35

Kahlan stand auf wackeligen Beinen über den in sich zusammengesunkenen Körper des Jungen gebeugt und spürte, wie ihre Empfindungen zurückfluteten. Wie stets ließ der Gebrauch ihrer Konfessorkraft sie völlig leer und erschöpft zurück. Im ersten Augenblick danach schien der Wald stumm über sie Gericht zu sitzen, das tiefrote Beweismaterial da und dort rings um den Jungen ausgebreitet im jungfräulichen Schnee.

Mit einem Mal stutzte Kahlan und überlegte, ob sie nicht vielleicht auch Cara getötet hatte.

Eine Mord-Sith würde die Berührung einer Konfessor nicht lange überleben. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, außerdem hatte sie alles getan, um Cara zu warnen und ihr zu verstehen zu geben, sie solle sich entfernen. Letztendlich aber durfte sich Kahlan in ihrem Entschluss von nichts anderem beeinflussen lassen als von dem unausweichlichen Gebot der Situation; jedes Zögern hätte in die Katastrophe münden können.

Jetzt jedoch, als es vorbei war, wurde ihr angst und bange.

Kahlan blickte um sich und sah Cara rechts von sich ausgestreckt im Schnee liegen. Wenn sie den Jungen berührt hatte, als Kahlan ihre Kraft entfesselte…

Cara stöhnte. Wankend ging Kahlan zu ihr hin und ließ sich auf ein Knie sinken. Den Pelz an Caras Schultern packend, drehte sie sie in einer gewaltigen Kraftanstrengung um.

»Cara – seid Ihr wohlauf?«

Cara schaute aus halb zusammengekniffenen Augen hoch, mit einem schmerzhaft gequälten Blick, der allmählich in Überdruss und Ärger umschlug. »Selbstverständlich bin ich wohlauf. Ihr habt doch nicht etwa geglaubt, ich sei so töricht, den Jungen festzuhalten, oder?«

Kahlan lächelte froh und erleichtert. »Nein, natürlich nicht. Ich dachte nur, Ihr hättet Euch beim Fortspringen vielleicht das Genick gebrochen.«

Cara spuckte Schnee und Erde. »Beinahe.«

Warren half den beiden auf die Beine. Mit schmerzverzerrter Miene rieb er sich erst die Schultern, dann die Ellbogen. Immer wieder war Kahlan zu Ohren gekommen, dass es ein überaus schmerzhaftes Erlebnis sei, einer Konfessor zu nahe zu kommen, wenn sie ihre Kraft entfesselte, ein Erlebnis, das einem wie ein quälender Schock in sämtliche Glieder fuhr. Zum Glück richtete es keinen bleibenden Schaden an, und die Schmerzen ließen rasch nach.

Als Warren zu dem toten Jungen hinübersah, wurde ihr bewusst, dass es noch einen anderen Schmerz gab, der nicht so rasch abklingen würde.

»Gütiger Schöpfer«, sagte Warren leise bei sich. Er drehte sich zu Kahlan und Cara um. »Er war doch noch ein kleiner Junge. War es wirklich nötig…«

»Ja«, schnitt Kahlan ihm entschieden das Wort ab. »Ich bin mir vollkommen sicher. Cara und ich waren schon einmal in derselben Situation – bei Marlin.«

»Aber Marlin war ein erwachsener Mann. Lyle dagegen noch so zart … so jung. Welchen Schaden hätte er denn…«

»Fang jetzt bitte nicht damit an, was alles hätte sein können, Warren. Jagang hatte von seinem Verstand Besitz ergriffen, genau wie damals bei Marlin. Was das bedeutet, wissen wir. Er war eine tödliche Gefahr.«

»Wenn ich ihn nicht halten konnte«, meinte Cara, »dann hätte ihn auch sonst nichts halten können.«

Warren seufzte, ihm war hundeelend zumute. Er sank neben dem Jungen auf die Knie und sprach leise ein Gebet, während er dem Jungen mit den Fingern über die Schläfe strich.

»Vermutlich liegt die wahre Schuld bei Jagang.« Warren erhob sich und klopfte sich den Schnee von den Knien. »Letztendlich hat Jagang das zu verantworten.«

In der Ferne konnte Kahlan die Umrisse ihrer Soldaten erkennen, die den Hang herauf gestürmt kamen, um sie zu retten. Sie machte sich auf und ging ihnen entgegen.

»Wenn du es so sehen willst.«

Cara blieb unmittelbar in ihrer Nähe. Warren musste sich mühsam durch den Schnee kämpfen, um sie einzuholen. Er bekam Kahlans Arm zu fassen und riss sie zurück, sodass sie gezwungen war, stehen zu bleiben.

»Damit meint Ihr Ann, nicht wahr?«

Kahlan zügelte ihren Zorn, als sie Warren in seine blauen Augen schaute.

»Warren, auch du warst ein Opfer dieser Frau. Man hat dich, als du klein warst, in den Palast der Propheten verschleppt, nicht wahr?«

»Das mag ja sein, aber…«

»Kein Aber. Sie sind einfach gekommen und haben dich mitgenommen, genauso wie sie gekommen sind und dieses arme, tote Kind da hinten mitgenommen haben.« Kahlans Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen. »Richard haben sie auf die gleiche Weise geholt.«

Warren berührte sachte Kahlans Arm, um sie zu beschwichtigen. »Ich weiß, so muss es erscheinen. Prophezeiungen sind oft…«

»Das da!« Kahlan zeigte wütend auf den toten Jungen. »Das ist es, was es mit Prophezeiungen auf sich hat! Nichts als Tod und Elend – und alles im heiligen Namen der Prophezeiungen!«

Warren wagte nicht, ihr in ihrem Zornesausbruch zu widersprechen.

Kahlan zwang sich, wenn schon nicht die dahinter verborgenen Gefühle, so doch wenigstens ihre Stimme zu zügeln. »Wie viele Menschen müssen noch aus falsch verstandenem Eifer bei der Erfüllung von Prophezeiungen sinnlos sterben? Hätte Ann Verna nicht geschickt, um Richard zu holen, nichts von alldem wäre je passiert.«

»Woher wollt Ihr das wissen? Ich kann ja durchaus nachempfinden, wie Euch zumute ist, aber was macht Euch so sicher?«

»Dreitausend Jahre lang hat die Barriere gehalten. Nur ein mit beiden Seiten der Magie geborener Zauber hätte sie einreißen können, und den gab es erst, als Richard in Erscheinung trat. Ann sandte Verna aus, um ihn zu holen. Hätte sie das nicht getan, stünde die Barriere immer noch an ihrem Platz, und Jagang und die Imperiale Ordnung befänden sich jenseits davon. Die Midlands wären in Sicherheit, und dieser Junge dort würde irgendwo Ball spielen.«

»Es ist nicht so einfach, wie es Euren Worten nach erscheint, Kahlan.« Warren breitete verzweifelt seine Hände aus. »Ich will mit Euch nicht darüber streiten, trotzdem möchte ich Euch begreiflich machen, dass Prophezeiungen auf mannigfaltige Weise in Erfüllung gehen können; oft suchen sie sich ihre Lösung selbst. Gut möglich, dass sich Richard, hätte Ann nicht nach ihm geschickt, aus irgendeinem anderen Grund hierher gewagt und die Barriere zu Fall gebracht hätte. Wer kennt schon die genauen Gründe? Begreift Ihr nicht? Es wäre möglich, dass es so geschehen musste, und Ann lediglich ein Mittel zum Zweck war. Und wenn nicht sie, dann jemand anderes.«

Wutschnaubend sog Kahlan die Luft durch ihre zusammengebissenen Zähne. »Wie viel Blut, wie viele Tote, wie viel Kummer ist noch nötig, bis du endlich begreifst, wie viel Leid die Prophezeiungen über die Welt gebracht haben?«

Warren lächelte traurig. »Ich bin Prophet und habe immer ein Prophet sein wollen, damit ich anderen helfen kann. Wäre ich aufrichtig davon überzeugt, dass sie nichts als Leid und Unrecht verursachen, würde ich niemals an sie glauben.« Dann kam ihm ein Gedanke, und sein Lächeln hellte sich auf. »Vergesst nicht, ohne Prophezeiungen wärt Ihr Richard nie begegnet. Geht es Euch nicht sehr viel besser, seit Richard in Euer Leben trat? Auf mich trifft das zu, das weiß ich.«

Kahlans wütend kalter Blick wischte das freundliche Lächeln aus seinem Gesicht.

»Lieber wäre ich zu einem Leben ohne Liebe und in Einsamkeit verdammt, als zu wissen, dass ihm nur deshalb Unrecht widerfährt, weil er in mein Leben trat. Lieber hätte ich ihn niemals kennen gelernt, als erst zu spüren, wie wertvoll er mir ist, nur um anschließend zu erfahren, dass alles, was diesen Wert ausmacht, auf dem Altar dieses wahnwitzigen Glaubens an Prophezeiungen geopfert wird.«

Warren schob seine Hände in die Ärmel seines purpurnen Gewandes und senkte den Blick zu Boden. »Ich kann verstehen, dass Ihr so empfindet. Bitte, Kahlan, sprecht mit Verna.«

»Warum? Sie war es doch, die Anns Befehle ausgeführt hat.«

»Sprecht einfach mit ihr. Ich hätte Verna um ein Haar verloren, weil sie ebenso empfand wie Ihr.«

»Verna?«

Warren nickte. »Sie war zu der Überzeugung gelangt, auf üble Weise von Ann benutzt worden zu sein. Zwanzig Jahre lang hat sie ergebnislos nach Richard gesucht, dabei wusste Ann die ganze Zeit genau, wo er sich befand. Könnt Ihr Euch vorstellen, wie Verna zumute war, als sie dahinter kam? Da waren auch noch andere Dinge. So brachte sie uns durch eine Täuschung dazu zu glauben, sie sei tot. Mit einer List verhalf sie Verna in das Amt der Prälatin.« Warren zog eine Hand aus seinem Ärmel und hielt Daumen und Zeigefinger einen Zoll weit auseinander. »Sie war so dicht davor, ihr Reisebuch ins Feuer zu werfen.«

»Sie hätte es tun sollen.«

Warrens trauriges Lächeln kehrte zurück. »Ich will damit nur sagen, dass Ihr Euch möglicherweise besser fühlen werdet, wenn Ihr mit ihr sprecht. Sie wird verstehen, wie Euch zumute ist.«

»Und was soll das nützen?«

Warren zuckte mit den Achseln. »Selbst wenn Ihr Recht behalten solltet, was macht das schon? Geschehen ist geschehen, wir können nichts mehr daran ändern. Nicci hat Richard in ihrer Gewalt, die Imperiale Ordnung steht hier, in der Neuen Welt. Was immer diese Ereignisse hervorgerufen hat, sie sind jetzt Wirklichkeit für uns, eine Wirklichkeit, mit der wir uns befassen müssen.«

Kahlan taxierte seine funkelnden blauen Augen. »Bist du durch das Studium der Prophezeiungen darauf gekommen?«

Sein Lächeln weitete sich zu einem Grinsen. »Nein, das hat Richard mir beigebracht. Außerdem hat mir soeben eine ziemlich kluge Frau geraten, mich nicht damit zu befassen, was alles hätte sein können.«

Kahlan spürte, wie der Zorn, trotz aller Entschlossenheit, ihn festzuhalten, ihr entglitt. »Ich bin mir nicht sicher, wie klug sie wirklich ist.«

Warren bedeutete den mit blank gezogenen Schwertern den Hang heraufstürmenden Soldaten durch ein Handzeichen, dass alles in Ordnung sei. Die Männer verringerten ihr Tempo zu schnellem Gehen, schoben ihre Waffen aber noch nicht zurück in die Scheide.

»Nun«, meinte Warren, »jedenfalls war sie klug genug, Jagangs Plan zu durchschauen, und hat während des Angriffs eines seiner mit der Gabe gesegneten Günstlinge ihre Gedanken zusammengehalten und ihn durch eine List glauben gemacht, sie sei auf seine Machenschaften hereingefallen.«

Kahlans Gesicht nahm einen Ausdruck gereizten Unmuts an. »Wie alt bist du, Warren?«

Die Frage schien ihn zu überraschen. »Ich bin vor kurzem einhundertachtundfünfzig geworden.«

»Das erklärt alles«, murrte Cara, unverwandt den Hang hinunterstarrend. »Hör auf, so jung und unschuldig zu tun, Warren. Das kann einem gewaltig auf die Nerven gehen.«


Als Kahlan, Cara und Warren mitsamt ihrer Eskorte aus Gardisten mehrere Stunden darauf ins Lager zurückkehrten, hatte dieses sich in einen Ort hektischer Betriebsamkeit verwandelt. Karren wurden beladen, Pferde eingespannt und Waffen einsatzbereit gemacht. Obwohl die Zelte noch nicht abgebrochen wurden, scharten sich Soldaten, die letzten Bissen ihres Abendessens hinunterschlingend, in Lederrüstungen und Kettenpanzern um ihre Offiziere und lauschten den Anweisungen für den Augenblick, da der Befehl zum Aussenden einer Streitmacht gegeben werden würde, die dem Feind auf seinem Weg nach Norden den Weg abschneiden und ihn aufhalten sollte. Andere Offiziere standen über ihre Karten gebeugt in Zelten, an denen Kahlan vorüberkam.

Das Aroma eines Eintopfgerichts in der nachmittäglichen Luft erinnerte sie daran, wie ausgehungert sie war. Die winterliche Dunkelheit setzte zeitig ein, und der bedeckte Himmel ließ einen glauben, es sei bereits Abend. Die endlosen wolkenverhangenen Tage begannen, auf das Gemüt zu drücken. Es gab nur wenig Hoffnung, die Sonne zu Gesicht zu bekommen, und schon bald würden selbst die heftigeren Schneefälle bis hier unten in den Süden vordringen.

Kahlan stieg ab und überließ einem jungen Soldaten ihr Pferd. Sie ritt längst kein mächtiges Schlachtross mehr, sondern war – wie der größte Teil der Kavallerie auch – auf ein kleineres, beweglicheres Tier umgestiegen. Zwar verliehen große Schlachtrösser beim Aufeinanderprallen großer Truppenverbände dem Angriff zusätzliche Wucht, doch da die d’Haranischen Streitkräfte zahlenmäßig so deutlich unterlegen waren, hatte sie entschieden, dass es das Beste sei, Masse gegen Geschwindigkeit und Wendigkeit einzutauschen.

Dank dieser taktischen Veränderungen, nicht nur bei der Kavallerie, sondern in der gesamten Armee, war es Kahlan und General Meiffert gelungen, die Imperiale Ordnung wochenlang auf Trab zu halten. Immer wieder verleiteten sie den Feind dazu, in einer gewaltigen Kraftanstrengung zu einem alles vernichtenden Schlag auszuholen, nur um diesem dann so knapp auszuweichen, dass sie sich gerade retten konnten und gleichzeitig erreichten, dass sich die aufreizend nah herangekommenen Ordenstruppen völlig verausgabten.

War die Imperiale Ordnung durch die Anstrengungen solch gewaltiger Attacken dann geschwächt und hielt, um ihre Kräfte zu sammeln, inne, ordnete General Meiffert kleinere Blitzangriffe an, um ihnen auf die Zehen zu treten und Unruhe zu stiften. Hatten sich die Ordenstruppen in Erwartung eines Angriffs eingegraben, beorderte Kahlan ihre Truppen zurück in weiter entfernte Stellungen, was die Bemühungen des Ordens, Verteidigungsanlagen zu errichten, sinnlos machte.

Versuchte die Imperiale Ordnung dasselbe ein zweites Mal, setzten die D’Haraner ihre Verfolgung Tag und Nacht fort, umschwärmten sie wie zornige Hornissen, blieben aber außer Reichweite eines entscheidenden Gegenschlags. War die Imperiale Ordnung es schließlich leid, ihre Zähne nicht in den Feind schlagen zu können und gab ihren Streitkräften eine neue Richtung vor, indem sie Bevölkerungszentren attackieren ließ, setzte Kahlan sie mit ihren Truppen aus dem Rückraum unter Druck und jagte ihnen Pfeile in den Rücken, während sie sich verzweifelt zu befreien versuchten. Gewöhnlich waren sie nach einer Weile gezwungen, von ihren Plünderungsplänen Abstand zu nehmen, kehrtzumachen und sich dem Angriff zu stellen.

Die Taktik der D’Haraner, ihnen ohne Unterlass auf den Fersen zu bleiben, trieb die Imperiale Ordnung zur Raserei. Diese Art des Kämpfens war für Jagangs Soldaten eine Beleidigung; sie glaubten, dass sich echte Männer auf dem Schlachtfeld von Angesicht zu Angesicht für einen offenen Schlagabtausch gegenübertraten. Selbstverständlich belastete es keineswegs ihr Ehrgefühl, dass sie den D’Haranern zahlenmäßig haushoch überlegen waren. Kahlan wusste, dass ein solches Aufeinandertreffen blutig enden würde und nur für die Imperiale Ordnung von Vorteil sein konnte. Wie man dort darüber dachte, interessierte sie nicht, sie interessierte nur deren Untergang.

Je wütender und desillusionierter die Truppen der Imperialen Ordnung wurden, desto unbekümmerter und leichtfertiger verhielten sie sich; sie begannen schwungvolle Offensiven gegen gut geordnete Verteidigungsstellungen oder zwangen – um Boden zu gewinnen, der auf diese Weise nicht zu gewinnen war – Soldaten zu unbesonnenen, von vornherein zum Scheitern verurteilten Attacken. Gelegentlich verblüffte es Kahlan, zu sehen, wie die Feinde in Scharen in die Reichweite ihrer eigenen Bogenschützen gerieten und fielen, nur um gleich darauf erleben zu müssen, wie unmittelbar hinter ihnen immer mehr Soldaten nachrückten, die das ohnehin bereits mit Sterbenden und Verwundeten übersäte Schlachtfeld mit einem nie versiegenden Strom aus Leichen versorgten. Es war der pure Wahnsinn.

Die D’Haraner hatten Verluste von mehreren Tausend Toten und Verwundeten erlitten. Andererseits, schätzten Kahlan und General Meiffert, hatten sie weit mehr als fünfzigtausend Feinde getötet oder verwundet, was in etwa dem Zertreten einer einzelnen Ameise einer aus ihrem Bau hervorströmenden Kolonie entsprach. Sie hatte keine andere Idee, wie sie vorgehen sollten, als genau so weiterzumachen. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.

Kahlan, Cara dicht neben sich, kämpfte sich durch einen Strom aus Soldaten, um zu den mit blauen Stoffstreifen markierten Kommandozelten vorzudringen. Wenn man den Farbenschlüssel des Tages nicht kannte, war es nahezu unmöglich, die Kommandozelte zu finden. Aus Angst, ein Eindringling oder ein mit der Gabe gesegneter Feind könnte eine Gruppe versammelter hoher Offiziere aufspüren und umbringen, kamen diese ausschließlich in unauffälligen Zelten zusammen. Viele Zelte waren mit bunten Stoffstreifen markiert – die Soldaten benutzten dieses System, um ihre Einheiten bei einem kurzfristigen Abzug, was recht oft geschah, wiederzufinden –, daher hatte Kahlan den Einfall gehabt, dasselbe System für die Kennzeichnung der Kommandozelte zu übernehmen. Der Farbenschlüssel wechselte häufig, damit keine Farbe sich als die Farbe der Offiziere einprägte.

Im Inneren des drangvoll engen Zeltes blickte General Meiffert von einem Tisch mit einer schräg ausgerollten Karte auf, über die er sich soeben gebeugt hatte. Lieutenant Leiden aus Kelton war zugegen, des Weiteren Captain Abernathy, der Befehlshaber jener galeanischen Streitkräfte, die Kahlan Wochen zuvor mitgebracht hatte.

Adie saß als Vertreterin der mit der Gabe Gesegneten schweigend in einer Ecke und verfolgte das Geschehen aus ihren vollkommen weißen Augen. Bereits als junge Frau geblendet, hatte Adie gelernt, mit Hilfe ihrer Gabe zu sehen.

Sie war eine Hexenmeisterin von bemerkenswerten Fähigkeiten, überaus bewandert darin, diese Fähigkeiten zum Schaden des Feindes einzusetzen. Jetzt war sie hier, um die Begabungen der Schwestern mit den Erfordernissen der Armee abzustimmen.

Auf Kahlans Frage antwortete Adie: »Zedd befindet sich unten bei den südlichen Linien und sieht nach den Sonderkommandos.«

Kahlan dankte ihr mit einem Nicken. »Warren ist ebenfalls dort unten und hilft ihm.«

Kahlan bewegte ihre eiskalten Zehen in den Stiefeln hin und her, um wieder ein wenig Gefühl in sie zu bekommen. Sie blies sich warmen Atem in die hohlen Hände und wandte ihre Aufmerksamkeit dem wartenden General zu.

»Wir werden eine Streitmacht von beträchtlicher Größe aufstellen müssen – etwa zwanzigtausend Mann.«

General Meiffert machte seiner Enttäuschung mit einem Seufzer Luft. »Dann versuchen sie uns also mit einer ganzen Armee zu umgehen.«

»Nein«, erwiderte sie. »Das ist ein Täuschungsmanöver.«

Die drei Offiziere runzelten verwirrt die Stirn und warteten auf eine Erklärung.

»Ich bin, ganz zufällig, Jagang über den Weg gelaufen…«

»Ihr seid was?«, schrie General Meiffert in ungezügelter Panik.

Kahlan winkte ab, um seine Befürchtungen zu beschwichtigen. »Nicht so, wie Ihr denkt. Ich begegnete ihm im Körper eines seiner Sklaven.« Sie steckte die Hände unter die Achseln, um sie zu wärmen. »Das Wichtigste ist, dass ich mich auf Jagangs Machenschaften eingelassen und ihn im Glauben gelassen habe, wir würden auf seinen Plan hereinfallen.«

Kahlan erläuterte, wie Jagangs Kriegslist funktionieren sollte, und dass sein eigentlicher Plan darauf abzielte, eine Streitmacht beträchtlichen Ausmaßes fortzulocken, um auf diese Weise die zurückbleibenden Truppen zu schwächen. Die Männer lauschten aufmerksam, während sie seinen Plan, die einzelnen Positionen auf einer Karte zeigend, in allen Einzelheiten darlegte.

»Wenn wir tatsächlich so viele Truppen abziehen lassen«, fragte Lieutenant Leiden, »würden wir damit nicht genau das tun, was Kaiser Jagang will?«

»Das ist richtig«, antwortete sie ihm, »nur werden wir eben gerade das nicht tun. Ich möchte, dass diese Männer das Lager verlassen, damit es so aussieht, als täten wir genau das, was er erwartet.«

Sie beugte sich über die Karte, zeichnete mit einem Stück Holzkohle einige der umliegenden Gebirgszüge ein, die sie noch vor kurzem durchquert hatte, und zeigte ihnen, wie sich mehrere von ihnen auf einem nicht sehr hoch gelegenen Pass umgehen ließen.

Captain Abernathy ergriff das Wort. »Meine galeanischen Truppen stehen uns zur Verfügung – ihre Stärke entspricht in etwa der Zahl, die Ihr als Lockvogel benötigt.«

»Genau das war auch meine Überlegung«, sagte General Meiffert.

»Dann wäre das erledigt«, beendete Kahlan die Diskussion und deutete abermals auf die Karte. »Umgeht diese Berge hier, Captain, damit Eure Männer, sobald die Imperiale Ordnung unser Feldlager angreift, in deren weiche Flanke vorstoßen können, und zwar genau an dieser Stelle, wo sie es nicht erwarten.«

Captain Abernathy, ein fescher Mann mit einem ergrauenden buschigen, zu seinen Augenbrauen passenden Schnauzbart, verfolgte nickend, wie Kahlan die Marschroute auf der Karte veranschaulichte. »Seid unbesorgt, Mutter Konfessor, die Ordenstruppen werden glauben, dass wir fort sind, aber sobald sie Euch angreifen, werden wir bereit stehen, ihnen einen Stoß mitten zwischen die Rippen zu versetzen.«

Kahlan wandte ihre Aufmerksamkeit abermals dem General zu. »Darüber hinaus müssen wir heimlich eine weitere Streitmacht aus dem Lager schmuggeln, die gegenüber von Captain Abernathy auf der anderen Talseite warten wird, sodass wir den Ordenstruppen, sobald sie durch die Talmitte anrücken, von beiden Seiten gleichzeitig in die Flanke stoßen können. Sie werden kaum wollen, dass wir einen Teil ihrer Streitmacht abteilen und einschließen, und daher den Rückzug antreten. Das ist der Augenblick, wenn unsere Hauptstreitmacht ihnen den Stahl in ihren verwundbaren Rücken stoßen kann.«

Die drei Offiziere dachten schweigend über ihren Plan nach, während draußen das lärmende Chaos in unverminderter Stärke anhielt. Pferde galoppierten vorbei, man hörte das Knarzen und Rattern von Karren, unter den Füßen der vorübergehenden Soldaten knirschte der Schnee, und Männer riefen Befehle.

Lieutenant Leiden hob den Blick und sah Kahlan an. »Mutter Konfessor, diese andere Streitmacht könnten meine Keltonier stellen. Sie dienen alle bereits seit langem gemeinsam in der Armee und sind in ihren Einheiten unter meinem Kommando eingespielt. Wir könnten uns sofort auf den Weg machen, uns aus dem Lager stehlen und uns dort unten sammeln, um den Angriff abzuwarten. Ihr könntet uns eine Schwester mitgeben, die ein vorher abgesprochenes Signal bestätigt, woraufhin ich, sobald Captain Abernathy von der entgegengesetzten Seite attackiert, meine Männer in die Schlacht führen könnte.«

Kahlan war sich darüber im Klaren, dass der Mann in ihren Augen um Wiedergutmachung bemüht war; außerdem war er bestrebt, für Kelton ein gewisses Maß an Eigenständigkeit innerhalb des d’Haranischen Reiches durchzusetzen.

»Der Ort ist gefährlich, Lieutenant; falls etwas schief gehen sollte, werden wir Euch nicht zu Hilfe kommen können.«

Er nickte. »Aber meine Männer sind mit dem Gelände vertraut, außerdem sind wir es gewohnt, uns im Winter in gebirgigem Gelände zu bewegen. Die Imperiale Ordnung stammt aus einer wärmeren Gegend. Was Wetter und Gelände anbetrifft, sind wir ihnen gegenüber im Vorteil. Wir werden es schaffen, Mutter Konfessor.«

Kahlan straffte sich, atmete hörbar aus und musterte den Mann abschätzend. General Meiffert würde die Idee gefallen, das wusste sie, Captain Abernathy ebenfalls; Galea und Kelton standen traditionell in Konkurrenz zueinander, daher würden sie sich beide ebenso gerne allein und auf getrennten Wegen durchschlagen.

Richard hatte diese Länder zusammengeführt, damit sie das Gefühl bekamen, eine Einheit zu bilden, was für ihren Fortbestand überlebenswichtig war. Sie vermutete, dass sie für die gleichen Ziele kämpften, in dieser Hinsicht zogen sie also am selben Strang – sie würden ihre Angriffe aufeinander abstimmen müssen. Auch was Lieutenant Leiden sagte, klang durchaus vernünftig; seine Truppen waren Gebirgskrieger.

»Also gut, Lieutenant.«

»Vielen Dank, Mutter Konfessor.«

Kahlan hielt es für angebracht, ein Versprechen hinzuzufügen. »Bewährt Ihr Euch hierbei, Lieutenant, könnte Euch das eine Beförderung eintragen.«

Lieutenant Leiden salutierte mit einem Faustschlag auf sein Herz. »Meine Männer werden ihre Königin mit Stolz erfüllen.«

Kahlan nahm sein Versprechen mit dem für die Mutter Konfessor charakteristischen Nicken entgegen. An alle gewandt sagte sie: »Wir sollten jetzt besser an die Arbeit gehen.«

Brummend bekundete General Meiffert sein Einverständnis. »Es ist eine günstige Gelegenheit, ihre Stärke beträchtlich zu reduzieren. Wenn wir auch nur halbwegs erfolgreich sind, werden wir sie diesmal ordentlich zur Ader lassen.« Er wandte sich den beiden anderen Offizieren zu. »Lasst uns anfangen. Eure Männer müssen unverzüglich aufbrechen, damit sie genügend Zeit haben, um bis zum Morgen ihre Stellungen zu beziehen. Schwer zu sagen, wie lange sie mit ihrem Angriff auf sich warten lassen, aber sollte er bereits im Morgengrauen erfolgen, möchte ich, dass Ihr in den Stellungen bereit steht.«

»Die Imperiale Ordnung greift mit Vorliebe im Morgengrauen an«, erklärte Captain Abernathy. »In einer knappen Stunde können wir unterwegs sein. Für den Fall, dass sie frühzeitig angreifen, werden wir bis spätestens zum Morgengrauen in Position sein.«

»Wir ebenso«, bestätigte Lieutenant Leiden.

Die beiden Offiziere verbeugten sich und machten Anstalten, sich zu entfernen.

»Captain«, rief Kahlan. Die Männer drehten sich um.

»Mutter Konfessor.«

»Habt Ihr eine Idee, was Prinz Harold und Eure restliche Armee aufgehalten haben könnte? Er hätte längst hier sein sollen. Wir könnten Eure restlichen Männer wirklich gut gebrauchen.«

Captain Abernathy nestelte mit dem Daumen an einem beinernen Knopf auf der Vorderseite seiner dunklen Uniformjacke. »Tut mir Leid, Mutter Konfessor. Auch ich war der Meinung, dass sie längst hätten hier sein sollen. Ich vermag mir nicht vorzustellen, was den Prinzen aufgehalten haben könnte.«

»Er hätte längst hier sein sollen«, wiederholte sie kaum hörbar bei sich. Sie hob den Kopf und sah den Offizier an. »Das Wetter?«

»Das wäre eine Möglichkeit, Mutter Konfessor. Wenn es Unwetter gegeben hat, könnte ihn das behindert haben. Wahrscheinlich ist das der Grund; in diesem Fall, denke ich, wird er in Kürze hier eintreffen. Unsere Soldaten üben im Gebirge unter solchen Witterungsbedingungen.«

Kahlan seufzte. »Hoffen wir also, dass er bald eintreffen wird.«

Captain Abernathy erwiderte ihren Blick voller Zuversicht. »Ich weiß mit absoluter Gewissheit, dass der Prinz es kaum erwarten konnte, seine Männer zu sammeln, um hierher zu eilen und uns beizustehen. Galea erstreckt sich durch das gesamte Tal des Callisidrin.

Der Prinz vertraute mir persönlich an, es sei in unserem eigenen Interesse, die Imperiale Ordnung hier unten aufzuhalten, statt sie tiefer in die Midlands vorrücken zu lassen, wo unsere Ländereien und Familien der Schreckensherrschaft des Feindes anheim fallen würden.«

Kahlan konnte Lieutenant Leiden an den Augen ablesen, dass er dachte, falls Prinz Harold stattdessen beschließen sollte, zum selbstsüchtigen Schutz seiner Heimat Galea bereits im Tal des Callisidrin Widerstand zu leisten, könnte ein solches Hindernis den Vormarsch der Imperialen Ordnung in nordöstlicher Richtung um das dazwischen liegende Gebirge herum bis hinein in die Ebene des Kern ablenken – genau in Leidens Heimat Kelton. Falls der Lieutenant einen solchen Verrat witterte, so war er zumindest klug genug, dies nicht offen auszusprechen.

»Ich weiß, das Wetter war sehr schlecht, als ich aus den Bergen kam«, antwortete Kahlan. »Schließlich ist es Winter. Ich bin sicher, Prinz Harold wird in Kürze eintreffen, um seiner Königin und seinen Brudervölkern im D’Haranischen Reich beizustehen.«

Kahlan bedachte die beiden mit einem Lächeln, um der unterschwelligen Drohung etwas von ihrer Schärfe zu nehmen. »Ich danke Euch, Gentlemen. Am besten, Ihr nehmt die Aufgabe unverzüglich in Angriff. Mögen die Gütigen Seelen Euch den Rücken freihalten.«

Nachdem die Männer salutiert und sich eilends an die Arbeit gemacht hatten, stützte Adie ihre Hände auf die Knie und stemmte sich auf die Beine.

»Wenn Ihr mich nicht mehr braucht … ich muss mich darum kümmern, die Schwestern, Zedd und Warren über unsere Pläne ins Bild zu setzen.«

Kahlan nickte erschöpft. »Danke, Adie.«

Adie, deren Augen vollkommen weiß waren, sah wie gesagt mit Hilfe ihrer Gabe; und genau diesen Blick der Gabe spürte Kahlan jetzt in ihrem Rücken.

»Du hast von deiner Kraft Gebrauch gemacht«, sprach die alte Hexenmeisterin. »Ich kann es dir im Gesicht ansehen. Du brauchst dringend Ruhe.«

»Ja, ich weiß«, erwiderte Kahlan. »Aber es gibt Dinge, die dringend erledigt werden müssen.«

»Sie werden unerledigt bleiben, wenn du krank wirst oder stirbst – was durchaus geschehen könnte.« Adie ergriff mit ihren dürren Fingern Caras Arm. »Sorgt dafür, dass die Mutter Konfessor eine Weile ungestört ist, damit sie, wenn schon sonst nichts, wenigstens den Kopf auf den Tisch legen und ein wenig ruhen kann.«

Cara zog den Klappstuhl heran, stellte ihn neben den Tisch und deutete, Kahlan einen strengen Blick zuwerfend, darauf.

»Setzt Euch. Ich werde Wache stehen.«

Kahlan war in der Tat erschöpft; der Einsatz ihrer Konfessorkraft hatte sie geschwächt. Deshalb brauchte sie Zeit, um sich auszuruhen, zumal der anstrengende Ritt zurück ins Lager alles noch verschlimmert hatte. Sie ging um den Tisch herum und ließ sich schwer auf den Klappstuhl fallen. Dann öffnete sie ihren Pelzüberwurf und ließ ihn auf die Schultern gleiten. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, ihr Schwert abzulegen.

Als Adie sah, dass Kahlan ohne Murren gehorchte, machte sie sich lächelnd auf den Weg. Während Cara am Zelteingang Posten bezog, sank Kahlans Kopf bereits auf das Kissen ihrer Arme. Um nicht von den grauenhaften Ereignissen des Tages überwältigt zu werden, kehrte sie in Gedanken zu Richard zurück und stellte sich sein gewinnendes Lächeln, seine eindringlichen grauen Augen und die sanfte Berührung seiner Hände vor. Ihr fielen die Augen zu. Sie war so müde, dass sich Stuhl und Tisch zu drehen schienen. Augenblicke später spürte sie, Richard noch immer vor ihrem inneren Auge, wie sie in den Schlaf hinüberglitt.

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