40

Kahlan war eine der Letzten, die den Pass überquerte. Das dahinter liegende Tal war durch hoch aufragende Felswände rings um seine Südhälfte gut geschützt, und der Weg um diese Berge herum war lang und beschwerlich, falls denn die Imperiale Ordnung tatsächlich auf die Idee verfallen sollte, hier zu attackieren. Obgleich die Truppen des D’Haranischen Reiches nicht die geringste Absicht hatten, sich in diesem Tal einschließen zu lassen, war dies, zumindest vorübergehend, ein sicherer Ort.

Der Sattel zwischen den umliegenden Bergen war mit hohen, alten Fichten bestanden, was ihnen auch ein wenig Schutz vor dem Wind bot. Überall war der Waldboden mit Zelten bedeckt. Es tat gut, all die Lagerfeuer zu sehen und den Holzrauch zu riechen – ein Zeichen, dass die Männer sich selbst dafür sicher genug fühlen durften. Die spätabendliche Luft war erfüllt von Essensduft; es hatte großer Anstrengungen bedurft, die Armee mitsamt ihrer Ausrüstung über den Pass zu schaffen, und die Männer waren nun über die Maßen ausgehungert.

General Meiffert wirkte so hocherfreut, wie dies jeder General wäre, dessen bereits verloren geglaubte Armee endlich in Sicherheit war – wenn auch nur vorübergehend. Er führte Kahlan und Cara durch die von tausenden von Lagerfeuern erhellte Dunkelheit zu den Zelten, die er für sie hatte errichten lassen. Unterwegs brachte er sie bezüglich des Zustandes der Armee auf den neuesten Stand der Dinge und ging die Liste der wenigen Ausrüstungsgegenstände durch, die sie hatten zurücklassen müssen.

»Es wird eine kalte Nacht werden«, sagte General Meiffert, als sie bei den Zelten anlangten, die er ein wenig abseits zwischen zwei hoch aufragenden Fichten hatte aufstellen lassen. »Ich habe Euch einen Sack mit Kieselsteinen an einem Feuer erhitzen lassen, Mutter Konfessor. Für Euch ebenfalls, Herrin Cara.«

Kahlan dankte ihm, woraufhin er sich verabschiedete, um seinen Verpflichtungen nachzugehen. Cara wollte sich auf die Suche nach etwas Essbarem machen, und Kahlan erklärte ihr, sie solle ruhig gehen, denn sie selbst wolle einfach nur schlafen.

Drinnen im Zelt, auf einem kleinen Tisch, sah Kahlan Seele stehen, deren stolze Körperhaltung von der an der Firststange des Zeltes hängenden Lampe angestrahlt wurde. Sie hielt inne, um mit dem Finger den Schwung ihres fließenden Gewandes nachzuzeichnen.

Kahlan, der vor Kälte die Zähne klapperten, konnte es kaum erwarten, in ihr Bett zu kriechen und den Sack mit angewärmten Kieselsteinen unter ihren Fellüberwurf zu ziehen.

Sie überlegte, wie sehr sie fror, verließ jedoch statt sich ins Bett zu legen, noch einmal das Zelt und suchte das dunkle Lager ab, bis sie eine Schwester aufgetrieben hatte. Deren Wegbeschreibung folgend, wanderte Kahlan zwischen etlichen Zelten hindurch, bis sie die dicht mit jungen Bäumen bestandene Stelle erreichte, wo sie die winzige Pultdachhütte fand, die man zum Schutz gegen Wind und Wetter inmitten der Zweige errichtet hatte.

Sie ging in die Hocke, spähte hinein und betrachtete das Deckenbündel, das sie im Licht der nahen Lagerfeuer gerade eben erkennen konnte.

»Holly? Bist du da drinnen?«

Ein kleiner Kopf kam zum Vorschein. »Mutter Konfessor?« Das Mädchen bibberte vor Kälte. »Was ist denn? Braucht Ihr mich?«

»Ja, das tue ich tatsächlich. Komm mit mir, bitte.« Holly krabbelte in eine Decke gewickelt heraus. Kahlan ergriff ihre kleine Hand und führte sie schweigend zurück zu ihrem Zelt. Holly machte große, runde Augen, als Kahlan sie hineinbat. Vor dem kleinen Tisch blieb das Mädchen wie angewurzelt stehen, um Seele staunend zu betrachten.

»Gefällt sie dir?«, fragte Kahlan.

Zitternd vor Kälte strich Holly ehrfürchtig mit ihren zierlichen Fingern über Seeles Arm. »Wo habt Ihr nur so etwas Wunderschönes her?«

»Das hat Richard für mich geschnitzt.«

Holly löste ihren Blick von der kleinen Statue und sah zu Kahlan hoch. »Ich vermisse Richard.« In der stillen Luft im Inneren des Zeltes konnte Kahlan Hollys Atem sehen. »Er ist immer nett zu mir gewesen. Eine Menge Leute waren ziemlich gemein, aber Richard ist immer nett gewesen.«

Unvermutet verspürte Kahlan einen kummervollen Stich. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie auf Richard zu sprechen kommen würden.

»Was wollt Ihr denn von mir, Mutter Konfessor?«

Kahlan riss sich aus ihren sorgenvollen Gedanken und lächelte. »Ich war stolz auf dich, wie du heute mitgeholfen hast, uns alle zu retten. Ich habe dir versprochen, dass du dich wärmen kannst. Heute Abend ist es soweit.«

Dem Mädchen klapperten die Zähne. »Wirklich?«

Kahlan legte das Schwert der Wahrheit auf die andere Seite des Bettes, dann zog sie einige ihrer schwereren Kleidungsstücke aus, löschte die Lampe und setzte sich auf das strohgefüllte Nachtlager. Der Schein der nahen Lagerfeuer ließ die Zeltwände in mattem Licht erglühen.

»Komm, klettere zu mir ins Bett. Heute Nacht wird es sehr kalt werden. Ich brauche dich, um mich zu wärmen.«

Holly musste nicht lange überlegen.

Kahlan legte sich auf die Seite, zog erst Hollys Rücken an ihren Bauch, dann den Sack mit den aufgeheizten Kieselsteinen an das Mädchen heran. Als Holly daraufhin den Sack mit den Armen umschlang, ließ die Begeisterung über die Wärme sie wohlig aufstöhnen. Kahlan musste lächeln, als sie das zufriedene Seufzen hörte.

Sie lächelte noch lange und genoss die schlichte Freude, zu wissen, dass Holly sich warm und geborgen fühlte. Die Anwesenheit des dicht an ihren Körper geschmiegten Mädchens half Kahlan, all die entsetzlichen Dinge zu vergessen, die sie an diesem Tag gesehen hatte.

Hoch oben in den Bergen stimmte ein einzelner Wolf sein langes, einsames Geheul an. Das Echo hallte verklingend durch das Tal, um mit verzweifelter Hartnäckigkeit immer wieder aufs Neue zu beginnen.

Jetzt, da sein Schwert hinter ihrem Rücken lag, wanderten ihre Gedanken zu Richard. Während sie an ihn dachte und sich fragte, ob er in Sicherheit war, weinte sie sich leise in den Schlaf.


Am nächsten Tag zog der Schnee von den höher gelegenen Bergen herunter und wütete in den südlichen Regionen der Midlands. Die Unwetter tobten zwei volle Tage lang; in der zweiten Schneesturmnacht teilte Kahlan ihr Zelt mit Holly, Valery und Helen. Sie hockten unter Decken, aßen Eintopf, sangen Lieder, erzählten sich Geschichten von Prinzen und Prinzessinnen und schliefen dicht aneinandergeschmiegt, um sich zu wärmen.

Als die Schneestürme schließlich mit einem trüben Sonnenaufgang endeten, reichten die Schneeverwehungen vor den meisten größeren Zelten auf der dem Wind zugewandten Seite bis an die Firststange; die kleineren waren völlig darunter begraben. Während der darauf folgenden Wochen zog ein Sturm nach dem anderen über sie hinweg und schneite sie immer mehr ein. Bei diesen Witterungsbedingungen war es schwierig, zu kämpfen oder auch nur eine Armee über eine größere Strecke marschieren zu lassen. Kundschafter berichteten, die Imperiale Ordnung habe sich einen Wochenmarsch weit nach Süden zurückgezogen.

Die Versorgung der Geblendeten würde eine schwere Belastung sein. Einen Tagesmarsch im Umkreis jener Stelle, wo man das Spezialglas freigesetzt hatte, hatten die d’Haranischen Kundschafter weit über sechzigtausend erfrorene, mittlerweile unter Schneeverwehungen begrabene Leichen gesichtet – blinde Soldaten, die sich unter diesen harten Bedingungen nicht mehr hatten selbst versorgen können.

Vermutlich waren sie von der Imperialen Ordnung ihrem Schicksal überlassen worden. Ein paar Dutzend Geblendeten war es gelungen, auf der Suche nach Hilfe und um Gnade flehend den Pass zu überqueren. Kahlan hatte sie hinrichten lassen.

Es war schwierig, die genaue Anzahl der von Vernas Spezialglas Geblendeten anzugeben; durchaus möglich, dass viele von ihnen mit der Imperialen Ordnung den Rückzug antraten, weil man sie für niedrige Tätigkeiten vorgesehen hatte. Wahrscheinlich aber stellten die Leichen, von denen die Kundschafter berichtet hatten, das Gros der Geblendeten dar. Kahlan konnte sich durchaus vorstellen, dass Jagang sie nicht in seinem Feldlager haben wollte, weil sie Lebensmittel und andere Vorräte verbrauchten und seine Männer an ihren schmerzlichen Rückzug erinnerten.

Sie war sich jedoch darüber im Klaren, dass ein Rückzug für Jagang nur einen vorübergehenden Rückschlag und nicht etwa eine Neubewertung seiner eigentlichen Ziele bedeutete. Der Orden verfügte über genug Soldaten, um den Verlust der seit Beginn der Kämpfe gefallenen einhunderttausend Mann mit einem Achselzucken abzutun. Doch erst einmal verhinderte das Wetter einen Gegenschlag Jagangs.

Kahlan hatte nicht vor, still zu sitzen und auf ihn zu warten. Als einen Monat später der Abgesandte Herjborgues eintraf, traf sie sich umgehend mit ihm in der kleinen Fallenstellerhütte, die sie oben zwischen den Bäumen auf der Westseite des Tales entdeckt hatten. Die Hütte stand – abseits jener freien Flächen, auf denen sich die Zelte drängten – im Schutz hoch aufragender, uralter Föhren; sie war zu Kahlans häufig benutztem Quartier geworden und diente ihr oft als Kommandozentrale.

Für General Meiffert bedeutete es eine große Erleichterung, wenn Kahlan statt eines Zeltes die Hütte bewohnte. Es gab ihm das Gefühl, dass die Armee etwas unternahm, um der Mutter Konfessor der Gemahlin des Lord Rahl – ein angemesseneres Quartier zur Verfügung zu stellen. Zwar wussten Kahlan und Cara die Nächte durchaus zu schätzen, die sie in der Hütte schliefen, trotzdem wollte Kahlan nicht, dass jemand glaubte, sie sei den Bedingungen, die alle Übrigen auszuhalten hatten, nicht gewachsen. Deswegen bestand sie manchmal darauf, stattdessen die Mädchen zusammen mit einigen Schwestern in der Hütte übernachten zu lassen, und manchmal, dass Verna dort mit Holly, Valery und Helen nächtigte; die Prälatin zu überreden war nicht übermäßig schwierig.

Kahlan begrüßte den Abgesandten Theriault aus Herjborgue und bat ihn in die gemütliche Hütte. Er wurde von einer mehrköpfigen Gardeeinheit begleitet, die draußen wartete. Herjborgue war ein kleines Land, dessen Beitrag zu den Aufwendungen des Krieges sich auf den Bereich ihres einzigen Erzeugnisses beschränkte: Wolle. Kahlan brauchte den Mann dringend.

Nachdem der Abgesandte Theriault niedergekniet war und die traditionelle Begrüßung durch die Mutter Konfessor empfangen hatte, erhob er sich schließlich und schob grinsend seine schwere Kapuze nach hinten auf die Schultern.

»Mutter Konfessor, wie gut zu sehen, dass Ihr wohlauf seid.«

Sie erwiderte sein Lächeln von ganzem Herzen. »Ganz meinerseits, Abgesandter Theriault. Hier, kommt ans Feuer und wärmt Euch auf.«

Am steinernen Kamin streifte er seine Handschuhe ab und hielt seine Hände vor die knisternden Flammen. Als er einen flüchtigen Blick auf das glänzende Heft des Schwertes der Wahrheit warf, das hinter ihrer Schulter hervorlugte, fiel ihm die Figur Seele auf dem Sims ins Auge. Staunend betrachtete er sie, wie alle, die die stolze Figur erblickten.

»Wir haben gehört, man hat Lord Rahl gefangen genommen«, sagte er schließlich. »Gibt es schon Nachricht?«

Kahlan schüttelte den Kopf. »Wir wissen, dass man ihm nichts angetan hat, aber das ist auch schon so ziemlich alles. Ich kenne meinen Gemahl, er weiß sich zu helfen. Deshalb bin ich zuversichtlich, dass er einen Weg finden wird, hierher zurückzukehren und uns beizustehen.«

Der Mann nickte, und während er zuhörte, legte sich seine Stirn in Falten.

Cara stand neben dem Tisch und ließ, durch Kahlans Worte an ihren Lord Rahl erinnert, ihren Strafer beiläufig durch die Finger rollen. Der Blick in Caras blauen Augen und die Art, wie sie die Waffe schließlich wieder an dem feinen Goldkettchen um ihr Handgelenk baumeln ließ, verriet Kahlan, dass der Strafer, der über die Bande mit dem derzeitigen Lord Rahl verbunden war, noch immer seine Kraft besaß. Solange er funktionierte, konnten sie sicher sein, dass Richard noch lebte; andere Informationen besaßen sie nicht.

Der Mann schlug seinen schweren Reiseumhang auf. »Wie geht es mit dem Krieg voran? Alle warten begierig auf Neuigkeiten.«

»So weit wir dies einschätzen können, konnten wir mehr als einhunderttausend Soldaten ihrer Streitkräfte töten.«

Dem Mann verschlug es die Sprache. Eine derart gewaltige Zahl hatte auf jemanden aus einem so kleinen Land wie seiner Heimat Herjborgue eine Schwindel erregende Wirkung.

»Dann sind sie zweifellos besiegt. Sind sie in die Alte Welt zurück geflohen?«

Statt seinen Blick zu erwidern, starrte Kahlan auf die laufend ihre Farbe verändernden Scheite in der flirrenden Gluthitze der Flammen. »Ich fürchte, der Verlust so vieler Männer wird die Imperiale Ordnung kaum schwächen. Wir verringern ihre Zahl, allerdings verfügen sie über eine Armee, die mehr als zehnmal so groß ist. Sie sind, gerade mal einen Wochenmarsch südlich von hier, nach wie vor eine Bedrohung.«

Kahlan hob den Kopf und bemerkte, dass er sie anstarrte. Der Blick in seinen Augen verriet ihr, dass er Mühe hatte, sich so viele Menschen vorzustellen. Sein vom Wind gerötetes Gesicht hatte beträchtlich an Farbe verloren.

»Gütige Seelen…«, sagte er leise. »Natürlich haben wir die Gerüchte gehört, aber zu erfahren, dass sie der Wahrheit entsprechen…« Er schüttelte den Kopf, einen Ausdruck der Verzweiflung im Gesicht. »Wie soll man einen Feind von dieser Größe jemals besiegen können?«

»Wenn ich mich recht erinnere, wart Ihr vor einigen Jahren in Aydindril, um den Rat aufzusuchen, und hattet im Anschluss an ein Festbankett ein wenig Ärger. Dieser Hüne aus Kelton – sein Name ist mir entfallen – prahlte und äußerte sich abfällig über Euer kleines Land. Erinnert Ihr Euch noch an diesen Abend? – Wie nannte er Euch gleich?«

Die Augen des Abgesandten Theriault funkelten, als er zu lächeln begann.

»Unbedeutend.«

»Unbedeutend, ganz recht. Ich vermute, er dünkte sich Euch überlegen, weil er das Doppelte Eurer Körperfülle aufzuweisen hatte. Ich erinnere mich noch, dass jemand den Tisch freiräumte, und Ihr beide Euch im Armdrücken gemessen habt.«

»Nun, damals war ich noch jünger, außerdem hatte ich zum Essen das eine oder andere Glas Wein getrunken.«

»Ihr habt gewonnen.«

Er lachte leise. »Nicht durch Körperkraft. Er war ziemlich hochnäsig, ich dagegen vielleicht klüger und schneller – das ist alles.«

»Ihr habt gewonnen; das war das Ergebnis. Diese einhunderttausend Mann der Imperialen Ordnung sind nicht weniger tot, nur weil sie uns zahlenmäßig überlegen waren.«

Sein Lächeln erlosch. »Jetzt verstehe ich. Die Imperiale Ordnung sollte wohl den Kampf jetzt verloren geben, solange sie noch Soldaten hat. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie jene fünftausend galeanischen Rekruten unter Eurer Führung die fünfzigtausend Mann starke Streitmacht angegriffen und vernichtet haben.« Er stützte sich mit einem Arm auf dem grob behauenen Kaminsims ab. »Wie auch immer, ich verstehe, worauf Ihr hinauswollt. Wenn man es mit einem kräftemäßig überlegenen Gegner zu tun hat, muss man seinen Verstand gebrauchen.«

»Ich brauche Eure Hilfe«, erklärte Kahlan dem Mann.

Der Feuerschein spiegelte sich in seinen braunen Augen, als er sich zu ihr herumwandte. »Was immer Ihr wünscht, Mutter Konfessor. Was immer Ihr wünscht, solange es in meiner Macht steht.«

Kahlan bückte sich und schob ein weiteres Scheit ins Feuer; wirbelnd stiegen die Funken durch den Schornstein in die Höhe.

»Wir brauchen wollene Umhänge für die Männer – mit Kapuze.«

Er musste nicht lange überlegen. »Sagt mir einfach, wie viele, und ich werde mich darum kümmern. Ich bin sicher, es wird sich einrichten lassen.«

»Ich benötige mindestens einhunderttausend Stück – für die gesamte derzeit hier versammelte Truppe. Wir erwarten jeden Augenblick Verstärkung, wenn Ihr also noch einmal die Hälfte dieser Menge drauflegen könntet, würde uns das bei der Zerschlagung der Imperialen Ordnung ein großes Stück weiterbringen.«

Während er in Gedanken einige Berechnungen anstellte, schob Kahlan das Scheit mit dem Feuereisen in den Hintergrund des Feuers. »Ich weiß, worum ich Euch bitte, das ist keine leichte Aufgabe.«

Er kratzte sich durch sein dichtes graues Haar den Schädel. »Ihr braucht gar nicht zu erfahren, wie schwierig es sein wird, das wird Euch ohnehin nicht zum Sieg verhelfen, lasst mich also einfach erklären, Ihr werdet sie bekommen.«

Die Zusage des Abgesandten Theriault war so verlässlich wie Gold und ebenso wertvoll. Sie erhob sich und sah ihm ins Gesicht.

»Außerdem möchte ich, dass sie aus gebleichter Wolle hergestellt werden.«

Er zog fragend eine Braue hoch. »Aus gebleichter Wolle?«

»Ihr werdet sicherlich verstehen, dass wir sehr geschickt vorgehen müssen. Die Imperiale Ordnung stammt tief unten aus dem Süden. Richard war einmal dort, er erzählte mir, dass dort ein völlig anderes Klima herrscht als hier in der Neuen Welt; ihre Winter sind mit unseren nicht zu vergleichen. Wenn ich mich nicht irre, ist die Imperiale Ordnung weder mit dem Winter vertraut, noch ist sie es gewöhnt, unter diesen Witterungsbedingungen zu überleben, geschweige denn zu kämpfen. Die winterlichen Verhältnisse mögen schwierig sein, aber durch diesen Umstand werden sie uns zum Vorteil gereichen.«

Kahlan hielt ihm die geballte Faust vors Gesicht. »Ich will ihnen gnadenlos zusetzen. Ich will mir das winterliche Wetter zunutze machen, um sie leiden zu lassen. Ich will sie aus der Reserve locken und sie zwingen, unter Bedingungen zu kämpfen, mit denen sie längst nicht so vertraut sind wie wir. Die Kapuzenumhänge sollen dabei unseren Männern als Tarnung dienen, um bei Überfällen ganz nah an den Feind heranzuschleichen und anschließend vor seinen Augen zu verschwinden.«

»Haben sie keine mit der Gabe Gesegneten in ihren Reihen?«

»Doch, aber keine Hexenmeisterin wird ihnen sagen können, wohin jeder einzelne Bogenschütze mit seinen Pfeilen zielen soll.«

Er strich sich nachdenklich übers Kinn. »Ja, ich verstehe, was Ihr meint.« Er schlug gegen den Sims, wie um seine Zusage zu besiegeln. »Ich werde unsere Handwerker sofort anfangen lassen. Darüber hinaus werden Eure Männer warme Handschuhe benötigen.«

Kahlan lächelte anerkennend. »Sie werden Euch dafür dankbar sein. Weist Eure Handwerker an, mit der Auslieferung der Umhänge sofort zu beginnen, sobald die ersten fertig sind. Wartet nicht, bis die Produktion abgeschlossen ist. Wir werden unsere Überfälle mit jeder noch so geringen Zahl beginnen; später dann, sobald Ihr mehr liefert, können wir die Einsatztrupps vergrößern.«

Der Abgesandte Theriault zog seine Kapuze über den Kopf und schloss seinen schweren Wollumhang. »Der Winter hat eben erst begonnen. Je mehr Zeit Ihr habt, sie langsam zu dezimieren, solange Ihr ihnen gegenüber aufgrund des Wetters im Vorteil seid, desto besser. Am besten mache ich mich unverzüglich auf den Weg.«

Kahlan fasste sich mit dem Mann bei den Armen – eine Geste, zu der sich eine Mutter Konfessor normalerweise nicht hinreißen ließ die aber bei jedem anderen als aufrichtige Anerkennung für angebotene Hilfe durchaus verständlich gewesen wäre.


Als sie und Cara draußen vor der Tür standen und zusahen, wie der Abgesandte und seine Gardisten durch den Schnee von dannen stapften, hoffte Kahlan, dass schon bald die ersten Umhänge eintreffen und sie sich als so nützlich erweisen würden wie erwartet.

»Glaubt Ihr wirklich, wir können den Krieg im Winter erfolgreich vorantreiben?«, fragte Cara.

Kahlan wandte sich zur Tür herum. »Wir haben gar keine andere Wahl.«

Kahlan wollte gerade wieder hineingehen, als sie eine Prozession zwischen den Bäumen den Hang heraufkommen sah. Als sie ein wenig näher waren, erkannte sie, dass es General Meiffert war, der sie zu Fuß anführte. Des Weiteren konnte sie Adie, Verna, Warren und Zedd erkennen, die neben vier Reitern hergingen. Funkelnd spiegelte sich die Mittagssonne auf dem Schwert des führenden Reiters.

Kahlan stockte der Atem, als sie sah, um wen es sich handelte.

Ohne noch einmal in die Hütte zu gehen, um ihren Umhang oder Fellüberwurf zu holen, rannte sie durch den Schnee hinunter, um ihn zu begrüßen: Cara folgte ihr dicht auf den Fersen.

»Harold!«, rief sie. »Was für eine Freude, dich zu sehen!«

Dann erkannte Kahlan hinter ihrem soeben aus Galea eingetroffenen Halbbruder einige der anderen Männer, und wieder stockte ihr vor Überraschung der Atem. Captain Ryan, Befehlshaber jener galeanischen Rekruten, an deren Seite sie gekämpft hatte, war darunter, sowie sein Lieutenant, Flin Hobson. Im Hintergrund glaubte sie Sergeant Frost zu erkennen. Ihr tat das Gesicht weh, so sehr strahlte sie, als sie ihnen durch den tiefen Schnee entgegenlief.

Am liebsten hätte Kahlan ihren Halbbruder vom Pferd gezogen und umarmt; in der Uniform eines galeanischen Stabsoffiziers, die weit weniger auffällig war als seine Paradeuniform, bot er auf seinem edlen Schlachtross einen prachtvollen Anblick. Erst jetzt wurde ihr in vollem Ausmaß bewusst, wie besorgt sie über sein verspätetes Eintreffen gewesen war.

Ganz der Prinz, der er war, neigte Harold sein Haupt in ihre Richtung, als er sich im Sattel verbeugte, und ließ dabei ein nur dünnes, fast verstohlenes Lächeln sehen.

»Mutter Konfessor, ich bin erfreut, Euch wohlauf zu sehen.«

Captain Ryan strahlte über das ganze Gesicht, auch wenn Prinz Harold offenbar nicht danach zumute war. Bradley und Flin waren Kahlan noch in bester Erinnerung, ebenso wie ihre Tapferkeit, ihr Mut und Charakter. Die Kämpfe damals waren grauenvoll gewesen, an die Gesellschaft dieser hervorragenden Soldaten aber, alles prächtige, junge Burschen, erinnerte sie sich noch gern. Schon einmal hatten sie Unmögliches vollbracht, und jetzt waren sie gekommen, um dieses Kunststück zu wiederholen.

Neben seinem Pferd stehend, langte Kahlan nach Harolds Hand. »Komm herein, drinnen brennt ein schönes, warmes Feuer.« Sie machte dem Captain, dem Lieutenant und dem Sergeant ein Zeichen. »Ihr auch. Kommt herein und wärmt Euch auf.«

Prinz Harold trat vom Steigbügel auf den Boden. »Mutter Konfessor, ich…«

Kahlan vermochte nicht zu widerstehen; sie schlang ihrem Halbbruder die Arme um den Hals. Er war ein Bär von einem Mann, genau wie ihr gemeinsamer Vater, König Wyborn. »Ich bin so erleichtert, dich zu sehen. Wie geht es Cyrilla?«

Cyrilla, Harolds Schwester und Kahlans Halbschwester, war ein Dutzend Jahre älter als Kahlan. Nach ihrer Gefangennahme durch die Imperiale Ordnung hatte man sie zusammen mit einer Bande von Mördern und Vergewaltigern ins Verlies geworfen. Harold hatte sie befreit, die Misshandlungen jedoch, die sie über sich hatte ergehen lassen müssen, hatten sie in einem Zustand geistiger Umnachtung zurückgelassen, in der sie die Menschen in ihrer Umgebung nicht mehr wahrnahm. Nur äußerst selten erlangte sie das Bewusstsein zurück; und wenn sie aus ihrem Zustand erwachte, schrie und weinte sie meist unkontrollierbar. In einem ihrer klaren Augenblicke hatte sie Kahlan das Versprechen abgenommen, Königin von Galea zu werden und für die Sicherheit ihres Volkes zu sorgen.

Harold, der es vorzog, Befehlshaber der galeanischen Armee zu bleiben, hatte die Krone abgelehnt; widerstrebend hatte Kahlan seinem Wunsch stattgegeben.

Harolds Augen wechselten kurz hinüber zu den anderen. »Mutter Konfessor, wir haben etwas zu besprechen.«

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