29

»Herein«, antwortete Zedd brummig auf das hartnäckige Räuspern draußen vor seinem Zelt.

Er schüttete gerade Wasser aus der Kanne in den verbeulten, auf einem abgesägten Baumstamm stehenden Metallkopf, der ihm als Waschschüssel diente. Als er sich einen Teil des Wassers ins Gesicht klatschte, entfuhr ihm ein lautes Stöhnen. Er war erstaunt, dass derart kaltes Wasser sich überhaupt noch gießen ließ.

»Guten Morgen, Zedd.«

Immer noch nach Atem ringend, wischte Zedd sich das eiskalte Wasser aus den Augen und blinzelte Warren an. »Guten Morgen, mein Junge.«

Warren errötete. Zedd ermahnte sich, jemanden, der doppelt so alt war wie er, vielleicht besser nicht mit ›Junge‹ anzureden; dabei war Warren selber schuld. Wenn der Junge doch endlich nicht mehr ganz so jung aussehen würde! Zedd bückte sich stöhnend, um in dem Durcheinander aus Landkarten, schmutzigen Tellern, rostigen Zirkeln, leeren Bechern, Decken, Hühnerknochen, Seilresten und einem Ei, das ihm Wochen zuvor mitten in einer Unterrichtsstunde abhanden gekommen war, sowie anderem Krimskrams, der sich mit der Zeit in der Ecke seines kleinen Feldzelts zu sammeln schien, nach einem Handtuch zu suchen.

Derweil verdrehte Warren sein purpurrotes Gewand an seiner Hüfte zu einem kleinen Knäuel. »Ich komme gerade aus Vernas Zelt.«

Zedd unterbrach sein Gewühle und sah über seine Schulter.

»Gibt es Neuigkeiten?«

Warren schüttelte seine blonden Locken. »Tut mir Leid, Zedd.«

»Nun«, meinte Zedd mit einem Anflug von Spott in der Stimme, »das will überhaupt nichts heißen. Die alte Dame hat mehr Leben als die Katze, die ich einst mein Eigen nannte; sie wurde von einem Blitz getroffen und fiel in einen Brunnen, und das alles am selben Tag. Habe ich dir übrigens schon von dieser Katze erzählt, mein Junge?«

»Ja, das hast du allerdings.« Warren musste schmunzeln. »Aber wenn du möchtest, es würde mir nichts ausmachen, es noch einmal zu hören.«

Zedd tat die Geschichte mit einer matten Handbewegung ab und wurde ernster. »Ann geht es gut, da bin ich völlig sicher. Verna kennt Ann besser als ich, aber selbst ich weiß, dass es überaus schwer ist, der alten Dame ein Haar zu krümmen.«

»Verna hat sich ganz ähnlich geäußert.« Warren lächelte bei sich. »Ann könnte ein Gewitter jederzeit mit einem finsteren Blick hinter den Horizont zurückjagen.«

Zedd gab ihm brummend Recht und nahm sein Gewühle in dem Müllhaufen wieder auf. »Zäher als schlechtes Fleisch, die Gute.« Er warf zwei längst veraltete Karten hinter sich.

Warren beugte sich ein Stück vor. »Was suchst du eigentlich, wenn ich fragen darf?«

»Mein Handtuch. Ich weiß, ich hatte es noch…«

»Dort drüben«, sagte Warren.

Zedd sah auf. »Was?«

»Dein Handtuch.« Warren deutete abermals darauf. »Gleich dort drüben auf der Stuhllehne.«

»Oh.« Zedd schnappte sich das verirrte Handtuch und trocknete sich das längst trockene Gesicht ab. Er bedachte Warren mit einem finsteren Blick. »Du hast die Augen eines Einbrechers.« Damit warf er das Handtuch zu all den anderen Dingen auf den Haufen, wo es hingehörte.

Warrens Grinsen kehrte zurück. »Ich nehme das als Kompliment.«

Zedd legte den Kopf horchend auf die Seite. »Hast du das gehört?«

Warrens Grinsen erlosch, als er zusammen mit Zedd auf die Geräusche draußen lauschte. Pferde klapperten über den harten Untergrund, Soldaten gingen sich unterhaltend am Zelt vorbei, andere riefen Befehle, man hörte das Knacken von Lagerfeuern, das Ächzen der Karren und das Rasseln und Scheppern von Gerät.

»Gehört? Was denn?«

Ein vager Ausdruck des Unbehagens zeigte sich auf Zedds Gesicht. »Ich weiß nicht. Vielleicht ein Schrei.«

Warren deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Ab und an pfeifen die Soldaten, um die Pferde auf sich aufmerksam zu machen. Manchmal lässt sich das nicht vermeiden.«

Alle taten ihr Möglichstes, um Pfeifen und anderen Lärm so gering wie möglich zu halten. Vor allem Pfiffe trugen weit in diesem offenen Gelände. Natürlich war es schwierig, ein Feldlager von der Größe des d’Haranischen Heers zu übersehen, deshalb wurde das Lager von Zeit zu Zeit verlegt, um zu verhindern, dass der Feind sich ihrer Position allzu sicher sein konnte. Geräusche verrieten mehr, als ihnen lieb sein konnte.

Zedd schüttelte den Kopf. »Das muss es wohl gewesen sein. Irgendein lang gezogener Pfiff.«

»Trotzdem, Zedd«, fuhr Warren fort. »Ann hätte Verna längst eine Nachricht schicken müssen.«

»Es gab Zeiten, während ich mit Ann zusammen war, als sie keine Nachrichten abschicken konnte.« Zedd machte eine ausladende Armbewegung. »Verdammt, es gab einmal eine Zeit, da habe ich ihr verboten, dieses verflixte Reisebuch zu benutzen. Bei dem Ding überläuft es mich eiskalt. Keine Ahnung, warum sie nicht einfach Briefe schreiben kann wie andere Leute auch.« Er wusste, dass ihm sein Kummer ins Gesicht geschrieben stand. »Diese verflixten Reisebücher. Nur faule Menschen bedienen sich solcher Methoden. Ich bin zum Obersten Zauberer aufgestiegen, ohne jemals ein Reisebuch zu benutzen.«

»Sie könnte es verloren haben. Zumindest deutete Verna so etwas an.«

Zedd hob einen Finger. »Stimmt, möglich wäre das durchaus. Es ist klein – es könnte ihr aus dem Gürtel gerutscht sein, und sie hat es erst bemerkt, als Alessandra das Lager aufschlug. In diesem Fall wird sie das Buch nie wiederfinden.« Er schwenkte den Finger. »Was ich immer sage, man sollte sich niemals auf diese kleinen Tricks der Magie verlassen. Das macht einen nur bequem.«

»Dasselbe dachte Verna auch, dass es ihr aus dem Gürtel gerutscht sein könnte, meine ich.« Warren lachte amüsiert in sich hinein. »Vielleicht hat es auch eine Katze gefressen.«

Zedd musterte Warren argwöhnisch unter einer tief zerfurchten Stirn hervor. »Eine Katze? Was für eine Katze?«

»Irgendeine halt.« Warren räusperte sich. »Ich wollte damit nur sagen … ach, schon gut. Im Scherzemachen war ich nie sehr geschickt.«

Zedds runzelige Stirn glättete sich. »Ah, verstehe. Eine Katze könnte es gefressen haben. Ja, jetzt verstehe ich.« Er verstand keineswegs, trotzdem zwang sich Zedd dem Jungen zuliebe zu einem amüsierten Lächeln. »Ganz hervorragend, Warren.«

»Wie auch immer, vermutlich hat sie es verloren. Wahrscheinlich ist etwas so Einfaches der Grund.«

»In diesem Fall«, überlegte Zedd, »wird sie voraussichtlich herkommen, um uns mitzuteilen, dass sie wohlauf ist, oder wenigstens einen Brief oder einen Boten schicken. Noch wahrscheinlicher ist, dass sie uns überhaupt nichts mitzuteilen hatte und einfach keine Notwendigkeit sah, mit Hilfe ihres Reisebuches eine Nachricht abzuschicken.«

Warren machte ein skeptisches Gesicht. »Aber wir warten jetzt schon einen Monat auf Nachricht von ihr.«

Zedd machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nun, das Letzte, was wir hörten, war, dass sie sich weit oben im Norden befindet, ganz in der Nähe von Richard und Kahlan. Wenn sie das Buch tatsächlich verloren hat und von dort unverzüglich hierher aufgebrochen ist, wird sie frühestens in ein oder zwei Wochen hier eintreffen. Ist sie aber zuerst weitergereist, um Richard zu besuchen, wird es länger dauern, könnte ich mir vorstellen. Ann ist nicht besonders gut zu Fuß, musst du wissen.«

»Ich weiß«, erwiderte Warren. »Sie wird langsam alt, aber unter anderem deshalb bin ich ja so besorgt.«

Was Zedd tatsächlich Sorgen machte, war der Umstand, dass das Reisebuch just in dem Augenblick verstummt war, als sie im Begriff war, sich mit Richard und Kahlan in Verbindung zu setzen. Zedd hatte erwartungsvoll darauf gehofft zu hören, dass Richard und Kahlan in Sicherheit seien, Kahlan wieder vollständig genesen, vielleicht sogar, dass Richard bereit sei, zurückzukehren. Ann wusste, wie ungeduldig sie auf Nachrichten warteten, und hätte gewiss etwas zu berichten gehabt. Es behagte Zedd ganz und gar nicht, dass das Reisebuch ausgerechnet in diesem Augenblick verstummt war. Kein bisschen.

Das Ganze weckte in ihm das Bedürfnis, sich zu kratzen, als wäre er von einer weißen Mücke gestochen worden.

»Sieh mal, Warren, einen Monat nichts von ihr zu hören ist keine ungewöhnlich lange Zeit, früher lagen oft mehrere Wochen zwischen ihren Nachrichten. Es ist noch zu früh, um sich vor Sorge verrückt zu machen. Außerdem haben wir unsere eigenen Sorgen, die unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.«

Zedd hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie hätten unternehmen können, falls Ann tatsächlich irgendwo in Schwierigkeiten war. Sie wusste ja nicht einmal, wie sie sie hätten finden sollen.

Warren ließ kurz ein reumütiges Lächeln sehen. »Du hast Recht, Zedd.«

Zedd verschob eine Karte und entdeckte darunter einen halben, vom Vorabend übrig gebliebenen Laib Brot. Er biss ein Stück ab und verschaffte sich so eine Ausrede, zu kauen statt zu reden. Beim Reden, so befürchtete er, hätte er nur das wahre Ausmaß seiner Sorge nicht nur um Ann, sondern auch um Richard und Kahlan verraten.

Warren war ein fähiger Zauberer und so ziemlich der aufgeweckteste Mensch, dem Zedd jemals begegnet war. Oft fiel es Zedd schwer, ein Gesprächsthema zu finden, das Warren noch unbekannt war, beziehungsweise in dem er sich nicht längst bis ins Detail auskannte. Es hatte etwas Erfrischendes, Kenntnisse mit jemandem auszutauschen, der bei der Erwähnung esoterischer Fragen der Magie, die niemand sonst verstand, wissend nickte, mit jemandem, der in der Lage war, die kleinen Wissenslücken in dem einen oder anderen Bann zu füllen, oder der Vergnügen daran fand, sich seine eigenen Wissenslücken von Zedd auffüllen zu lassen. Warren hatte mehr über Prophezeiungen in seinem Gedächtnis abgespeichert, als in Zedds Augen von Rechts wegen überhaupt jemand darüber wissen durfte.

Warren war eine faszinierende Mischung aus einem halsstarrigen alten Mann und einem unerfahrenen jungen Burschen, einerseits festgefahren, dabei zugleich auf völlig offene, grenzenlose und naive Weise neugierig.

Sobald aber von Richards Vision die Rede war, verstummte Warren augenblicklich; gewöhnlich nahm sein Gesicht dann einen leeren Ausdruck an, und er saß kommentarlos daneben, während die anderen darüber stritten, was Richard in seinen Briefen geschrieben hatte, und ob dies stichhaltig sei. Jedes Mal, wenn Zedd ihn allein antraf und sich erkundigte, wie er darüber dachte, antwortete Warren nur: »Ich folge Richard; er ist mein Freund, und er ist der Lord Rahl.« Warren weigerte sich, über die Anweisungen zu debattieren, die Richard der Armee gab – oder genauer: über Richards Weigerung, solche Anweisungen zu geben. Soweit es Warren betraf, hatte Richard seine Befehle längst erteilt, und die galt es zu befolgen und nicht zu zerreden.

Zedd bemerkte, dass Warren abermals sein Gewand zu einem Knäuel verdrehte. Mit seinem Brot herumfuchtelnd, sagte er: »Du siehst aus wie ein Zauberer, der lauter juckende Banne in der Hose sitzen hat. Möchtest du vielleicht irgend etwas loswerden, Warren?«

Warren grinste verlegen. »Sieht man mir das so deutlich an?«

Zedd versetzte dem Jungen einen Klaps auf den Rücken. »Keineswegs, Warren, ich bin nur so gut.«

Zedds Scherz brachte Warren zum Lachen. Zedd deutete mit dem Stück Brot auf den Segeltuchstuhl. Warren drehte sich nach dem Stuhl um, schüttelte jedoch den Kopf. Zedd vermutete, dass es um etwas Wichtiges gehen musste, wenn Warren das Bedürfnis hatte, es im Stehen anzusprechen.

»Was glaubst du, Zedd, wird die Imperiale Ordnung, jetzt da der Winter vor der Tür steht, angreifen oder bis zum Frühling warten?«

»Ja nun, das steht immer zu befürchten, die Ungewissheit schnürt einem den Magen zusammen. Andererseits habt ihr alle hart gearbeitet. Ihr habt alle trainiert und geübt und werdet ausgezeichnet damit fertig werden, Warren. Die Schwestern übrigens auch.«

Zedds Worte schienen Warren überhaupt nicht zu interessieren; sich an der Schläfe kratzend, wartete er ab, bis er mit Sprechen an der Reihe war.

»Ja, sicher. Danke, Zedd. Wir haben wirklich alle hart gearbeitet.«

»Nach Ansicht von General Leiden ist der Winter derzeit unser bester Verbündeter. Er, seine keltonischen Offiziere wie auch einige der D’Haraner glauben, dass Jagang nicht so tollkühn sein wird, einen Feldzug gerade jetzt, bei Wintereinbruch, zu beginnen. Kelton liegt nicht übermäßig weit nördlich von hier, General Leiden ist also mit den Schwierigkeiten eines Winterkrieges in dem Gebiet, in das wir uns zurückziehen würden, bestens vertraut. Er ist überzeugt, die Imperiale Ordnung wird bis zum Frühling warten.«

»General Leiden mag ein fähiger Mann und General Reibischs Stellvertreter sein«, fuhr Zedd in gleichmütigem Tonfall fort, während er Warrens blaue Augen beobachtete, »trotzdem bin ich mit ihm nicht einer Meinung.«

Warren nickte niedergeschlagen. »Oh.«

Auf General Reibischs Bitte hatte der General seine keltonischen Divisionen zur Verstärkung der d’Haranischen Armee einige Monate zuvor nach Süden marschieren lassen. Da sie Kahlan, nachdem Richard sie dazu ernannt hatte, als ihre Königin betrachteten, verspürten die Keltonier noch immer einen Anflug von Unabhängigkeit, auch wenn sie jetzt Teil des D’Haranischen Reiches waren, wie es mittlerweile jeder sich zu nennen angewöhnt hatte.

Zedd unternahm nichts, um dieses Gerede zu unterbinden; für alle in der Neuen Welt war es besser, als eine einzige gewaltige Streitmacht aufzutreten denn als Ansammlung einzelner Völker. Soweit es Zedd betraf, hatte Richard in diesem Punkt genau das richtige Fingerspitzengefühl bewiesen. Ein Krieg dieses Ausmaßes wäre vollkommen unführbar, hätte die Neue Welt sich nicht als Einheit gezeigt. Wenn jeder sich in allererster Linie für einen Teil des d’Haranischen Reiches hielt, konnte dies nur dazu beitragen, dass es auch bald Wirklichkeit wurde.

Zedd räusperte sich. »Aber das ist nur eine Vermutung, Warren, ich könnte mich irren. General Leiden ist ein erfahrener Mann und alles andere als ein Narr. Ich könnte mich irren.«

»Ebenso könnte Leiden sich irren, und damit hättest du etwas mit General Reibisch gemein. Bereits seit zwei Monaten läuft er Nacht für Nacht nervös in seinem Zelt auf und ab.«

Zedd zuckte mit den Achseln. »Hast du etwas Wichtiges auf dem Herzen, Warren, das von dem Vorgehen der Imperialen Ordnung abhängt? Wartest du vielleicht darauf, dass sie dir in einer Angelegenheit die Entscheidung abnehmen?«

Warren hob abwehrend die Hände, als wollte er den bloßen Gedanken von sich weisen. »Nein – nein, natürlich nicht. Es ist nur so … es wäre halt ein ungünstiger Augenblick, um an diese Dinge zu denken, das ist alles … Aber sollten sie sich tatsächlich den Winter über still verhalten…« Warren nestelte an seinem Ärmel. »Mehr meinte ich eigentlich gar nicht … Wenn du glaubst, sie werden bis zum Frühling warten…« Er ließ den Satz unbeendet.

»Angenommen, sie tun es, dann …?«

Den Blick starr auf den Boden gerichtet, verzwirbelte Warren sein Gewand über dem Bauch zu einem purpurroten Knäuel. »Falls du glaubst, sie könnten womöglich beschließen, noch diesen Winter loszuschlagen, dann wäre das für mich – für uns – nicht der geeignete Zeitpunkt, über gewisse Dinge nachzudenken.«

Zedd kratzte sich das Kinn und beschloss, es anders herum zu versuchen. »Angenommen, ich bin überzeugt, die Imperiale Ordnung wird sich den Winter über nicht von der Stelle rühren. Was würdest du in diesem Fall tun wollen?«

Warren warf die Hände in die Luft. »Zedd, würdest du Verna und mich trauen?«

Zedd zog erstaunt die Brauen hoch und nahm den Kopf zurück. »Verdammt, Junge, das ist ein ziemlicher Brocken, gleich als Erstes so früh am Morgen.«

Warren ging mit zwei großen Schritten auf ihn zu. »Würdest du das tun, Zedd? Natürlich nur, wenn du wirklich überzeugt bist, dass die Imperiale Ordnung den Winter über unten in Anderith bleibt. Wenn, dann, na ja, dann wäre es, ich meine, dann könnten wir doch ebenso gut…«

»Liebst du Verna, Warren?«

»Selbstverständlich!«

»Und liebt Verna dich?«

»Aber natürlich tut sie das.«

Zedd zuckte mit den Achseln. »Dann werde ich euch beide trauen.«

»Wirklich? Ach, Zedd, das wäre großartig.« Warren machte kehrt, langte mit einer Hand nach der Zeltöffnung und bedeutete Zedd mit der anderen winkend, zu warten. »Nur einen kleinen Augenblick.«

»Nun, ich wollte gerade meine Schwingen ausbreiten und zum Mond entschweben, aber wenn du unbedingt möchtest, dass ich warte…«

Warren hatte das Zelt bereits verlassen. Von draußen vernahm Zedd gedämpfte Stimmen. Warren kam ins Zelt zurück – unmittelbar auf Vernas Fersen.

Verna strahlte über das ganze Gesicht, was Zedd an sich etwas beunruhigend fand, da es so ungewöhnlich war.

»Danke, dass du dich erboten hast, uns zu trauen, Zedd. Ich danke dir! Warren und ich wollten, dass du die Zeremonie abhältst. Ich erklärte ihm, du würdest es ganz bestimmt tun, aber Warren wollte dich trotzdem vorher fragen und dir Gelegenheit geben abzulehnen. Ich kann mir nichts Bedeutungsvolleres vorstellen, als vom Obersten Zauberer getraut zu werden.«

Zedd fand, sie war eine wundervolle Frau. Manchmal ein wenig kleinlich, wenn es um Regeln und dergleichen ging, aber stets in guter Absicht handelnd. Sie arbeitete hart und schreckte vor vielen Dingen nicht zurück, um die Zedd sie bat. Und ganz offenkundig empfand sie eine herzliche Zuneigung für Warren, den sie darüber hinaus auch respektierte.

»Wann?«, wollte Verna wissen. »Wann, glaubst du, wäre der geeignete Augenblick?«

Zedd verzog das Gesicht. »Was meint ihr beide, haltet ihr es noch aus, bis ich ordentlich gefrühstückt habe?«

Die beiden strahlten.

»Wir dachten eigentlich eher an eine Hochzeit am Abend«, sagte Verna. »Vielleicht könnten wir ein Fest mit Musik und Tanz geben.«

Warren gestikulierte lässig. »Wir hatten so etwas im Sinn wie … eine Art angenehme Unterbrechung der Kampfesvorbereitungen.«

»Eine Unterbrechung? Was meint ihr, wie lange werdet ihr euch von euren Verpflichtungen befreien lassen müssen?«

»Aber nein, Zedd!« Warren war so tiefrot geworden wie sein Gewand. »Wir wollten damit keinesfalls andeuten, dass wir … ich meine, würden natürlich nach wie vor … wir würden nur gern…«

»Wir wollen keine Dienstbefreiung, Zedd«, machte Verna Warrens hilflosem Gestammel ein Ende. »Wir dachten einfach, es wäre für alle eine nette Gelegenheit, einen Abend lang ein wohlverdientes Fest zu feiern. Wir werden unsere Posten nicht verlassen.«

Zedd legte Verna seinen knochendürren Arm um die Schultern. »Ihr beide könnt so lange fortbleiben, wie ihr wollt, dafür hätte jeder hier Verständnis. Ich freue mich für euch beide sehr.«

»Großartig, Zedd«, sagte Warren und atmete erleichtert auf. »Wir wüssten es wirklich sehr zu…«

Ein rotgesichtiger Offizier platzte ins Zelt herein, ohne sich auch nur anzumelden. »Zauberer Zorander!«

Unmittelbar hinter ihm stürzten zwei Schwestern ins Zelt.

»Prälatin«, rief Schwester Philippa.

»Sie greifen an!«, rief Phoebe.

Die beiden Frauen waren leichenblass und standen offensichtlich kurz davor, ihr Frühstück wieder von sich zu geben. Schwester Phoebe zitterte wie ein triefnasser Hund im Winter. Dann bemerkte Zedd, dass Schwester Philippas Haar an einer Seite angesengt und eine Schulter ihres Kleides schwarz verkohlt war. Sie hatte zu einem Vorposten gehört, der nach den mit der Gabe gesegneten Feinden Ausschau halten sollte.

Jetzt wusste Zedd auch, was das Pfeifen gewesen war, das er gehört zu haben glaubte: Es waren sehr weit entfernte Schreie gewesen.

Von weit her schallten die Klänge der Alarmhörner von der nächstgelegenen Zwischenwarnstation herüber. Das schwache Kribbeln von Magie, mit der sie durchwoben waren, verriet Zedd, dass sie echt waren. Draußen vor dem Zelt schwollen die gedämpften Geräusche des Lagerlebens zu einem Getöse hektischer Aktivität an. Waffen wurden aus den Stapeln gerissen, zu denen man sie aufgeschichtet hatte, Lagerfeuer zischten, als sie mit Wasser überschüttet wurden, Schwerter wurden umgeschnallt, andere blank gezogen, Pferde wieherten ob des plötzlichen Radaus.

Warren packte Schwester Philippas Arm und begann, Befehle zu erteilen. »Sorgt dafür, dass die Front sich ausrichtet, und seht zu, dass die Männer nicht gesehen werden – haltet die Kavallerie hinter dem dritten Hügelkamm zurück. Legt die Stolperdrähte dicht vor unseren Reihen – wir müssen den Feind in Sicherheit wiegen. Kavallerie?«

Die Frau nickte.

»Rückt auf zwei Flanken vor«, warf der Offizier ein, »ohne jedoch anzugreifen – sie wollen keinen zu großen Vorsprung vor den Fußsoldaten.«

»Sobald sie am Zündpunkt vorüber sind, zündet Ihr unmittelbar in ihrem Rücken das erste Feuer – genau wie wir es eingeübt haben«, trug Warren Schwester Philippa auf, die seine Anweisungen mit einem aufmerksamen Nicken entgegennahm. Die Absicht war, jedweden Kavallerieanstrum zwischen zwei Wallen aus vernichtender Magie einzuschließen. Diese mussten präzise ausgerichtet sein, wenn man sich eine Chance ausrechnen wollte, die feindlichen Schilde zu durchbrechen.

»Prälatin«, stieß Schwester Phoebe, noch immer keuchend, hervor, »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie viele es sind. Gütiger Schöpfer, es scheint, als verschiebe sich der Erdboden und die Hügel bewegten sich in einem gewaltigen Erdrutsch auf uns zu.«

Verna legte der jungen Schwester tröstend eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, Phoebe, ich weiß. Aber wir alle wissen, was wir zu tun haben.«

Verna war bereits dabei, die beiden Schwestern hinauszugeleiten und nach ihren anderen Helfern zu rufen, als immer mehr Offiziere und zurückkehrende Kundschafter von ihren Pferden sprangen.

Ein großer, bärtiger Soldat mit schweißüberströmtem Gesicht platzte nach Atem ringend in ihr Zelt.

»Die gesamte gottverdammte Streitmacht. Bis zum allerletzten Mann.«

»Mit Lanzen bewaffnete Kavallerie – mehr als genug, um eine Bresche zu schlagen«, rief ein anderer Soldat auf einem mit schäumendem Schweiß bedeckten Pferd ins Zelt, der gerade lange genug stehen blieb, um Zedd die Nachricht zuzubrüllen, bevor er weitergaloppierte.

»Bogenschützen?«, fragte Zedd die beiden noch immer in seinem Zelt verweilenden Soldaten.

Der bärtige Offizier schüttelte den Kopf. »Noch zu weit entfernt, um sie auszumachen.« Er verschluckte sich. »Aber ich verwette mein Leben darauf, dass sie sich unmittelbar hinter den Schilden der Lanzenträger befinden.«

»Zweifellos«, meinte Zedd. »Wenn sie nahe genug sind, werden sie sich schon zu erkennen geben.«

Warren packte den bärtigen Offizier am Ärmel und zerrte ihn, das Zelt im Laufschritt verlassend, hinter sich her. »Keine Sorge, für den Fall, dass sie sich zeigen, haben wir etwas vorbereitet, um ihnen das Augenlicht zu nehmen.«

Der andere Mann rannte weiter zu seinem Posten. Im Nu war Zedd in seinem vor der frühmorgendlichen Wintersonne beschienenen Zelt allein. Der Morgen war kalt, und der Tag würde blutig werden.

Draußen vor dem Zelt schwoll der Radau explosionsartig an. Jeder wusste, was er zu tun hatte, und war mit seiner Aufgabe bestens vertraut; diese Männer waren in der Mehrzahl schlachterprobte D’Haraner. Zedd hatte sich ganz nah herangeschlichen und gesehen, welchen Furcht erregenden Eindruck die Truppen der Imperialen Ordnung machten, doch was den Mumm anbetraf, waren ihnen die D’Haraner durchaus ebenbürtig. Über Generationen hatten sich die D’Haraner damit gebrüstet, die leidenschaftlichsten Kämpfer unter der Sonne zu sein, und Zedd hatte einen großen Teil seines Lebens gegen D’Haraner gekämpft, die bewiesen hatten, dass ihre Prahlerei auf Wahrheit beruhte.

Zedd hörte jemanden rufen: »Bewegt euch, bewegt euch, macht schon.« Es klang nach General Reibisch. Zedd eilte zur Zeltöffnung und hielt am Rand einer Kolonne von Soldaten inne, die in einer gewaltigen, wogenden Menge vorüberströmte.

General Reibisch kam rutschend vor dem Zelt zum Stehen.

»Wir haben uns nicht geirrt, Zedd.«

Zedd nickte, zum Zeichen seiner Enttäuschung darüber, dass sich seine Vermutung über die feindlichen Pläne erfüllt hatte. Dieses eine Mal hätte er sich gerne geirrt.

»Wir brechen das Lager ab«, sagte General Reibisch. »Uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Der Vorhut habe ich bereits Befehl gegeben, ihre Stellungen Richtung Norden zu verlegen, damit sie unsere Vorratskarren sichern können.«

»Ist es ein Angriff auf breiter Front – oder nur ein Vorstoß, um uns auf die Probe zu stellen?«

»Sie greifen an mit allem, was sie haben.«

»Gütige Seelen«, entfuhr es Zedd. Wenigstens hatte er sich so gut es eben ging auf diese Möglichkeit vorbereitet. Er hatte den mit der Gabe Gesegneten eingetrichtert, mit dieser Möglichkeit zu rechnen, damit sie nicht aus dem Gleichgewicht gerieten. Es würde genau so kommen, wie Zedd es ihnen vorhergesagt hatte; das würde zu ihrem Selbstvertrauen beitragen und ihnen Mut machen. Der Sieg hing von denen mit der Gabe ab.

Den Blick nach Süden gerichtet, auf einen Feind, der sich seinem Blick noch entzog, wischte sich General Reibisch mit einer fleischigen Hand über Mund und Kinn. Die frühe Sonne ließ sein rostfarbenes Haar rot erscheinen, und die von seiner linken Schläfe bis zum Unterkiefer verlaufende Narbe leuchtete wie ein erstarrter, weiß glühender Blitz.

»Unsere Wachtposten haben sich gemeinsam mit den äußeren Verteidigungslinien zurückgezogen. Hat keinen Sinn, dass sie die Stellung halten, wenn die gesamte Imperiale Ordnung anrückt.«

Zedd beeilte sich, ihm nickend beizupflichten. »Wir werden für Euch die Magie gegen die Magie sein, General.«

In den gräulich grünen Augen des Mannes blitzte ein wollüstiges Funkeln. »Und wir sind für Euch der Stahl gegen den Stahl, Zedd. Von beidem werden diese Bastarde heute eine Menge zu sehen und zu spüren bekommen.«

»Zeigt ihnen nur nicht zu viel und nicht verfrüht«, warnte Zedd.

»Ich werde unsere Pläne jetzt nicht mehr ändern«, rief er über den Lärm des Durcheinanders hinweg.

»Gut.« Zedd bekam einen vorbeilaufenden Soldaten am Arm zu fassen. »Du. Ich brauche deine Hilfe. Sei so gut, Junge, und pack meine Sachen dort drinnen für mich zusammen. Ich muss den Schwestern einen Besuch abstatten.«

General Reibisch bedeutete dem jungen Mann, in Zedds Zelt hineinzugehen, woraufhin sich der junge Mann sofort an die Arbeit machte.

»Die Kundschafter berichten, sie bleiben ausnahmslos auf dieser Seite des Drun, genau wie wir gehofft hatten.«

»Gut. Dann müssen wir nicht befürchten, dass sie uns einkreisen, jedenfalls nicht von Westen her.« Zedd ließ seinen Blick über das in Auflösung begriffene Feldlager schweifen, während die Soldaten überall hektisch an ihre Arbeit gingen. Er wandte sich wieder zum wettergegerbten Gesicht des Generals herum. »Schafft unsere Männer nur rechtzeitig nach Norden in die Täler hinein, General, damit wir nicht eingekesselt werden können. Die mit der Gabe werden Eurer Nachhut Deckung geben.«

»Wir werden die Täler dichtmachen, seid völlig unbesorgt.«

»Der Fluss ist doch noch nicht völlig zugefroren, oder?«

General Reibisch schüttelte den Kopf. »Es reicht vielleicht für eine Ratte, wenn sie Acht gibt, aber nicht für den Wolf, der sie verfolgt.«

»Das sollte sie daran hindern, den Fluss zu überqueren.« Zedd spähte aus zusammengekniffenen Augen nach Süden. »Ich muss nach Adie und den Schwestern sehen. Mögen die Guten Seelen mit Euch sein, General, den Rücken brauchen sie Euch nicht freizuhalten, das übernehmen wir.«

General Reibisch bekam Zedds Arm zu fassen. »Es sind weit mehr, als wir dachten, Zedd, mindestens doppelt so viele, und wenn meine Kundschafter nicht gestottert haben, vielleicht sogar die dreifache Anzahl. Seid Ihr sicher, Ihr könnt eine derartige große Zahl aufhalten und gleichzeitig ihr Interesse wach halten, mir ihre Zähne in den Hintern zu schlagen?«

Der Plan bestand darin, den Feind Richtung Norden zu locken, dabei aber stets knapp außerhalb seiner Reichweite zu bleiben – gerade so weit, um ihm den Mund wässrig zu machen, jedoch nicht so nah, dass er zuschnappen konnte. Ein Überqueren des Flusses zu dieser Jahreszeit war für eine Armee von dieser Größe undurchführbar. Den Fluss auf der einen und die Berge auf der anderen Seite, vermochte eine Streitmacht von den Ausmaßen der Imperialen Ordnung die Truppen des d’Haranischen Reiches, die ihnen zahlenmäßig um das Zehn- bis Zwanzigfache unterlegen waren, nicht ohne weiteres einzukesseln und zu überwältigen.

Des Weiteren war der Plan so angelegt, dass er Richards Warnung berücksichtigte, das Herzstück der Imperialen Ordnung nicht unmittelbar anzugreifen. Zedd war sich über die Stichhaltigkeit von Richards Warnung nicht ganz im Klaren, war aber klug genug, den eigenen Untergang nicht mit aller Gewalt herauszufordern.

Wenn alles gut ging und man den Feind erst in dieses engere, leichter zu verteidigende Gelände gelockt hatte, würde die Imperiale Ordnung einiger ihrer Vorteile beraubt sein, und ihr Vormarsch konnte daraufhin gestoppt werden. Hatte man sich die Imperiale Ordnung erst einmal vom Leibe gehalten, konnten die D’Haraner damit beginnen, den Feind in seine Schranken zu weisen. Zahlenmäßige Unterlegenheit machte den D’Haranern nichts aus; dadurch erhielten sie nur mehr Gelegenheit, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.

Den Blick in die Ferne gerichtet, malte Zedd sich aus, wie sich die Bergflanken unter den heranströmenden feindlichen Massen verdunkelten. Er sah die tödlichen Kräfte bereits am Werk, die er entfesseln würde.

Auch ihm war bewusst, dass sich in der Schlacht die Dinge selten wie geplant entwickelten.

»Seid völlig unbesorgt, General, mit dem heutigen Tag wird die Imperiale Ordnung beginnen, für ihren Überfall einen entsetzlichen Preis zu zahlen.«

Grinsend versetzte der General Zedd einen Schlag gegen die Schulter. »So ist es recht.«

General Reibisch stapfte, nach seinen Helfern und seinem Pferd rufend und eine immer mehr anwachsende Menschenmenge um sich scharend, entschlossenen Schritts davon.

Die Schlacht hatte begonnen.

Загрузка...