Ein Geräusch weckte sie so unvermittelt, als hätte jemand sie ins Gesicht geschlagen. Bewegungslos, wie tot, lag Kahlan mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken und horchte. Das Geräusch war nicht einmal besonders laut gewesen, eher auf verstörende Weise vertraut. Es verhieß Gefahr.
Ihr gesamter Körper pochte vor Schmerzen, trotzdem war sie so wach wie scheinbar schon seit Wochen nicht mehr. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte oder gar bewusstlos gewesen war, doch war sie wach genug, um sich daran zu erinnern, dass der Versuch sich aufzusetzen ein schwerer Fehler wäre, denn so ungefähr das einzig Unversehrte an ihr war ihr rechter Arm. Einer der großen, kastanienbraunen Wallache schnaubte nervös, stampfte mit einem Huf und versetzte dem Wagen einen Ruck, gerade kräftig genug, um Kahlan an ihre gebrochenen Rippen zu erinnern.
Die stickige Luft roch, als würde es Regen geben, obwohl der auffrischende Wind ihr noch immer Staub in die Nase wehte. Die dunkle Masse des Blätterdachs über ihr schwankte hin und her, das Knarren der Äste ein Ausdruck ihrer Pein. Tiefrote und violette Wolken eilten lautlos dahin. Jenseits der Bäume und Wolken stand, hoch über ihrer Stirn, am blauschwarzen Himmel ein einzelner Stern. Sie wusste nicht, ob Morgen- oder Abenddämmerung herrschte, dem Gefühl nach ging jedoch ein Tag zu Ende.
Während ihr die Böen Strähnen ihres verdreckten Haars über das Gesicht schlugen, lauschte Kahlan so angestrengt wie nur möglich auf jenes Geräusch, das nicht hierher gehörte, nach wie vor in der Hoffnung, es etwas Harmlosem zuordnen zu können. Da sie es nur im Tiefschlaf vernommen hatte, entzog sich sein Wesen auf frustrierende Weise ihrer bewussten Wahrnehmung.
Sie lauschte auch auf Geräusche von Richard und Cara, hörte aber nichts. Die beiden würden sie niemals allein lassen – das war vollkommen undenkbar, es sei denn, sie waren tot. Der Gedanke ließ sie erschrecken. Wie gerne hätte sie nach Richard gerufen und den unwillkommenen Gedanken als alberne Angst entlarvt, doch ihr Instinkt schrie sie förmlich an, sich ruhig zu verhalten.
Aus der Ferne ertönte ein metallisches Scheppern, dann ein Aufschrei. Vielleicht ein Tier, versuchte sie sich einzureden, Raben gaben manchmal die abscheulichsten Schreie von sich, ihre schrillen klagenden Laute konnten sehr menschlich klingen. Doch soweit sie wusste, machten Raben keine Geräusche wie von Metall.
Plötzlich ruckte der Wagen nach rechts. Ihr blieb die Luft weg, als die unerwartete Bewegung einen stechenden Schmerz hinter ihren Rippen auslöste. Jemand hatte sich mit seinem ganzen Gewicht auf den Tritt gestellt. Aus seiner unbekümmerten Achtlosigkeit gegenüber dem verletzten Passagier im Wageninnern schloss sie, dass es weder Richard noch Cara sein konnten. Aber wenn es nicht Richard war, wer dann? Gänsehaut kribbelte in ihrem Nacken. Wenn es nicht Richard war, wo steckte er dann?
Plumpe Finger packten die mit einem Tau befestigte Scheuerleiste an der Seitenstange des Wagens, deren schwielige Kuppen bis an die schmutzigen, abgenagten, winzigen halbmondförmigen Fingernägel reichten. Kahlan hielt den Atem an und hoffte, er würde nicht bemerken, dass sie im Wagen lag.
Ein Gesicht erschien. Verschlagene dunkle Augen blinzelten sie argwöhnisch an. Dem Mann fehlten die vier oberen Schneidezähne.
»Sieh mal einer an. Wenn das nicht das Weib von Richard Cypher ist.«
Kahlan lag da wie erstarrt. Es war genau wie in ihren Träumen. Einen Augenblick lang vermochte sie nicht zu entscheiden, ob es tatsächlich vielleicht nur das war, oder Wirklichkeit.
Sein Hemd hatte eine dunkle Patina aus Schmutz, so als würde es niemals, aus welchem Grund auch immer, ausgezogen. Die spärlichen, drahtigen Haare auf seinen fleischigen Wangen und am Kinn wirkten auf dem zerpflügten Acker seines pockennarbigen Gesichts wie junges Unkraut. Unten fehlten ebenfalls die Schneidezähne, und seine Zungenspitze verharrte halb herausgestreckt in der klaffenden Lücke seines blöden Grinsens.
Er hielt ein Messer hoch und zeigte es ihr, drehte es mal hier, mal dorthin, fast als wollte er vor einem schüchternen Mädchen, das er hofierte, mit einem wertvollen Gegenstand aus seinem Besitz angeben. Ein ums andere Mal zuckten seine Augen zwischen dem Messer und Kahlan hin und her. Allem Anschein war das schlampig geschliffene Messer auf grobem Granit statt an einem richtigen Schleifstein geschärft worden; der schlecht gepflegte, billige Stahl war mit dunklen Rostflecken übersät, doch das machte die zerkratzte und schartige Schneide nicht weniger tödlich. Sein niederträchtiges, zahnloses Grinsen weitete sich vor Vergnügen, als ihr Blick der Klinge folgte und sie sah, wie diese die Luft zwischen ihnen mit Bedacht in Scheiben schnitt.
Sie zwang sich, ihm in seine dunklen, eingefallenen Augen zu blicken, die aus aufgedunsenen Schlitzen hervorlugten. »Wo ist Richard?«, verlangte sie in gleichmütigem Ton zu wissen.
»Der tanzt mit den Seelen in der Unterwelt.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Wo ist dieses blonde Weibstück? Die, von der meine Freunde sagen, sie hätten sie früher schon mal gesehen. Die mit dem frechen Mundwerk. Die, der die Zunge ein Stück kürzer gemacht gehört, bevor ich ihr das Gedärm rausreiße.«
Kahlan funkelte ihn an, um ihm zu zeigen, dass sie nicht die geringste Absicht hatte, ihm zu antworten. Als das grobschlächtige Messer näher kam, schlug ihr sein Gestank entgegen.
»Du bist bestimmt Tommy Lancaster.«
Das Messer hielt inne. »Woher weißt du das?«
Wut quoll tief aus ihrem Innern empor. »Richard hat mir von dir erzählt.«
Die Augen funkelten bedrohlich; sein Grinsen wurde breiter. »Ach ja? Was hat er denn erzählt?«
»Dass du ein hässliches, zahnloses Schwein bist, das sich jedes Mal beim Grinsen in die Hosen macht. Dem Geruch nach hatte er damit Recht.«
Das verschlagene Feixen ging in ein Stirnrunzeln über. Er richtete sich auf dem Tritt stehend auf und beugte sich mitsamt Messer in den Wagen. Genau darauf hatte Kahlan gewartet – er sollte so nahe kommen, dass sie ihn berühren konnte.
Mit Hilfe der aus einem ganzen Leben voller Erfahrung gewonnenen Disziplin legte sie ihre Verärgerung ab und machte sich die Ruhe einer Konfessor zu eigen, die sich einer bestimmten Handlungsweise ganz verschrieben hat. Hatte eine Konfessor einmal den Entschluss gefasst, ihre Kraft zu entfesseln, schien sich das Wesen der Zeit selbst zu verändern.
Sie brauchte ihn nur zu berühren.
Die Kraft einer Konfessor war zum Teil von ihrer körperlichen Verfassung abhängig. Sie wusste nicht, ob sie in ihrem verletzten Zustand fähig sein würde, die erforderliche Kraft aufzubringen, und wenn, ob sie deren Entfesselung überleben würde, sie wusste nur eins, sie hatte keine Wahl. Einer von ihnen würde in Kürze sterben. Vielleicht beide.
Er stützte sich mit dem Ellbogen auf der Seitenstange ab. Die Hand mit dem Messer hielt auf ihre entblößte Kehle zu. Statt das Messer im Auge zu behalten, beobachtete Kahlan die winzigen Narben, die seine Knöchel mit einem Geflecht aus staubigen, weißen Fäden überzogen. Als seine Faust nahe genug war, machte sie ihre entscheidende Bewegung und wollte nach seinem Handgelenk greifen.
Völlig überraschend stellte sie fest, dass sie fest in die blaue Decke gehüllt war. Sie hatte nicht mitbekommen, dass Richard sie auf die von ihm angefertigte Trage gelegt hatte. Man hatte die Decke um sie gewickelt und unter den Stangen der Trage festgesteckt, um sie so ruhig wie möglich zu halten und zu verhindern, dass sie sich verletzte, wenn der Wagen fuhr. Ihr Arm war in einem Stück Stoff gefangen, das ihr Leichentuch zu werden drohte.
Heiße Panik loderte auf, als sie sich bemühte, ihren rechten Arm frei zu bekommen. Sie lieferte sich einen verzweifelten Wettlauf mit der Klinge, die auf ihre Kehle zuhielt. Messergleich bohrte sich der Schmerz in ihre gebrochenen Rippen, während sie mit der Decke rang. Sie hatte keine Zeit zu schreien oder verzweifelt darüber zu fluchen, dass sie versehentlich in der Falle saß. Ihre Finger bekamen eine Stofffalte zu fassen, daran zerrte sie, um ein loses Stück unter der Trage, auf der sie lang, hervorzuziehen und ihren Arm befreien zu können.
Kahlan brauchte ihn nur zu berühren, aber genau das war ihr verwehrt! Sein Messer würde der einzige Berührungspunkt zwischen ihnen sein. Sie konnte nur darauf hoffen, dass er sie mit den Knöcheln streifte oder er ihr, wenn er ansetzte, um ihr die Kehle aufzuschlitzen, vielleicht so nahe kam, dass sie ihr Kinn gegen seine Hand pressen konnte. Dann konnte sie ihre Kraft entfesseln, falls sie noch lebte – und er nicht gleich zu Anfang zu tief schnitt.
Die Zeit schien sich zur Ewigkeit zu dehnen, während sie sich wand und an der Decke zerrte, sie seine über ihrem entblößten Hals schwebende Hand beobachtete, sie bange darauf wartete, endlich ihre Kraft freisetzen zu können – und sie noch immer lebte. Dabei wusste sie, dass sie den schlitzenden Schnitt der derben Klinge jetzt jeden Augenblick spüren würde.
Es kam völlig anders als erwartet.
Tommy Lancaster wurde unter einem ohrenbetäubenden Kreischen zurückgerissen. Schlagartig kehrte die Welt rings um Kahlan in einem Tumult aus Geräusch und Bewegung zurück, als sie unvermittelt von ihrer Absicht Abstand nahm. Hinter seinem Rücken hatte sie Cara erblickt, die Zähne wild entschlossen zusammengebissen. In ihrem makellosen Rot glich sie einem kostbaren Rubin hinter einem Klumpen Dreck.
Den Rücken krümmend, in den man ihm den Strafer presste, konnte Tommy Lancaster noch weniger darauf hoffen, sich von Cara loszureißen, als hätte sie ihn mit einem Fleischerhaken aufgespießt. Seine Qualen hätten nicht grausamer, seine Schreie nicht quälender sein können.
Während er auf die Knie sank, schob sich Caras Strafer langsam hoch und seitlich um seinen Brustkorb. Jede Rippe, die der Strafer überquerte, brach mit dem scharfen Knacken eines brechenden Astes. Ein kräftiges Rot, ihrem Leder ebenbürtig, sickerte zwischen seinen Knöcheln hervor und lief an seinen Fingern hinab, das Messer fiel klirrend auf den steinigen Boden. Der dunkle Fleck an der Seite seines Hemdes schwoll immer mehr an, bis das Blut von den heraushängenden Schößen tropfte.
Cara, ganz erbarmungslose Vollstreckerin, sah über ihm stehend zu, wie er um Gnade bettelte. Statt sie zu gewähren, presste sie den Strafer gegen seinen Hals und folgte ihm bis hinunter auf den Boden. Seine Augen waren aufgerissen und rundum weiß, als er qualvoll erstickte.
Es war eine langsame, schmerzensreiche Reise in den Tod. Tommy Lancasters Arme und Beine krümmten sich, als er in seinem eigenen Blut zu ertrinken begann. Cara hätte ihm ein rasches Ende bereiten können, doch sah es nicht so aus, als hätte sie die Absicht, das zu tun. Dieser Mann hatte Kahlan töten wollen, und für dieses Verbrechen plante Cara, einen hohen Tribut zu fordern.
»Cara!« Kahlan war überrascht, dass sie so viel Energie in ihren Ruf legen konnte. Cara sah über ihre Schulter. Tommy Lancasters Hände gingen zu seinem Hals, und er schnappte keuchend nach Luft, als sie sich aufrichtete und über ihn stellte. »Lasst gut sein, Cara. Wo ist Richard? Vielleicht braucht er unsere Hilfe.«
Cara beugte sich über Tommy Lancaster, presste ihm den Strafer auf die Brust und drehte. Sein linkes Bein trat einmal aus, seine Arme fielen schlaff zur Seite, dann rührte er sich nicht mehr.
Bevor Cara oder Kahlan ein Wort hervorbringen konnten, kam Richard, das Gesicht in kaltem Zorn erstarrt, auf den Wagen zugesprintet. Er hatte sein Schwert zur Hand, dessen Klinge dunkel und feucht schimmerte.
Kaum hatte Kahlan sein Schwert erblickt, begriff sie, was sie geweckt hatte. Das Geräusch war das Schwert der Wahrheit gewesen, das seine Ankunft in der Abendluft verkündete. Im Schlaf hatte ihr Unterbewusstsein das einzigartige Klirren von Stahl wiedererkannt, das das Schwert der Wahrheit beim Gezogenwerden erzeugte, und instinktiv hatte sie die Gefahr erfasst, die dieses Geräusch bedeutete.
Richard würdigte den leblosen Körper zu Caras Füßen nur eines flüchtigen Blicks.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Kahlan nickte. »Es geht mir gut.« Verspätet, und doch mit einem Gefühl des Triumphes ob ihrer Leistung, zog sie ihren Arm unter der Decke hervor.
Richard wandte sich zu Cara. »Ist sonst noch jemand die Straße heraufgekommen?«
»Nein. Nur dieser eine hier.« Sie deutete mit ihrem Strafer auf das am Boden liegende Messer. »Er wollte der Mutter Konfessor die Kehle durchschneiden.«
Wäre Tommy Lancaster nicht bereits tot gewesen, Richards zornerfüllter Blick hätte ihm den Rest gegeben. »Ich hoffe, Ihr habt es ihm nicht leicht gemacht.«
»Nein, Lord Rahl. Er hat seine letzte Schandtat bereut – dafür habe ich gesorgt.«
Richard deutete mit seinem Schwert auf das umliegende Gelände. »Bleibt hier und haltet die Augen offen. Wir haben sie bestimmt alle erwischt, trotzdem werde ich mich vergewissern, dass niemand zurückgeblieben ist, um uns aus einer anderen Richtung zu überraschen.«
»Niemand wird in die Nähe der Mutter Konfessor gelangen, Lord Rahl.«
Staub stieg auf im trüben Licht, als er einem der beiden im Geschirr wartenden Pferde einen beruhigenden Klaps auf die Schulter gab. »Ich möchte sofort nach meiner Rückkehr aufbrechen. Uns dürfte noch genügend Mondlicht bleiben – wenigstens noch für ein paar Stunden. Ungefähr vier Stunden die Straße hoch kenne ich einen sicheren Ort, wo wir ein Lager aufschlagen können. Dort hätten wir das alles hier ein gutes Stück hinter uns gelassen.«
Er deutete mit seinem Schwert. »Schleift seine Leiche dort drüben hinter das Gestrüpp und wälzt ihn über den Abgrund hinunter in die Schlucht. Es wäre mir ganz lieb, wenn man die Leichen erst fände, sobald wir längst über alle Berge sind. Hier draußen werden sie wahrscheinlich nur Tiere finden, trotzdem möchte ich kein Risiko eingehen.«
Cara krallte ihre Faust in Tommy Lancasters Haare. »Mit Vergnügen.« Er war kräftig gebaut, trotzdem bereitete sein Gewicht ihr keine Mühe.
In der aufziehenden Dunkelheit trabte Richard geräuschlos davon. Kahlan lauschte auf das Geräusch der über den Erdboden schleifenden Leiche. Sie hörte das Knacken kleiner Äste, als Cara die schwere Last durch das Gestrüpp zerrte, dann die dumpfen Schläge und das Prasseln von Geröll, als Tommy Lancasters Leiche sich einen steilen Hang hinunterstürzend überschlug. Es dauerte lange, bis Kahlan den letzten Aufschlag auf dem Grund der Schlucht vernahm.
Gemächlichen Schritts kam Cara zum Wagen zurückgeschlendert. »Alles in Ordnung mit Euch?« Beiläufig streifte sie ihre gepanzerten Handschuhe ab.
Kahlan sah die Frau unter halb geöffneten Lidern hervor an. »Er hätte mich um ein Haar erwischt, Cara.«
Cara ließ ihren langen, blonden Zopf über ihre Schulter schnellen, während sie das umliegende Gelände absuchte. »Nein, hätte er nicht. Ich stand die ganze Zeit hier, unmittelbar hinter ihm. Eigentlich hätte er meinen Atem im Nacken spüren müssen. Ich habe sein Messer keinen Moment aus den Augen gelassen, er hatte keine Chance, Euch etwas anzutun.« Sie erwiderte Kahlans Blick. »Ihr habt mich doch bestimmt gesehen?«
»Nein, habe ich nicht.«
»Ach. Ich dachte, Ihr hättet mich bemerkt.« Mit leicht verlegener Miene steckte sie das längere Stück ihrer Handschuhstulpen hinter ihren Gürtel und schlug den Rest nach vorne um. »Vermutlich lagt Ihr im Wagen zu tief, um mich hinter ihm sehen zu können. Ich hatte mein ganzes Augenmerk auf ihn gerichtet. Ich wollte es nicht so weit kommen lassen, dass er Euch erschreckt.«
»Wenn Ihr die ganze Zeit dort wart, wieso habt Ihr dann zugelassen, dass er mich fast umbringt?«
»Er hat Euch nicht fast umgebracht.« Cara lächelte freudlos. »Ich wollte nur, dass er das glaubt. Der Schock und das Entsetzen sind größer, wenn man jemanden glauben macht, er habe bereits gewonnen. Es raubt einem Mann allen Mut, wenn man ihn auf frischer Tat ertappt.«
In Kahlans Kopf drehte sich alles, daher beschloss sie, nicht weiter nachzuhaken. »Was wird hier eigentlich gespielt? Was ist passiert? Wie lange habe ich geschlafen?«
»Wir sind seit zwei Tagen unterwegs. Ihr seid zwischenzeitlich immer wieder aufgewacht, aber in den wachen Phasen habt Ihr nichts mitbekommen. Lord Rahl war ziemlich gereizt, weil er Euch wehtun musste, um Euch in den Wagen zu verfrachten, und weil er Euch … etwas erzählen musste, was Ihr vergessen hattet.«
Kahlan wusste, was Cara meinte: ihr totes Kind. »Und die Männer?«
»Sie sind uns nachgegangen. Aber diesmal war Lord Rahl nicht bereit, mit ihnen zu diskutieren.« Das schien ihr besonders zu gefallen. »Er wusste frühzeitig, dass sie kommen würden, es traf uns also nicht unvorbereitet. Als sie sich auf uns stürzten, einige mit eingelegten Pfeilen, andere mit gezogenen Schwertern oder Äxten, rief er ihnen etwas zu – um ihnen Gelegenheit zu geben, ihre Meinung noch zu ändern.«
»Er hat versucht, sie zur Vernunft zu bringen? Selbst da noch?«
»Na ja, das gerade nicht. Er erklärte ihnen, sie sollten friedlich nach Hause gehen, oder sie würden alle sterben.«
»Und was geschah dann?«
»Sie lachten alle. Es schien sie nur noch anzuspornen. Sie griffen mit erhobenen Schwertern und Äxten an, Pfeile schwirrten. Also floh Lord Rahl in die Wälder.«
»Er tat was?«
»Bevor sie angriffen, erklärte er mir, er werde sie dazu verleiten, ihm nachzusetzen. Als Lord Rahl davon rannte, rief der, der dachte, er könnte Euch die Kehle durchschneiden, die anderen sollten sich ›Richard schnappen und ihn diesmal endgültig fertig machen‹. Lord Rahl hatte gehofft, sie alle von Euch fortlocken zu können, und als dieser eine sich dann stattdessen über Euch hermachte, warf er mir einen Blick zu, dass ich sofort wusste, was er von mir wollte.«
Cara verschränkte die Hände hinter dem Rücken, blickte suchend in die aufziehende Dunkelheit und hielt Wache für den Fall, dass noch einmal jemand versuchen sollte, sie zu überraschen. Kahlans Gedanken kehrten zurück zu Richard und wie er sich, ganz auf sich gestellt, gefühlt haben musste, als sie ihm alle hinterher jagten.
»Wie viele waren es?«
»Ich habe sie nicht gezählt.« Cara zuckte mit den Achseln. »Vielleicht zwei Dutzend.«
»Ihr habt Richard mit zwei Dutzend Männern, die ihn alle verfolgten, allein gelassen? Zwei Dutzend Männer, die ganz versessen darauf waren, ihn zu töten?«
Cara warf Kahlan einen fassungslosen Blick zu. »Hätte ich Euch schutzlos zurücklassen sollen? Obwohl ich wusste, dass dieser zahnlose Rohling es auf Euch abgesehen hatte? Lord Rahl hätte mir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren gezogen, wenn ich Euch allein zurückgelassen hätte.«
Groß und schlank, die Schultern durchgedrückt, das Kinn erhoben, wirkte Cara so zufrieden wie eine Katze, die sich die Überreste einer Maus von den Schnurrbarthaaren leckt. Plötzlich begriff Kahlan: Richard hatte ihr Leben Cara anvertraut; und die Mord-Sith hatte dieses Vertrauen gerechtfertigt.
Kahlan spürte, wie ein Lächeln die halb verheilten Platzwunden auf ihren Lippen spannte. »Ich hätte nur gerne gewusst, dass Ihr die ganze Zeit dort steht. Dass ich die Holzschale jetzt nicht mehr brauche, habe ich Euch zu verdanken.«
Cara lachte nicht. »Eigentlich solltet Ihr das wissen, Mutter Konfessor, ich würde niemals zulassen, dass einem von Euch beiden etwas zustößt.«
Ebenso plötzlich, wie er verschwunden war, tauchte Richard wieder aus dem Schatten auf. Er gab den Pferden einen beruhigenden Klaps. Im Vorübergehen sah er kurz nach ihren Halsgurten, den Zugketten und der Trennstange, um sich zu vergewissern, dass alles sicher befestigt war.
»Irgendwelche Zwischenfälle?«, fragte er Cara.
»Nein, Lord Rahl. Alles ruhig.«
Er beugte sich in den Wagen und lächelte. »Tja, da du gerade wach bist, was hältst du davon, wenn ich dich ganz romantisch im Mondschein spazieren fahre?«
Sie legte ihm die Hand auf den Unterarm. »Ist mit dir alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut. Kein einziger Kratzer.«
»Das meinte ich nicht.«
Sein Lächeln erlosch. »Sie haben versucht, uns umzubringen. Soeben hat Westland durch die Einflussnahme der Imperialen Ordnung die ersten Verluste erlitten.«
»Aber du kanntest sie.«
»Das gibt ihnen kein Recht auf Mitgefühl, das wäre vollkommen unangebracht. Wie viele Tausend habe ich gesehen, die getötet wurden, seit ich von hier fortgegangen bin? Trotzdem konnte ich nicht einmal die Männer, mit denen ich aufgewachsen bin, von der Wahrheit überzeugen. Ich konnte sie nicht einmal dazu bewegen, mir unvoreingenommen zuzuhören. All der Tod und das Leid, das ich gesehen habe, gehen letzten Endes auf Männer wie diese zurück – Männer, die sich weigern, die Augen aufzumachen.
Ihre vorsätzliche Dummheit gibt ihnen kein Recht auf mein Blut oder mein Leben. Sie haben sich ihren Weg selber ausgesucht. Endlich haben sie einmal den Preis dafür bezahlt.«
In ihren Augen sprach so kein Mann, der im Begriff war, den Kampf aufzugeben. Er hatte das Schwert noch immer in der Hand, stand noch immer unter der Herrschaft seines Zorns. Kahlan strich ihm über den Arm, um ihm zu zeigen, dass sie verstand. Für sie war offensichtlich, dass er bitter bereute, was er hatte tun müssen, obwohl er sich zu Recht verteidigt hatte und er noch immer vom Zorn des Schwertes erfüllt war. Hätten die Männer stattdessen ihn getötet, sie hätten nicht nur keine Reue empfunden, sondern seinen Tod als großen Sieg gefeiert.
»Gefährlich war es trotzdem – sich von all den Männern jagen zu lassen.«
»Nein, war es nicht. Ich habe sie aus offenem Gelände unter die Bäume gelockt, sie mussten absteigen. Der Boden dort ist felsig und man hat einen schlechten Stand, daher konnten sie weder alle gleichzeitig noch genügend schnell über mich herfallen, wie sie dies auf offener Straße hätten tun können.
Als das Licht schwächer wurde, glaubten sie, das sei für sie von Vorteil, doch das war es nicht. Zwischen den Bäumen ist es noch dunkler. Ich trage größtenteils Schwarz, und da es warm ist, hatte ich mein goldenes Cape hier im Wagen zurückgelassen. Das bisschen Gold an meiner übrigen Kleidung verwischt die Umrisse eines Mannes bei fast völliger Dunkelheit eher, was es ihnen zusätzlich erschwert hat, mich zu sehen.
Nachdem ich Albert niedergestreckt hatte, wurden sie endgültig vollkommen kopflos und kämpften nur aus blanker Wut – bis sie das erste Blut und die ersten Toten sahen. Diese Männer sind Raufereien gewöhnt, aber keinen Kampf auf Leben und Tod. Sie dachten, sie hätten mit uns leichtes Spiel – sie waren geistig nicht darauf vorbereitet, um ihr Leben zu kämpfen. Als sie erkannten, was wirklich geschah, rannten sie um ihr Leben, jedenfalls die, die noch übrig waren. Dies sind meine Wälder. In ihrer Panik verloren sie die Orientierung und verliefen sich zwischen den Bäumen. Ich schnitt ihnen den Weg ab und machte dem Spuk ein Ende.«
»Habt Ihr sie alle erwischt?«, fragte Cara aus Sorge, jemand könnte entkommen sein und ihnen noch mehr Männer auf die Fersen hetzen.
»Ja. Die meisten von ihnen kannte ich, außerdem hatte ich mir ihre Zahl gemerkt. Ich habe die Toten gezählt, um sicherzugehen, dass ich alle erwischt hatte.«
»Wie viele waren es?«, fragte Cara.
Richard drehte sich um und nahm die Zügel in die Hand. »Für das, was sie vorhatten, nicht genug.« Er schnalzte mit der Zunge und ließ die Pferde anziehen.