, und in seinen Augen war jene Eigenschaft abzulesen, die sie so schätzte. In der Trostlosigkeit des Lebens, im Elend des Daseins, war dies die einzige Hoffnung, die ihr noch blieb. Die Menschen um sie herum warteten bloß noch auf den Tod. Allein in den Augen ihres Vaters, als sie noch klein war, und deutlicher noch jetzt in Richards Augen vermochte sie einen Beweis dafür zu erkennen, dass all dies die Mühe lohnte, dass das Dasein einen Sinn hatte.

Das leise Klackern von Kieselsteinen in einer Blechtasse ließ Nicci ihre Schritte bremsen und schließlich ganz stehen bleiben. Das Geräusch war das unverkennbare Rasseln ihrer eigenen Ketten. Ihr Leben lang war sie eine Dienerin der Bedürftigkeit gewesen, und so sehr sie sich auch mühte, hier war sie wieder, die Blechtasse eines armen Bettlers, die noch immer rasselnd um ihre Hilfe bat.

Sie brachte es nicht über sich, sie ihm zu verwehren.

Tränen traten ihr in die Augen. Sie hatte sich so sehr gewünscht, Richard Butter zu seinem Brot vorsetzen zu können, aber sie besaß nur einen einzigen Silberpfennig, und dieser Bettler hatte nichts. Wenigstens hatte sie ein wenig Brot und ein bisschen Sonnenblumenmehl. Wie konnte sie sich Butter für Richards Brot und Kuchen wünschen, solange dieser arme Schlucker völlig mittellos war?

Sie war sich bewusst, dass sie böse war, weil sie diesen Silberpfennig behalten wollte, jenen Silberpfennig, den Richard im Schweiße seines Angesichts mit harter Arbeit verdient hatte. Sie war böse, weil sie Butter für Richard damit kaufen wollte. Wer war Richard, dass er Butter verdient hatte? Er war kräftig. Er war arbeitsfähig. Warum sollte er mehr bekommen, während andere gar nichts hatten?

Nicci konnte fast sehen, wie ihre Mutter bitter enttäuscht den Kopf schüttelte, weil der Pfennig noch immer in Niccis Hand lag und nicht längst dem Mann aus seiner Not half.

Wie kam es, dass es ihr nie gelang, dem moralischen Vorbild ihrer Mutter gerecht zu werden? Wie kam es, dass es ihr nie gelang, ihre böse Natur zu überwinden?

Langsam drehte Nicci sich herum und ließ den Silberpfennig in den Becher des Bettlers fallen.

Die Menschen machten einen großen Bogen um den Bettler. Ohne ihn wirklich wahrzunehmen, vermieden sie es, in seine Nähe zu geraten, und waren taub für das Rasseln seines Bechers. Wie war es möglich, dass diese Menschen die Lehren des Ordens noch nicht begriffen hatten? Wie brachten sie es nur über sich, den Bedürftigen nicht beizustehen? Immer blieb ihr dies überlassen.

Schließlich schaute sie ihn an und schreckte vor dem Anblick dieses abscheulich aussehenden, in schmutzige Lumpen gehüllten Mannes zurück. Noch weiter zog sie sich zurück, als sie die Läuse durch seinen verfilzten, fettigen Haarwald springen sah. Durch einen Schlitz in den um sein Gesicht gewickelten Lumpen blinzelte er zu ihr hoch.

Das, was sie durch diesen Schlitz erblickte, war es schließlich, das ihr den Atem stocken ließ. Die Narben waren fürchterlich, gewiss, so als wäre sein Fleisch in den Feuern des Hüters selbst verschmort, aber es waren seine Augen, die sie packten, während er sich langsam erhob.

Die verdreckten Finger des Mannes legten sich wie ein Schraubstock um ihren Arm. »Nicci«, zischte er in einer Mischung aus Verdutztheit und Triumph, während er sie an sich zog.

Gefangen im Zugriff seiner kräftigen Finger und seines glühenden Funkelns, war sie unfähig, sich zu bewegen. Sie stand so nah, dass sie sehen konnte, wie seine Läuse auf sie übersprangen.

»Kadar Kardeef.«

»Ihr erkennt mich also wieder? Selbst in diesem Zustand?«

Weiter sagte sie nichts, doch offenbar war ihren Augen anzusehen, dass sie ihn für tot gehalten hatte, denn er beantwortete ihre unausgesprochene Frage.

»Erinnert Ihr Euch noch an das kleine Gör? Um das Ihr Euch scheinbar so fürsorglich gekümmert habt? Sie bedrängte die Bewohner der Stadt, mich zu retten. Sie weigerte sich, mir zu erlauben, über dem Feuer dort zu sterben, wo Ihr mich habt festbinden lassen. Sie hasste Euch so sehr, dass sie fest entschlossen war, mich zu retten. Ganz uneigennützig kümmerte sie sich aufopfernd um mich, um einen ihrer Mitmenschen, genau wie Ihr es den Stadtbewohnern befohlen habt.

Oh, ich wollte sterben. Nie hatte ich geahnt, dass ein Mensch so viele Schmerzen erleiden und trotzdem weiterleben kann. Aber so sehr ich meinen Tod auch herbeisehnte, ich habe überlebt, weil mein Wunsch nach Eurem Tod noch stärker war. Ihr habt mir das angetan. Ich möchte, dass der Hüter seine Fänge in Eure Seele schlägt.«

Nicci betrachtete ruhig seine bizarren Narben. »Und deshalb seid Ihr gekommen und sinnt auf Rache.«

»Nein, nicht deswegen. Sondern dafür, dass Ihr mich habt betteln lassen, als meine Männer es hören konnten. Dafür, dass Ihr zugelassen habt, dass andere Menschen hören, wie ich um mein Leben flehe. Aus diesem Grund haben sie mich gerettet – und aus Hass auf Euch. Dafür trachte ich nach Rache – dafür, dass Ihr mich nicht habt sterben lassen, dass Ihr mich zu diesem Leben als Monster verdammt habt, dem Frauen im Vorübergehen Pfennige in seinen Becher werfen.«

Nicci sah ihn aalglatt lächelnd an. »Nun, Kadar, falls Ihr sterben wollt, den Wunsch kann ich Euch zweifellos erfüllen.«

Er ließ ihren Arm los, als hätte er seine Finger daran verbrannt. Seine Fantasie verlieh ihr Kräfte, die sie nicht besaß.

Er spie sie an.

»Dann tötet mich doch, dreckige Hure. Schlagt mich tot.«

Nicci ließ ihr Handgelenk vorschnellen und brachte ihren Dacra zum Vorschein, eine messerähnliche Waffe, die die Schwestern bei sich trugen. Sobald der zugespitzte Stab in den Körper eines Opfers gebohrt wurde, ganz gleich an welcher Stelle, wurde dieses durch die Entfesselung ihrer Kräfte augenblicklich getötet. Kadar Kardeef wusste nicht, dass sie über keinerlei Kräfte verfügte; aber auch ohne ihre Kraft war der Dacra immer noch eine tödliche Waffe.

Klugerweise wich er einen Schritt zurück; er sehnte sich zwar nach dem Tod, fürchtete sich aber auch vor ihm.

»Warum geht Ihr nicht zu Jagang? Er hätte niemals zugelassen, dass Ihr zum Bettler werdet. Jagang war früher Euer Freund, er hätte sich um Euch gekümmert. Ihr hättet nicht betteln müssen.«

Kadar Kardeef lachte. »Das hätte Euch gefallen, was? Zu sehen, wie ich mich von den Resten von Jagangs Tafel ernähre. Wie gerne hättet Ihr an seiner Seite gesessen, die Königin der Sklaven, und hättet dabei zugeschaut, wie er mich so tief gesunken sieht und ich mit ansehen muss, wie Ihr mir Eure Krumen zuwerft.«

»Tief gesunken? Weil Ihr verwundet wurdet? Ihr seid beide schon früher verwundet worden.«

Er packte abermals ihr Handgelenk. »Für Jagang bin ich als Held gestorben. Er soll nicht erfahren, dass ich bettle wie einer jener schwächlichen Narren, die wir unter unseren Stiefeln zertreten haben.«

Nicci presste ihm den Dacra gegen den Bauch und drängte ihn damit zurück.

»Nur zu, tötet mich, Nicci.« Er breitete die Arme aus. »Bringt es zu Ende, wie Ihr es längst hättet tun sollen. Ihr habt doch noch nie ein Werk unvollendet gelassen. Schlagt mich tot, wie ich es schon lange hätte sein sollen.«

Wieder lächelte Nicci. »Der Tod ist keine Strafe. Jeder Tag, den Ihr lebt, kommt tausend Toden gleich. Aber das wisst Ihr doch inzwischen selbst, Kadar, oder etwa nicht?«

»War ich tatsächlich so ekelhaft zu Euch, Nicci? Hab ich mich so grausam gegen Euch benommen?«

Wie konnte sie ihm nur erklären, dass er genau dies getan hatte und wie sehr sie ihn dafür gehasst hatte, dass sie ihm als Leibeigene für sein Vergnügen zur Verfügung stehen musste? Es diente dem Wohl aller, wenn der Orden sich Männern wie Kadar Kardeef bediente. Wie konnte sie es wagen, sich selbst und ihre eigensüchtigen Interessen über das Wohl der Menschheit zu stellen?

Nicci machte kehrt und hastete die Gasse hinunter.

»Danke für den Pfennig!«, rief er ihr spöttisch nach. »Ihr hättet mir meine Bitte erfüllen sollen! Das hättet Ihr wirklich, Nicci!«

Nicci wollte nichts weiter als nach Hause und sich die Läuse aus den Haaren schrubben, denn sie spürte bereits, wie sie sich in ihre Kopfhaut gruben.

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