14

Jagang fuchtelte mit den Händen. »Zieht Euch aus, Ihr bleibt über Nacht. Es ist schon so lange her.« Diesmal war er es, der mit leerem Blick die Wand anstarrte. »Ihr habt mir im Bett gefehlt, Nicci.«

Sie erwiderte nichts. Weder glaubte sie, dass ihm in seinem Bett etwas fehlte, noch dass er sich überhaupt vorstellen konnte, was es hieß, einen Menschen zu vermissen. Was ihm fehlte, überlegte sie, war die Fähigkeit, jemanden zu vermissen.

Nicci setzte sich auf, schwang die Beine über die Bettkante und befreite sich aus ihrem schwarzen Kleid. Sie zog es aus, streifte es über den Kopf und breitete es über die Lehne eines gepolsterten Ledersessels. Sie suchte ihre Unterkleider aus den Falten der Bettdecke hervor und warf sie auf den Sessel, bevor sie ihre Strümpfe abstreifte und ebenfalls auf den Sitz des Sessels legte. Die ganze Zeit über ließ er ihren Körper nicht aus den Augen und sah zu, wie sie sich um ihr Kleid kümmerte, es glatt strich, um zu richten, was er ihm angetan hatte, und das rätselhafte Verhalten einer Frau beobachtete, die sich wie eine Frau benahm.

Als sie fertig war, wandte sie sich wieder zu ihm um. Aufrecht und stolz stand sie da, er sollte sehen, was er nur mit Gewalt bekommen konnte und niemals freiwillig, als Geschenk. Sie konnte ihm den Ausdruck der Entbehrung im Gesicht ablesen. Dies war der einzige Sieg, der ihr je vergönnt sein würde: jede Vergewaltigung würde ihm nur umso deutlicher vor Augen führen, dass er sie nur auf diese Weise besitzen konnte, und umso rasender würde es ihn machen. Sie würde lieber sterben, als ihm freiwillig die Genugtuung einer solchen Zuwendung zu gönnen, und dieser brutalen Wahrheit war er sich durchaus bewusst.

Schließlich riss er sich gewaltsam aus seinen heimlichen, quälenden Sehnsuchtsträumen, hob den Kopf und sah ihr in die Augen. »Warum habt Ihr Kadar umgebracht?«

Sie saß ihm gegenüber auf der Bettkante – gerade weit genug entfernt, dass er sie nicht ohne weiteres berühren konnte, es sei denn, er stürzte sich auf sie – und zuckte mit den Achseln.

»Ihr seid nicht der Orden. Der Orden ist kein einzelner Mann, sondern das Ideal der Gleichheit. In diesem Sinne wird er jede Einzelperson überdauern. Zurzeit dient Ihr diesem Ideal und dem Orden allein in Eurer Eigenschaft als Rohling. Der Orden vermag jeden Rohling für seine Zwecke einzuspannen, Euch, Kadar, oder irgendeinen anderen. Ich habe lediglich eine Person ausgeschaltet, die Euch eines Tages hätte gefährlich werden können, bevor Ihr Gelegenheit gehabt hättet, über Eure gegenwärtige Position hinaus aufzusteigen.«

Er grinste. »Erwartet Ihr tatsächlich, dass ich Euch glaube, Ihr hättet mir damit einen Gefallen getan? Jetzt nehmt Ihr mich auf den Arm.«

»Wenn Euch die Vorstellung gefällt, bitte.«

Ihre glatten weißen Gliedmaßen standen in lebhaftem Kontrast zu den schweren, farbenfroh verzierten, in dunklem Grün gehaltenen Bettdecken und Laken. Auf diese ließ er sich zurücksinken und lag, auf mehrere zerknüllte Kissen gestützt, schamlos entblößt vor ihr. Seine Augen wirkten noch düsterer als sonst.

»Was hat es mit all dem Gerede von ›Jagang dem Gerechten‹ auf sich, das mir ständig zu Ohren kommt?«

»Euer neuer Titel. Er ist es, der Euch retten und zum Sieg verhelfen wird, der Euch mehr Ruhm einbringen wird als alles andere. Doch als Belohnung dafür, dass ich eine künftige Gefahr für Eure Position ausschalte und Euch zu einem Volkshelden mache, schlagt Ihr mich blutig.«

Er schob einen Arm hinter seinen Kopf. »Manchmal bringt Ihr mich so weit, die Geschichten zu glauben, die die Leute sich erzählen, dass Ihr wahrhaftig den Verstand verloren habt.«

»Und wenn Ihr sie alle tötet?«

»Dann sind sie tot.«

»Vor kurzem bin ich durch von Euren Soldaten heimgesuchte Städte gekommen. Die Bewohner haben sie offenbar verschont – zumindest haben sie nicht, wie noch zu Anfang ihres Einmarschs in die Neue Welt, jeden in Sichtweite abgeschlachtet.«

Er schnellte vor, griff ihr mit der Faust ins Haar und riss sie fauchend neben sich auf den Rücken. Ihr stockte der Atem, als er sich auf einen Ellbogen stützte und ihr mit seinem verstörenden Blick tief in die Augen sah.

»Eure Aufgabe ist es, an den Menschen ein Exempel zu statuieren, ihnen unmissverständlich klar zu machen, dass sie einen Beitrag zu unseren Zielen leisten müssen. Mit dieser Aufgabe habe ich Euch betraut.«

»Ach, tatsächlich? Und warum haben dann nicht auch die Soldaten exemplarische Bestrafungen vorgenommen? Warum haben sie diese Städte verschont? Warum haben nicht auch sie dazu beigetragen, den Menschen Angst und Schrecken einzujagen? Warum haben sie nicht jede Stadt und jede Ortschaft auf ihrem Weg in Schutt und Asche gelegt?«

»Über wen, von meinen Soldaten abgesehen, sollte ich dann herrschen? Wer soll die Arbeit tun? Wer all die Erzeugnisse herstellen? Wer die Lebensmittel anbauen? Wer würde Abgaben entrichten? Wem soll ich die Hoffnung der Imperialen Ordnung überbringen? Wer wäre noch übrig, um dem großen Kaiser Jagang zu huldigen, wenn ich sie alle töte?«

Er ließ sich auf den Rücken fallen. »Mag sein, dass man Euch Herrin des Todes nennt, trotzdem können wir Euch unmöglich Euren Willen lassen und einfach alle umbringen. In dieser Welt seid Ihr an die Ziele des Ordens gebunden. Wenn die Menschen das Gefühl haben, die Herrschaft des Ordens kann nichts als ihren Tod bedeuten, werden sie bis zum Schluss Widerstand leisten. Sie müssen erkennen, dass es ausschließlich ihr Widerstand ist, mit dem sie sich einen raschen und sicheren Tod einhandeln. Merken sie aber, dass unser Kommen ihnen ein Leben in Rechtschaffenheit ermöglicht, ein Leben, das den Menschen unter den Schöpfer und das Wohlergehen der Menschen über alles andere stellt, werden sie uns mit offenen Armen willkommen heißen.«

»Ihr habt dieser Stadt den Todesstoß versetzt«, erwiderte sie vorwurfsvoll und zwang ihn damit, unbewusst den Beweis für die Richtigkeit ihrer Tat zu liefern. »Obwohl sie sich für die Imperiale Ordnung entschieden hatte.«

»Ich gab den Befehl, allen noch lebenden Stadtbewohnern die Erlaubnis zu erteilen, in ihre Häuser zurückzukehren. Das Wüten hat ein Ende. Die Menschen haben ihr Versprechen nicht gehalten und damit das brutale Vorgehen selbst herausgefordert; sie haben es erlebt, doch das ist jetzt vorbei, und eine neue Zeit der Ordnung ist angebrochen. Alle Menschen werden gemeinsam regiert werden und gemeinsam in ein neues Zeitalter des Wohlstands eintreten – unter der Herrschaft der Imperialen Ordnung. Vernichtet wird nur, wer Widerstand leistet – nicht weil er sich widersetzt, sondern letzten Endes, weil er Verräter am Wohl seiner Mitmenschen ist und deshalb ausgemerzt werden muss.«

»Hier in Anderith war der Wendepunkt unseres Kampfes. Das Volk hat endlich den Wert dessen, was wir zu bieten haben, erkannt und Richard eigenhändig abgewählt. Er kann nicht länger behaupten, diese Menschen zu vertreten. Trotzdem seid Ihr einmarschiert und habt sie niedergemetzelt…«

»Die Anführer hier haben gewisse Versprechungen mir gegenüber nicht gehalten – wer weiß, welchen Anteil die allgemeine Bevölkerung daran hatte –, daher musste das Volk einen Preis bezahlen, gleichzeitig aber hat es sich, für seinen Mut, Lord Rahl und die überkommenen, eigensüchtigen und uninspirierten Sitten, die er ihnen anzubieten hatte, zurückzuweisen, in seiner Gesamtheit einen Platz innerhalb der Imperialen Ordnung verdient. Das Blatt hat sich gewendet. Die Menschen setzen ihr Vertrauen nicht mehr auf Lord Rahl, und er kann nicht mehr auf sie vertrauen. Richard Rahl ist ein gefallener Führer.«

Innerlich musste Nicci lächeln, es war ein trauriges Lächeln. Sie war eine gefallene Frau, und Richard ein gefallener Mann. Ihr Schicksal war besiegelt.

»Das mag vielleicht hier, an diesem einen begrenzten Ort zutreffen«, erwiderte sie, »aber er ist alles andere als besiegt. Er ist immer noch gefährlich, schließlich habt Ihr es Richard Rahl zu verdanken, dass Ihr Eure angestrebten Ziele hier in Anderith nicht verwirklichen konntet. Er hat nicht nur Euren eindeutigen Sieg verhindert, indem er riesige Vorratslager zerstörte und die Systeme von Produktion und Verteilung in völligem Chaos hinterließ, er ist Euch auch entwischt, als Ihr ihn eigentlich hättet gefangen nehmen müssen.«

»Ich werde ihn noch bekommen!«

»Wirklich? Ich weiß nicht recht.« Sie beobachtete seine Faust und wartete, bis die Spannung aus ihr wich, bevor sie weitersprach. »Wann werdet Ihr Eure Streitkräfte nach Norden marschieren lassen, in die Midlands?«

Jagang strich sich mit der Hand über seine behaarte Brust. »Schon bald. Ich möchte ihnen vorher Zeit geben, unachtsam zu werden. Sobald sie selbstgefällig sind, werde ich nach Norden vorstoßen. Ein großer Heerführer muss im Stande sein, das Wesen einer Schlacht zu deuten und seine Taktik darauf einzustellen. Wir werden als Befreier nach Norden in die Midlands einmarschieren und den Menschen die Herrlichkeit des Schöpfers bringen. Wir müssen die Herzen und den Verstand der noch Unbekehrten gewinnen.«

»Habt Ihr diesen Wechsel beschlossen? Ganz allein? Der Wille des Schöpfers spielt in Euren Überlegungen keine Rolle?«

Er funkelte sie ob ihrer Frechheit an, so als wollte er sagen, sie könne wohl kaum so dumm sein, eine solche Frage zu stellen.

»Ich bin Kaiser, ich habe es nicht nötig, unsere geistigen Führer um Rat zu fragen, andererseits ist ihr Rat stets willkommen, deshalb habe ich mit ihnen bereits gesprochen; sie haben sich über mein Vorhaben zustimmend geäußert. Bruder Narev hält es für klug und hat seinen Segen erteilt. Ihr haltet Euch besser an Eure Aufgabe, jeden Gedanken an Widerstand im Keim zu ersticken. Niemand wird eine Schwester vermissen, solltet Ihr meine Befehle nicht befolgen. Ich habe genug andere.«

So konkret seine Drohungen waren, sie ließen sie ungerührt. Sein argwöhnischer Blick verriet, dass auch er ihre Vision zu begreifen begann.

»Euer Vorgehen ist durchaus angemessen«, sagte sie, »nur muss es in kleine Häppchen zerlegt werden, die die Menschen schlucken können. Sie verfügen nicht über die Weisheit des Ordens, die sie erkennen lässt, was für sie am besten ist – dazu ist die breite Masse selten fähig. Selbst ein Dickschädel wie Ihr wird einsehen müssen, dass ich Eure Pläne vorausgeahnt habe, indem ich denen, die zu töten Ihr Euch nicht leisten könnt, zu der Erkenntnis verhalf, Ihr hättet sie wegen Eures Sinnes für Gerechtigkeit verschont. Mit der Kunde von solchen Taten werdet Ihr die Herzen gewinnen.«

Er warf ihr einen Seitenblick zu. »Ich bin die reinigende Flamme des Ordens. Das Feuer ist ein notwendiger Brand, aber nicht das eigentliche Ziel – es ist lediglich ein Mittel zum Zweck. Aus der Asche, die ich, Jagang, erzeuge, kann eine Ordnung entstehen und gedeihen. Dieses Ziel, das neue, ruhmvolle Zeitalter der Menschheit, rechtfertigt dieses Mittel. Es ist meine Verantwortung – und nicht Eure –, darüber zu entscheiden, was gerecht ist: wann und wie ich Recht spreche und wem es zugute kommt.«

Seine Eitelkeit ließ sie zunehmend ungehalten werden, und ihre Stimme troff vor Verachtung. »Ich habe dem lediglich einen Namen gegeben – Jagang der Gerechte – und, als die Gelegenheit günstig war, damit begonnen, Euren neuen Titel zu verbreiten. Dafür habe ich Kadar Kardeef geopfert, und zwar aus genau denselben Gründen, die Ihr soeben aufgelistet habt. Es musste jetzt geschehen, damit es genügend Zeit hat, sich zu verbreiten und aufzublühen, sonst hätte sich die Neue Welt gegenüber der Imperialen Ordnung nur unwiderruflich verhärtet. Ich habe Zeit und Ort gewählt und durch den Einsatz von Kadar Kardeefs Leben, das Leben eines Kriegshelden, bewiesen, dass Ihr vor allem den Zielen des Ordens treu seid.

Zu Eurem Vorteil. Jeder Rohling hätte diesen Brand entzünden können; dieser neue Titel ist ein Beweis für Eure sittlich-visionäre Kraft – ein weiteres Zeichen dafür, dass Ihr verdienstvoller seid als andere Männer. Ich habe den entscheidenden Samen ausgestreut, der Euch zum Helden des gemeinen Volkes und, noch wichtiger, der Priester machen wird. Wollt Ihr etwa so tun, als hieltet Ihr den Titel für unangemessen? Oder dass er Euch keine guten Dienste leisten wird?« Nicci blickte Jagang fragend an.

»Was ich allein getan habe, wird Euch helfen, etwas zu erreichen, wozu Eure mächtige Armee nicht fähig ist: kampflos Ergebenheit und Gehorsam zu gewinnen, und das umsonst. Mit Kadars Leben habe ich, Nicci, mehr aus Euch gemacht, als Ihr jemals allein hättet schaffen können. Ich, Nicci, habe Euch den Ruf des Ehrenmannes verschafft. Ich, Nicci, habe Euch zu einem Anführer gemacht, dem die Menschen vertrauen, weil sie Euch für gerecht halten.«

Seine Augen von ihrem leidenschaftlichen Funkeln abwendend, verfiel er eine Weile ins Grübeln. Schließlich öffnete er leicht den Arm, und seine Finger wanderten zärtlich an ihrem Schenkel hinab. Die Berührung kam einem Eingeständnis gleich – einem Eingeständnis, dass sie Recht hatte, selbst wenn er es nicht offen aussprechen mochte.

Nach wenigen Augenblicken gähnte er, und ihm fielen die Augen zu. Sein Atem wurde gleichmäßiger, und er glitt in ein kurzes Nickerchen hinüber, wie er es häufiger in ihrer Gegenwart tat. Er erwartete, dass sie an Ort und Stelle verharrte, so dass sie ihm bei seinem Erwachen zur Verfügung stand. Vermutlich hätte sie sich aus dem Staub machen können, aber noch war es nicht so weit. Noch nicht.

Eine Stunde später wachte er schließlich wieder auf. Nicci starrte noch immer auf den Baldachin, in Gedanken bei Richard. Irgendein Mosaikstein schien in ihrem Plan zu fehlen, irgendein zusätzliches Detail, das nach ihrem Empfinden noch seinen Platz finden musste.

Jagang hatte ihr im Schlaf den Rücken zugekehrt, jetzt drehte er sich wieder um. Seine dunklen Augen erfassten sie mit einem Blick von frisch entfachter Lust. Er zog sie an sich. Sein Körper war warm wie ein Stein in der Sonne und nur unwesentlich geschmeidiger.

»Seid mir zu Willen«, kommandierte er mit heiser knurrender Stimme, die jede andere Frau so eingeschüchtert hätte, dass sie seinem Befehl unverzüglich nachgekommen wäre.

»Sonst was? Sonst werdet Ihr mich töten? Hätte ich davor Angst, wäre ich nicht hier. Ich bin hier, weil ich dazu gezwungen werde, nicht aus freien Stücken. Weder werde ich mich freiwillig fügen, noch lasse ich zu, dass Ihr Euch so lange selbst betrügt, bis Ihr glaubt, ich wollte Euch.«

Er verpasste ihr einen Schlag mit dem Handrücken, der sie quer übers Bett schleuderte. »Und ob Ihr Euch freiwillig fügen werdet!« Er packte sie am Handgelenk und zog sie wieder zu sich hin. »Warum wärt Ihr sonst hier?«

»Ihr habt mich herzitiert.«

Er feixte. »Und Ihr seid gekommen, obwohl Ihr hättet fortlaufen können.«

Sie öffnete den Mund, doch fiel ihr keine Antwort ein, die sie hätte in Worte fassen können, keine Antwort, die er verstehen würde.

Er ließ sich mit einem triumphierenden Grinsen auf sie fallen und presste seine Lippen auf ihren Mund. So sehr es sie schmerzte, für Jagang war dieses Vorgehen geradezu zärtlich. Mehrfach hatte er ihr erklärt, sie sei die einzige Frau, die er jemals küssen wollte. Er schien zu glauben, wenn er ihr diese Gefühle offenbarte, habe sie gar keine andere Wahl, als sie ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen, so als seien ausgesprochene Gefühle eine Währung, mit der er Zuneigung auf Befehl erkaufen konnte.

Dies war erst der Beginn einer langen Nacht – einer langen, quälenden Prüfung –, dessen war sie sich bewusst. Sie würde seine gewaltsame Schändung bis zum Morgen noch mehrmals über sich ergehen lassen müssen. Immer wieder ging ihr seine Frage an jener entrückten Stelle ihres Verstandes durch den Kopf.

Der Morgen kam, begleitet vom dumpfen Pochen der durch die vorausgegangenen Schläge hervorgerufenen Kopfschmerzen und den spitzeren Schmerzen dort, wo er sie geschlagen hatte, nachdem er dahinter gekommen war, dass das, was er für willige Unterwerfung hielt, nichts als eine Täuschung war, die ihn noch wütender machte als zuvor. Die Kopfkissen waren fleckig von ihrem Blut. Es war eine lange Nacht voller ungewöhnlicher Empfindungen und Erfahrungen gewesen.

Sie wusste, sie war böse und hatte es verdient, auf derart brutale Weise vergewaltigt zu werden. Auch sah sie sich außer Stande, moralische Einwände dagegen vorzubringen; selbst in den entsetzlichen Dingen, die er ihr antat, war Jagang nicht annähernd so verdorben wie sie. Jagang sündigte in den einfachen Dingen des Fleisches, was nicht weiter verwunderlich war, denn alle Menschen waren korrupt, wenn es um Fleischliches ging – ihre Gleichgültigkeit für das Leiden, das sie umgab, war jedoch ein Versagen in geistigen Dingen. Darin, das wusste sie, zeigte sich die wahre Schlechtigkeit, deswegen hatte sie alles verdient, was er ihr antat. Zurzeit war der düstere Ort tief in ihrem Innern nahezu übersättigt.

Nicci fasste sich an den Mund und stellte fest, dass die Platzwunden schmerzhaft, aber geschlossen waren. Das Verheilen der Wunden bescherte ihr nicht dieselben Glücksgefühle wie ihr berechtigter Erhalt, daher beschloss sie, eine der Schwestern zu bitten, sie zu heilen, statt ihm die Genugtuung zu geben, Zeuge zu sein, wenn sie die Unannehmlichkeiten ihrer Verletzungen durchlitt.

Damit wandten sich ihre Gedanken Schwester Lidmila zu.

Nicci merkte, dass Jagang nicht neben ihr im Bett lag. Sie richtete sich auf und sah ihn nicht weit entfernt in einem Sessel, von wo aus er sie beobachtete.

Sie zog das Laken hoch, um die mit feinen Tröpfchen getrockneten Bluts gesprenkelten Brüste zu bedecken. »Ihr seid ein Schwein.«

»Ihr könnt nicht genug von mir bekommen. Was immer Ihr auch sagt, Nicci, es zieht Euch zu mir. Wo solltet Ihr sonst bleiben?«

Diese albtraumhaften Augen sahen sie an und versuchten, einen Weg in ihren Verstand zu finden, doch es gab ihn nicht. Er konnte ihr nicht mehr in ihren Albträumen erscheinen, denn Richard schützte ihren Verstand.

»Nicht aus den Gründen, die Ihr so gerne glauben wollt. Ich bleibe, weil das höchste Ziel des Ordens ein moralisches ist. Ich wünsche ihm den Erfolg und möchte, dass das Leid der hilflosen Opfer des Lebens ein Ende hat. Ich möchte, dass endlich jeder gleichberechtigt ist und alles hat, was er zum Leben braucht. Fast mein ganzes Leben habe ich auf diese Ziele hingearbeitet. Der Orden kann dafür sorgen, dass eine solch gerechte Welt entsteht. Wenn ich Euch für dieses Ziel ertragen oder Euch gar helfen muss, dann wäre das nur eine unbedeutende Kröte, die ich zu schlucken hätte.«

»Ihr klingt so überaus nobel, trotzdem denke ich, es steckt etwas viel Grundsätzlicheres dahinter. Ich denke, wenn Ihr könntet, wärt Ihr längst gegangen, oder aber« – er lächelte – »Ihr wärt fortgegangen, hättet Ihr es wirklich gewollt. Was stimmt denn nun, Nicci?«

Sie wollte nicht darüber nachdenken, der Kopf tat ihr weh.

»Was soll all das Gerede, Ihr wollt einen Palast errichten?«

»Dann habt Ihr also davon gehört.« Er atmete tief durch und seufzte versonnen. »Es wird der großartigste Palast werden, der je errichtet wurde. Ein Ort, der dem Kaiser der Imperialen Ordnung, dem Mann, der sowohl die Alte als auch die Neue Welt regiert, angemessen ist.«

»Dem Mann, der sie regieren möchte. Dabei steht Euch jedoch Lord Rahl im Weg. Wie oft hat er Euch eigentlich schon hereingelegt?«

In Jagangs Augen blitzte eine Wut auf, die leicht in Gewalt umschlagen konnte. Richard hatte Jagangs Absichten eine Reihe von Malen durchkreuzt. Auch wenn Richard Jagang nicht besiegt hatte, so hatte er ihn doch zutiefst gekränkt, was für eine so winzige Armee gegen die imponierende Streitmacht der Imperialen Ordnung eine beachtliche Leistung war. Für einen Mann vom Schlage Jagangs war die Demütigung eines Stiches nicht geringer, als hätte man ihn mit einem Spieß durchbohrt.

»Seid völlig unbesorgt, ich werde Richard Rahl beseitigen«, entgegnete Jagang mit leisem Knurren.

Sie wechselte das Thema und kam wieder darauf zurück, was sie eigentlich wissen wollte. »Seit wann ist der Welteroberer Jagang so verweichlicht, dass er in Prunk und Herrlichkeit leben will?«

»Nun, ich bin jetzt Jagang der Gerechte. Ihr erinnert Euch?« Er kehrte ins Bett zurück und ließ sich neben sie fallen. »Tut mir Leid, dass ich Euch wehgetan habe, Nicci. Im Grunde möchte ich das nicht, nur zwingt Ihr mich dazu. Ihr wisst, dass ich Euch mag.«

»Ihr mögt mich, und dennoch schlagt Ihr mich? Ihr mögt mich, trotzdem habt Ihr Euch nie die Mühe gemacht, mir von einem so gewaltigen Vorhaben wie der Errichtung eines Palastes zu erzählen? Ich bedeute Euch nicht das Geringste.«

»Ich sagte es bereits, es tut mir Leid, dass ich Euch wehgetan habe – doch die Schuld daran liegt bei Euch, und das wisst Ihr auch.« Er sprach die Worte beinahe liebevoll. Bei der Erwähnung des Palastes hatte sein Gesicht einen schwärmerischen Ausdruck angenommen. »Es ist nur recht und billig, dass mir endlich das Prestige eines solch kolossalen, monumentalen Bauwerkes zuteil wird.«

»Ihr, der Mann, der in den Zelten auf dem Schlachtfeld zufrieden war, möchte jetzt in einem prachtvollen Steingebäude wohnen? Warum?«

»Weil ich es, sobald ich die Neue Welt unter die Führung der Imperialen Ordnung gebracht habe, dem Volk schuldig bin, mich als sein Anführer in majestätischer Umgebung zu zeigen … es wird jedoch mehr als schlichten Prunk aufweisen.«

»Aber sicher«, meinte sie hinterhältig.

Er ergriff ihre Hand. »Ich werde den Titel ›Jagang der Gerechte‹ voller Stolz tragen, Nicci. Ihr habt ganz Recht, die Zeit ist reif für einen solchen Schritt. Ich war lediglich erzürnt, weil Ihr diesen Schritt fälschlicherweise unternommen habt, ohne ihn zuvor mit mir abzusprechen. Aber das wollen wir jetzt vergessen.«

Sie erwiderte nichts. Er umschloss ihre Hand fester, vermutlich um ihr zu zeigen, wie ernst es ihm war.

»Ihr werdet von dem Palast begeistert sein, wenn er erst fertig ist.« Mit der Rückseite der Finger seiner anderen Hand strich er ihr zärtlich über die Wange. »Wir alle werden dort sehr lange Zeit leben.«

Die Worte ließen sie aufhorchen. »Eine sehr lange Zeit?«

Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass mehr dahinter steckte als nur sein eitler Wunsch nach einem Palast, nachdem Richard ihm den Palast der Propheten verwehrt hatte. Er wollte das, was Richard ihm darüber hinaus verwehrt hatte. War es möglich…

Sie sah in sein Gesicht und suchte nach der Antwort. Er lächelte bloß, als er ihren fragenden Blick bemerkte.

»Die Bauarbeiten haben bereits begonnen«, sagte er, wie um von diesen Fragen abzulenken. »Architekten und bedeutende Bauherren aus der gesamten Alten Welt sind zusammengekommen, um daran zu arbeiten. Jeder möchte an einem Projekt von diesen Ausmaßen teilhaben.«

»Und Bruder Narev?«, hakte sie nach. »Was hält er davon, einem Mann ein derart leichtsinniges Denkmal zu errichten, wo es doch Wichtigeres für die zahlreichen Bedürftigen zu erledigen gäbe?«

»Bruder Narev und seine Gefolgsleute stehen diesem Vorhaben durchaus wohlgesonnen gegenüber.« Jagang ließ ein verschlagenes Lächeln sehen. »Sie werden natürlich ebenfalls dort leben.«

Jetzt fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

»Er wird den neuen Palast mit einem Bann verzaubern«, sagte sie leise, erstaunt, wie zu sich selbst.

Jagang lächelte nur, während er sie beobachtete, ihre Reaktion bereitete ihm sichtlich Freude.

Bruder Narev hatte fast ebenso lange im Palast der Propheten gelebt wie sie, fast einhundertsiebzig Jahre, und doch schien er – genau wie sie – während dieser langen Zeit nur zehn oder fünfzehn Jahre gealtert zu sein. Niemand außer Nicci hatte je davon erfahren, dass er etwas anderes als ein Stallbursche war – niemand wusste, dass er die Gabe besaß.

Während dieser langen Zeit musste er, gemeinsam mit ihr und all den anderen, die ihn kaum beachteten, den Bann studiert haben, der den Palast umgab. Ihres Wissens waren die meisten von Bruder Narevs Anhängern junge Zauberer aus dem Palast der Propheten gewesen; sie hatten Zutritt zu den Gewölbekellern. Gut möglich, dass auch sie Informationen beigesteuert hatten, die ihm dabei halfen. Aber war er wirklich zu so etwas im Stande?

»Erzählt mir von dem Palast«, sagte sie, seine Stimme dem wortlos forschenden Blick aus seinen albtraumhaften Augen vorziehend.

Zuerst küsste er sie, so wie ein Mann eine Frau küsst, nicht wie ein Rohling sein Opfer. Sie ließ es mit nicht mehr Gewogenheit über sich ergehen als alles andere. Er schien es diesmal gar nicht zu bemerken, nach dem Lächeln auf seinem Gesicht hatte er offenbar Gefallen daran gefunden.

»Wenn man alle Korridore durchwandern will, entspricht das einem Fußmarsch von beinahe fünfzehn Meilen.« Er machte eine ausladende Handbewegung und begann, den Palast in der Luft vor ihnen zu skizzieren. Während er weitersprach, blieb sein Blick auf die imaginären Umrisse geheftet, die dort im leeren Raum standen.

»Die Welt hat noch nichts Vergleichbares gesehen. Während ich unser Werk fortführe, der Neuen Welt die Hoffnung der Imperialen Ordnung zu geben, den Sündigen und Habgierigen das wahre Wort des Schöpfers zu verkünden und die selbstsüchtigen Ideale der alten Religion der Magie auszumerzen, werden zu Hause in meinem Heimatland die Arbeiten zur Errichtung des Palastes fortgesetzt. Steinbrüche werden auf Jahre hinaus damit beschäftigt sein, all das Felsgestein zu gewinnen, das man bei dem Bau verarbeiten wird. Die Vielfalt der Gesteinsarten wird keinen Zweifel an der Pracht des Bauwerkes lassen. Der Marmor wird vom Feinsten, das Holz ausschließlich vom Allerbesten sein. Nur außergewöhnliche Materialien werden im Palast Verwendung finden. Aus alledem werden die besten Handwerker ein prachtvolles Bauwerk schaffen.«

»Gewiss, doch obwohl vielleicht noch andere dort leben werden«, spottete sie mit kühler Verachtung, »wird er nichts weiter sein als das pomphafte Denkmal eines einzelnen Mannes: des großen und mächtigen Kaisers Jagang.«

»Nein, er wird dem Ruhm des Schöpfers geweiht sein.«

»Ach ja? Dann wird der Schöpfer dort ebenfalls seinen Wohnsitz nehmen?«

Jagang runzelte missbilligend die Stirn wegen ihrer gotteslästerlichen Bemerkung. »Bruder Narev möchte, dass der Palast belehrend auf das Volk einwirkt. Während ich der Imperialen Ordnung den Weg bereite, stellt er dem Vorhaben seinen geistigen Beistand zur Verfügung und wird die Bauarbeiten persönlich überwachen.«

Das war es, was sie wissen wollte.

Er starrte auf die unsichtbaren Linien, die noch immer in der Luft vor ihnen standen. Seine Stimme bekam einen ehrfürchtigen Beiklang.

»In diesem Punkt teilt Bruder Narev meine Vision. Er war immer wie ein Vater zu mir, er hat das Feuer in meinem Leib entfacht. Seine spirituelle Unterweisung war mir ein Leben lang Inspiration. Er erlaubt mir, im Vordergrund zu stehen und den Ruhm für unsere Siege zu beanspruchen, doch ohne seine Unterweisung in Moral wäre ich ein Nichts. Was ich gewinne, gewinne ich als ausführende Hand des Ordens, doch eine Hand ist nur ein Teil des Ganzen, so wie wir alle nichts als unbedeutende Einzelteile der Gesellschaft als Ganzes sind. Ihr habt Recht: zahlreiche andere könnten meinen Platz im Orden einnehmen, dennoch ist es meine Pflicht, die Rolle des Führenden zu übernehmen. Ich würde das von Bruder Narev in mich gesetzte Vertrauen niemals enttäuschen – das käme einem Verrat an unserem Schöpfer gleich. Er weist uns allen den Weg.

Mein Gedanke zielte ausschließlich darauf ab, einen angemessenen Palast für uns alle zu errichten, einen Ort, von dem aus ich zum Wohle aller herrschen kann. Bruder Narev war es, der diesen Traum aufgriff und ihm eine moralische Bedeutung verlieh, indem er sich vorstellte, wie jeder beim Anblick dieses Bauwerkes den Platz des Menschen innerhalb der neuen Ordnung vor sich sieht – da der Mensch dem Ruhm des Schöpfers niemals gerecht werden kann und er, als Einzelner, nichts weiter ist als ein bedeutungsloses Mitglied der größeren Gemeinschaft aller Menschen. Deshalb kommt ihm keine andere Rolle zu, als seine bedürftigen Mitmenschen moralisch aufzurichten, damit sie gemeinsam Erfolg haben können. Gleichzeitig wird es aber auch ein Ort sein, der die Menschen zur Demut anhält, denn er wird ihnen im Angesicht der Herrlichkeit ihres Schöpfers ihre völlige Bedeutungslosigkeit vor Augen führen, ihnen die Verderbtheit des Menschen, sein gequältes, gebeugtes, minderwertiges Wesen zeigen, denn darin gleichen sich alle Menschen dieser Welt.«

Nicci sah den Palast beinahe vor sich, als er von ihm sprach. Er würde in der Tat eine der Bescheidenheit förderliche Wirkung auf das Volk haben. Fast wäre es ihm gelungen, sie mit diesem Gerede ebenso zu begeistern, wie dies Bruder Narev wohl seinerzeit gelungen war.

»Deswegen bin ich hier geblieben«, sagte sie leise, »weil der Orden ein rechtschaffenes Ziel verfolgt.«

Der fehlende Mosaikstein war endlich gefunden.

In der Stille küsste Jagang sie erneut. Sie gestattete ihm, den Kuss noch zu beenden, dann löste sie sich aus seiner Umarmung. Mit einem zurückhaltenden Lächeln beobachtete er, wie sie sich erhob und anzukleiden begann.

»Es wird Euch dort gefallen, Nicci. Es wird ein Ort sein, der sich für Euch ziemt.«

»Ach? Als Königin der Sklaven?«

»Als Königin, wenn Ihr wollt. Ich habe vor, Euch mit einer Machtbefugnis auszustatten, wie Ihr sie zuvor noch niemals hattet. Wir werden dort glücklich sein, Ihr und ich, wahrhaft glücklich, und zwar für sehr, sehr lange Zeit.«

Sie streifte einen Strumpf über ihr Bein. »Als Schwester Ulicia und die vier in ihrer Begleitung einen Weg fanden, Euch zu verlassen, entschied ich mich, ihre Entdeckung außer Acht zu lassen und hier zu bleiben, denn ich weiß, dass der Orden der Menschheit die einzige moralische Lebensweise bieten kann. Aber jetzt…«

»Ihr seid geblieben, weil Ihr ohne den Orden ein Nichts wärt.«

Sie wich seinem Blick aus, zog ihr Kleid über den Kopf, steckte die Arme durch die Ärmel und streifte den Rock über die Hüften. »Ohne den Orden bin ich ein Nichts, und mit ihm auch. Das gilt für alle. Wir alle sind fehlerhafte, armselige Kreaturen, das liegt in der Natur des Menschen; so lehrt es uns der Schöpfer. Die Imperiale Ordnung aber zeigt den Menschen, dass es ihre Pflicht ist, ein besseres Leben zum Wohle aller zu führen.«

»Und der Kaiser der Imperialen Ordnung, das bin ich!« Sein gerötetes Gesicht kühlte langsamer ab, als es sich erhitzt hatte. In der völligen Stille machte er eine unbestimmte Handbewegung und fuhr in gemäßigterem Tonfall fort: »Die Welt wird unter der Imperialen Ordnung vereint sein. Wir werden, sobald er fertig ist, im Palast glücklich sein, Nicci. Ihr und ich, unter der geistigen Führung unserer Priester. Ihr werdet sehen. Mit der Zeit, wenn…«

»Ich gehe.« Sie zog einen Stiefel an.

»Das lasse ich nicht zu.«

Nicci hielt im Überstreifen ihres anderen Stiefels inne und sah in seine unergründlichen Augen. Mit einem Fingerschnippen deutete sie auf eine steinerne, auf einem Tisch an der gegenüberliegenden Wand stehende Vase. Ein Licht blitzte auf. Die Vase explodierte in einer Wolke aus Staub und Splittern, mit einem Geräusch, das den Raum erbeben ließ. Die Wandbehänge zitterten, die Scheiben in den Fenstern schepperten.

Als der Staub sich gelegt hatte, sagte sie: »Ihr lasst es nicht zu?« Sie beugte sich vor und schnürte die Senkel ihrer Stiefel.

Jagang schlenderte zum Tisch hinüber und fuhr mit den Fingern durch den Staub, den einzigen Überresten der steinernen Vase, dann wandte er sich in seiner ganzen nackten Pracht wieder zu ihr um.

»Wollt Ihr mir drohen? Glaubt Ihr tatsächlich, Ihr könntet Eure Kraft gegen mich einsetzen?«

»Ich glaube es nicht« – sie zurrte die Senkel mit einem Ruck fest – »ich weiß es. Die Wahrheit ist, ich habe mich entschieden, es nicht zu tun.«

Er nahm eine trotzige Haltung an. »Und warum?«

Nicci richtete sich auf und sah ihm ins Gesicht. »Weil der Orden, wie Ihr sagt, Euch braucht, beziehungsweise einen Rohling wie Euch. Ihr dient den Zielen der Imperialen Ordnung – Ihr seid ihr langer Arm, Ihr überbringt das reinigende Feuer. Diese Funktion erfüllt Ihr überaus geschickt, man könnte sogar behaupten, Ihr erfüllt diese Aufgabe mit außergewöhnlichem Talent.

Ihr seid Jagang der Gerechte. Ihr erkennt die Weisheit in dem Titel, den ich Euch verliehen habe, und werdet ihn dazu benutzen, die Sache der Imperialen Ordnung zu unterstützen. Das ist der Grund, weshalb ich mich entschieden habe, meine Kraft nicht gegen Euch zu gebrauchen. Das wäre, als setzte ich meine Kraft gegen die Imperiale Ordnung ein, gegen meine Pflicht gegenüber der Zukunft der Menschheit.«

»Warum wollt Ihr dann fort?«

»Weil ich nicht anders kann.« Sie bedachte ihn mit einem Blick eiskalter Entschlossenheit und tödlicher Bedrohung. »Bevor ich fortgehe, werde ich einige Zeit bei Schwester Lidmila verbringen. Ihr müsst Euch augenblicklich und vollständig aus ihrem Verstand zurückziehen und Euch während der gesamten Zeit, die ich in ihrer Gesellschaft weile, von ihr fern halten. Wir werden Eure Zelte benutzen, da Ihr sie zurzeit nicht benötigt. Ihr werdet dafür sorgen, dass niemand uns behelligt, ganz gleich, wie lange wir brauchen. Wer ohne meine ausdrückliche Erlaubnis das Zelt betritt, stirbt. Das gilt auch für Euch, darauf habt Ihr meinen Eid als Schwester der Finsternis. Wenn ich fertig bin, nach meiner Abreise, könnt Ihr mit Schwester Lidmila tun, was immer Euch beliebt – sie töten, falls dies Euer Wunsch sein sollte, obwohl ich nicht recht sehe, warum Ihr Euch die Mühe machen solltet, da sie Euch einen großen Gefallen tun wird.«

»Verstehe.« Seine mächtige Brust hob sich, er atmete tief durch und langsam wieder aus. »Und wie lange werdet Ihr diesmal fort sein, Nicci?«

»Diesmal ist es nicht wie sonst. Diesmal ist es anders.«

»Wie lange?«

»Vielleicht nur kurze Zeit, vielleicht auch sehr lange, ich weiß es noch nicht. Gebt mir die Freiheit zu tun, was ich tun muss, dann werde ich, sofern ich kann, eines Tages zu Euch zurückkehren.«

Er sah ihr in die Augen, doch in ihren Verstand vermochte er nicht hineinzusehen. Ein anderer Mann beschützte ihren Verstand und bewahrte ihre Gedanken davor, geraubt zu werden.

Während all der Zeit, die sie mit Richard verbracht hatte, hatte Nicci niemals in Erfahrung bringen können, wonach es sie am meisten dürstete, in einer Hinsicht hatte sie jedoch zu viel herausgefunden. Die meiste Zeit hatte sie dieses ungewollte Wissen unter dem betäubenden Gewicht der Gleichgültigkeit begraben können. Gelegentlich jedoch stieg es, so wie jetzt, aus seinem Grab hervor und ergriff von ihr Besitz. Dann war sie hilflos in seinem Griff gefangen und konnte nichts tun als abwarten, bis die aus stumpfer Gleichgültigkeit geborene Vergesslichkeit es abermals unter sich begrub.

Den Blick starr in die endlose, finstere Nacht der unmenschlichen Augen Jagangs gerichtet, Augen, in denen sich nichts als die Verderbtheit seiner Seele offenbarte, berührte Nicci mit dem Finger den goldenen Ring, den man auf Geheiß Jagangs durch ihre Unterlippe gebohrt hatte, um sie als seine Leibsklavin zu kennzeichnen. Sie setzte einen fadendünnen Strang Subtraktiver Magie frei, und der Ring hörte auf zu existieren.

»Und wohin werdet Ihr gehen, Nicci?«

»Ich werde Richard Rahl für Euch vernichten.«

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