Verna zog die Kerze heran. Einen Augenblick lang wärmte sie sich die Hände über ihr, dann legte sie das Reisebuch auf den Tisch. Die Geräusche des Armeelagers draußen vor ihrem kleinen Zelt waren ihr mittlerweile so vertraut, dass sie sie kaum noch wahrnahm.
Es war eine kalte d’Haranische Winternacht, aber wenigstens waren sie und all die Menschen, denen sie geholfen hatten, jenseits des Gebirges in Sicherheit. Verna hatte Verständnis für ihre stille Besorgnis: Dieses D’Hara war ein unbekanntes und rätselhaftes Land, ein Land, das einst nichts als eine Quelle von Albträumen war. Zumindest vorübergehend waren sie in Sicherheit. In der Ferne hallte das langgezogene, wehmütige Geheul der Wölfe durch das frostkalte Gebirge, zurückgeworfen von dem mondbeschienenen Schnee, der die scheinbar endlosen, einsamen und gewaltigen Hänge bedeckte.
Der Mond stand in der richtigen Phase, selbst wenn es der Mond in einem neuen Land war, einem fremden und unbekannten Land. Monatelang hatte Verna immer wieder nachgesehen, doch nie war eine Nachricht da gewesen. Im Grunde erwartete sie auch keine mehr, schließlich hatte Kahlan Anns Reisebuch, das Gegenstück, ins Feuer geworfen. Aber trotzdem war es ein Reisebuch, ein uralter magischer Gegenstand, und Ann war eine Frau, die sich zu behelfen wusste.
Ohne sich wirklich Hoffnungen zu machen, klappte Verna das kleine Buch auf.
Dort, gleich auf der ersten Seite, stand eine Nachricht.
Ihr Text lautete schlicht: Verna, ich warte, falls du da bist.
Verna zog den Stift aus dem Buchrücken und begann sofort zu schreiben. Prälatin! Ihr konntet das beschädigte Reisebuch reparieren? Das ist wunderbar. Wo seid Ihr? Habt Ihr Nathan gefunden?
Verna wartete. Kurz darauf begann sich die Antwort abzuzeichnen.
Verna, es geht mir gut. Es ist mir gelungen, das Reisebuch mit Hilfe einiger … Leute wiederherzustellen, einiger seltsamer Leute. Das Wichtige ist jedoch, dass es überhaupt wiederhergestellt ist. Nach dem Propheten suche ich noch immer. Ich bin im Besitz einiger brauchbarer Hinweise bezüglich seines Aufenthaltsortes, denen ich zurzeit nachgehe. Aber wie geht es dir, Verna? Wie steht es um den Krieg? Was machen Warren und Kahlan? Bereitet dir Zedd viel Ärger? Der Mann kann die Geduld von Steinen auf die Probe stellen. Hast du Nachricht von Richard?
Verna starrte auf die Worte auf der Seite; eine Träne fiel neben Warrens Namen. Sie nahm den Stift abermals zur Hand und setzte bedächtig zu ihrer Antwort an.
Ach, Prälatin, es haben sich einige entsetzliche Dinge zugetragen.
Das tut mir Leid, Verna , erfolgte die Antwort. Ich bin hier, Verna. Ich habe nicht die Absicht, heute Abend noch fortzugehen. Nimm dir alle Zeit, die du benötigst, und erzähle mir, was geschehen ist. Aber zuerst sage mir, wie es dir geht. Ich mache mir solche Sorgen um dich. Ich liebe dich wie eine Tochter, Verna, das weißt du.
Verna saß nickend über dem Buch. Das wusste sie tatsächlich.
Und ich liebe Euch, Prälatin , setzte Verna an. Ich fürchte, es hat mir das Herz gebrochen.
In der lauen mittäglichen Brise stand Kahlan schweigend neben ihm, während Richard über den Fluss hinausblickte, auf die dahinter liegende Stadt. Inzwischen war wieder Frieden in der Stadt eingekehrt. Wochenlang hatten die Kämpfe getobt, verschiedene Parteien, die es danach gelüstete, die neue örtliche Inkarnation des Ordens zu werden, hatten um die Macht gerungen, eine jede hatte feierlich versichert, nur das beste Wohl des Volkes im Sinn zu haben, hatte geschworen, in der Ausübung ihrer Herrschaft Mitgefühl walten zu lassen, hatte gelobt, das Leben werde unter ihrem Mandat leichter werden, da sie alle Begüterten auf einen Beitrag zum Wohl der Allgemeinheit verpflichten wolle.
Nach Jahrzehnten dieser altruistischen Tyrannei waren Verfall und Tod das einzige Ergebnis dieses Geschäfts mit dem Allgemeinwohl. Obwohl sich die Beweise auf den Friedhöfen häuften und das Volk völlig verarmt war, hatten diese Kandidaten für die Macht stets nur mehr des immer Gleichen zu bieten, und noch immer glaubten ihnen viele einfach deswegen, weil sie so hehre Absichten von sich gaben.
Es war zwar eine große Zahl von Ordensbrüdern und Beamten getötet worden, dennoch hatten einige fliehen können. Einige von denen, die nicht geflohen waren, glaubten, die allgemeine Verwirrung nutzen und, in der Annahme, sie könnten den Hunger nach Freiheit und den Ideen der Lockerung zügeln und die Dinge wieder so einrichten wie zuvor, die Macht an sich reißen zu können.
Die freien Bewohner von Altur’Rang, deren Zahl mit jedem Tag wuchs, machten jeder dieser Parteien ein Ende, sobald sie aus ihrem Loch hervorgekrochen kam. Nicci hatte sich in den blutigen Auseinandersetzungen als große Hilfe erwiesen. Sie war mit den Methoden dieser Leute vertraut, wusste, wo sie sich verkrochen, und fiel über sie her wie ein Wolf über widerwärtiges Kleingetier.
Schließlich begannen jene Kräfte, die es danach gelüstete, das Wohlergehen und die Besserung der Menschheit zu überwachen, ebenjene Frau zu fürchten, die sie im Grunde einst selbst erschaffen hatten: die Herrin des Todes.
Noch ließ sich unmöglich sagen, ob die einmal entzündete Flamme der Freiheit sich über die gesamte Alte Welt ausbreiten würde. Sie war noch ein sehr zartes Licht in einer weiten, dunklen Welt, doch Richard wusste, dass gerade eine solche Flamme oft umso heller strahlte.
Weiter oben im Norden standen die Dinge nicht so günstig. Jetzt, da Nicci ihre Magie zurückgezogen hatte, vermutete Richard, dass die D’Haraner wussten, wo er sich befand, und ihm Nachrichten schicken würden. Cara war ungemein erleichtert, dass sie seinen Aufenthaltsort wieder über ihre Bande spüren konnte.
Ruhig hatte er zugehört, als Kahlan und Cara ihm den Krieg in allen Einzelheiten geschildert hatten, und wie sie die Bevölkerung Aydindrils auf ihren langen und beschwerlichen Marsch nach D’Hara gebracht hatten, bevor Jagang im nächsten Frühjahr in die Stadt einmarschieren konnte. Zu wissen, dass Lord Rahl einen mächtigen Schlag gegen die Alte Welt geführt hatte, dass die Mutter Konfessor bei ihm weilte und sie beide wohlauf waren, würde ihnen neuen Mut machen. Mehrere Männer hatten darum ersucht, diese unschätzbaren Neuigkeiten in den Norden des Landes bringen zu dürfen.
Schon bald würden das D’Haranische Reich und die Menschen unter seinem Schutz, die aus ihren Heimen hatten fliehen müssen, von dem Sieg im Süden erfahren. Tatsächlich würden die Boten etwas weitaus Wertvolleres als diese Nachricht bei sich tragen: In Wirklichkeit waren sie Überbringer der Hoffnung.
Die gleiche Nachricht hatte Richard auch seinem Großvater zukommen lassen.
Er konnte kaum glauben, dass sein Freund Warren nicht mehr lebte. Der entsetzliche Schmerz, das wusste er, würde nur langsam abklingen.
Und Richard hatte noch etwas anderes nach Norden geschickt.
Nicci hatte ihm von Bruder Narevs Bedeutung für Jagang erzählt, von ihrer langen gemeinsamen Geschichte und von ihren gemeinsamen Visionen über die Zukunft der Menschheit. Im Frühjahr, wenn Jagang endlich im Triumph in den Palast der Konfessoren einzog, würde ihn dort, noch vor seinem sinnlosen Sieg, auf einer Lanze der Kopf seines Freundes und Ratgebers erwarten, gekrönt mit seiner geknifften Kappe.
Nicci hatte einen Bann um ihn herum geflochten, um ihn zu konservieren und Aasfresser fern zu halten. Richard wollte sichergehen, dass Jagang, wenn er ihn schließlich erblickte, keinem Irrtum bezüglich seiner Identität erlag.
In die übervolle Stadt Altur’Rang hatte wieder Frieden Einzug gehalten, und mit ihm die Freiheit. Das Leben war zurückgekehrt. Die Menschen hatten begonnen, neue Geschäfte zu eröffnen. Bereits innerhalb weniger Wochen war eine Vielfalt von Brotsorten erhältlich. Tag für Tag nahmen neue Unternehmen ihren Betrieb auf. Ishaq verdiente sich mit dem Transport von Gütern ein Vermögen, hatte aber bereits Konkurrenten, die mit ihm um Aufträge wetteiferten. Nabbi hatte bei ihm Arbeit gefunden.
Faval, der Köhler, hatte Ishaq gebeten, er möge Richard bitten, ihn zu besuchen und mit ihm und seiner Familie zu Abend zu speisen. Faval hatte einen Karren angeschafft, und seine Söhne lieferten nun Holzkohle aus.
Die Unterarme auf das Geländer am Ende des Piers gestützt, blickte Richard über den Rand hinunter in das strudelnde Wasser, so als versuchte er zu ergründen, was die Zukunft bergen mochte.
Die in den Fluss hineinreichenden Landungsbrücken, der Steg auf ihnen sowie der Vorplatz waren ungefähr alles, was von dem Palast geblieben war. Richard hatte veranlasst, die Bannformen überall auf dem Gelände von den Säulen zu entfernen, und sie von Priska einschmelzen lassen.
Richard hatte weitgehend wieder zu seiner alten Stärke zurückgefunden. Kahlan war stark und ebenso schön wie in seiner Erinnerung, aber sie hatte sich verändert. In dem einen Jahr, das sie getrennt gewesen waren, war sie reifer im Gesicht geworden. Wenn er sie ansah, spürte er das Verlangen nach einem Stück Marmor und Meißeln, um ihr Gesicht in Stein wiedergeben zu können.
Fleisch, in Stein wiedergegeben.
Er wandte sich herum und schaute den Pier entlang zurück zum Vorplatz mit dem dahinter liegenden Halbrund aus Säulen. Die umgestürzte Säule war wieder aufgerichtet worden; den Vorplatz hatte man in ›Platz der Freiheit‹ umbenannt; es war Victors Idee gewesen. Richard hatte ihn gefragt, ob er nicht besser ›Sternplatz der Freiheit‹ hieße, da dieser Begriff eher an einen runden Platz erinnere als der Oberbegriff ›Platz‹. Victor fand, einfach ›Platz der Freiheit‹ klinge besser, und so hatte Richard ihn offiziell getauft. Schließlich war Victor der Erste gewesen, der sich dort zum freien Menschen erklärt hatte.
Kahlan schaute mit ihm zurück zum Vorplatz.
»Was denkst du?«, fragte Richard sie.
Sie schüttelte den Kopf und wirkte höchstens ein wenig so, als wäre ihr unbehaglich zumute. »Ich weiß nicht, Richard. Die Vorstellung, sie … so groß zu sehen, erscheint mir seltsam. Und so … weiß.«
»Gefällt sie dir nicht?«
Sie legte ihm rasch eine Hand auf den Arm, um diesen Eindruck zu zerstreuen. »Nein, das ist es nicht, es ist einfach, dass sie dann so…« – ihr unsicherer Blick richtete sich wieder auf den Pier – »übergroß sein wird.«
In der Mitte des Vorplatzes, wo für kurze Zeit die von Richard erschaffene Statue gestanden hatte, erhob sich jetzt eine hohe Marmorstatue, an der mehrere Bildhauer arbeiteten, die früher auf der Baustelle damit beschäftigt gewesen waren, Elend und Tod in Stein zu schlagen. Kamil war ebenfalls dort unten und erlernte das Handwerk der Bildhauerei von Meistern; begonnen hatte er seine Ausbildung mit einem Besen in der Hand.
Richard hatte die Bildhauer persönlich eingestellt. Mit dem kleinen Vermögen, das er sich verdient hatte, als er dem Orden beim Errichten des Palastes half, konnte er sich das ohne Weiteres leisten. Die Bildhauer waren froh über diese Arbeit – endlich konnten sie für ihren Lohn einen Gegenwert schaffen.
Die Meisterbildhauer arbeiteten an der maßstabgetreuen Vergrößerung jener kleine Statuette mit dem Titel Seele , die Richard für Kahlan in ihrem Heim in den Bergen angefertigt hatte, als sie so dringend den Anblick von Lebendigkeit, Tapferkeit und unbezwingbarem Lebensmut gebraucht hatte. Jetzt entstand sie ein zweites Mal – aus feinstem Cavaturamarmor.
Der Bronzering der Sonnenuhr hatte unbeschädigt überlebt und sollte dem Werk beigefügt werden. Die sich in der Mitte erhebende Statue würde ihren Schatten auf das geschwungene Zifferblatt werfen; die Worte, die so viele an jenem Tag berührt hatten, würden jetzt für alle sichtbar sein.
Kahlan war von der Idee begeistert gewesen, aber sie hatte so viele Monate mit der Schnitzerei, die Richard angefertigt hatte, zugebracht, dass es für sie verwirrend war, sie in dieser monumentalen Größe vor sich zu sehen. Sie konnte kaum den Tag erwarten, da die Bildhauer mit der maßstabgetreuen Vergrößerung fertig sein und sie ihre Seele zurückbekommen würde.
»Ich hoffe, es macht dir nichts aus, sie mit aller Welt zu teilen«, sagte er.
Kahlan lächelte versonnen. »Aber nein, überhaupt nicht.«
»Alle sind ganz begeistert von ihr«, versicherte er ihr.
Ihr wundervolles fröhliches Lachen wurde von der warmen nachmittäglichen Luft davongetragen. »Nur werde ich mich wohl daran gewöhnen müssen, mich mit Leib und Seele in aller Öffentlichkeit zur Schau zu stellen.«
Gemeinsam sahen sie zu, wie die an den fließenden Gewändern arbeitenden Bildhauer ihr Werk mit Hilfe von Greifzirkeln mit der von Richard geschnitzten Statuette und den Bezugspunkten auf den für die Vergrößerung benutzten hölzernen Verstrebungen verglichen.
Kahlan streichelte ihm den Rücken. »Wie fühlst du dich?«
»Ausgezeichnet. Jetzt, da du bei mir bist, könnte es mir nicht besser gehen.«
Kahlan lachte. »Solange ich dich nicht mit einem Schwert durchbohre?«
Richard stimmte ganz ungezwungen in ihr Lachen ein. »Weißt du, wenn wir unseren Kindern erzählen, wie ihre Mutter ihren Vater mit einem Schwert durchbohrte, wird das ein ziemlich schlechtes Licht auf dich werfen.«
»Werden wir Kinder haben, Richard?«
»Ja, das werden wir.«
»Dann werde ich es riskieren, die Geschichte zu erzählen.«
Als die warme Brise ihr Haar zauste, gab er ihr einen Kuss auf die Stirn.
Richard blickte an der Baumreihe entlang, deren Blätter im Sonnenschein flimmerten, und beobachtete die Vögel, die über dem Flussufer ihre Kapriolen schlugen, sich zu einer Schar zusammenfanden, um schließlich gemeinsam in großer Höhe über das Halbrund aus Marmorsäulen auf der weiten grünen Rasenfläche hinwegzusegeln.
Zufrieden lehnte Kahlan sich an seine Schulter, während sie den Handwerkern zusahen, die, erfüllt von Stolz, frohen Mutes an der Statue arbeiteten, die vor diesen Säulen entstehen sollte.
Altur’Rang würde eine neue Seele bekommen.
Im ehemaligen Herz des Ordens war jetzt endlich die Freiheit eingezogen.