Das Anwesen war, vermutete sie, ein imposanter Wohnsitz. Nicci war derartige Pracht nicht unbekannt, zumal sie zweifellos schon sehr viel größere Erhabenheit gesehen hatte. Nahezu ein Dreivierteljahrhundert hatte sie inmitten solcher Herrlichkeit gelebt, zwischen den imposanten Säulen und Bögen makelloser Gemächer, zwischen verschlungenen Reben aus geschnitztem Stein und Holztäfelungen, so glatt, als wären sie aus Butter, inmitten von Federbetten und seidenen Überwürfen, erlesenen Teppichen und kostbaren Wandbehängen, von Verzierungen aus Silber und Gold, im Glanz des gleißenden Gefunkels der aus bunt gefärbtem Glas gemachten und zu heroischen Szenen zusammengestellten Fenster. Die Schwestern dort hatten Nicci ihr strahlendes Lächeln gezeigt und ihr geistreiche Unterhaltung geboten.
Verschwendungssucht bedeutete ihr nicht mehr als der Schotter der Straße, als die kalten, feuchten, auf unebenem Boden ausgebreiteten Laken, die im Schlamm zwischen schmierigen Rinnsteinen, im Kot enger Gassen angelegten Nachtlager mit nichts als dem nackten Himmel über dem Kopf. Die zusammengekauerten Menschen dort hatten nie ein Lächeln für sie übrig, sondern starrten aus eingesunkenen Augen zu ihr hoch wie Tauben, die gurrend um ein Almosen bitten.
Ein Teil ihres Lebens hatte sie in Prunk und Herrlichkeit verbracht, einen anderen inmitten von Schmutz und Unrat. Manche Menschen waren dazu verdammt, ihr Leben an diesem, andere, es an jenem Ort zu verbringen; sie hatte beides mitgemacht.
Nicci langte nach dem Silbergriff an einer der beiden reich verzierten Doppeltüren, die von zwei stämmigen, vermutlich bei den Schweinen im Stall aufgewachsenen Soldaten flankiert wurden, und merkte, dass ihre Hand blutverschmiert war. Sie drehte sich um und wischte sie wie selbstverständlich an der verdreckten, blutbefleckten Fellweste ab, die einer der beiden Männer trug. Die Bizepse seiner verschränkten Arme waren fast so dick wie ihre Taille. Als sie ihre Hand an ihm säuberte, machte er trotz seiner finsteren Miene keinerlei Anstalten, sie daran zu hindern. Schließlich machte sie ihn nicht schmutziger, als er ohnehin schon war.
Hania hatte ihren Teil der Abmachung eingehalten. Nicci griff nur selten auf den Gebrauch von Waffen zurück; gewöhnlich benutzte sie ihre Gabe. Aber in diesem Fall hätte das natürlich ein Fehler sein können. Als sie ihr das Messer an die Kehle hielt, hatte Hania sich mit schwacher Stimme dafür bedankt, was Nicci zu tun im Begriff war. Zum ersten Mal hatte sich ein Mensch bei Nicci bedankt, bevor sie ihn tötete. Überhaupt geschah es nur selten, dass jemand Nicci für ihre Hilfe dankte. Sie war dazu befähigt, die anderen nicht; es war ihre Pflicht, ihnen in ihrem Elend beizustehen.
Als sie ihre Hand so gut es ging an dem stummen Wachtposten abgewischt hatte, bedachte sie sein düster funkelndes Gesicht mit einem knappen, unverbindlichen Lächeln und trat durch die Tür in eine elegante Eingangshalle. Eine Reihe hoher, die eine Wand des Saales säumender Fenster war mit weizenfarbenen Wandbehängen verziert. In der Nähe ihrer mit Troddeln besetzten Ränder funkelten die Wandbehänge im Schein der Lampen, als wären sie mit Gold durchwirkt. Ein spätsommerlicher Regen prasselte gegen die Fensterscheiben, durch die man draußen nichts als Dunkelheit erkennen konnte, während sich das Geschehen drinnen in ihnen spiegelte. Die hellen Wollteppiche, verziert mit Blumen, denen man mit unterschiedlich langem Garn und großer Sorgfalt eine räumliche Wirkung verliehen hatte, waren übersät mit schlammigen Fußspuren.
Kundschafter gingen ein und aus, ebenso wie Boten und Soldaten, die einigen der Offiziere ihre Berichte aushändigten. Andere Offiziere blafften Befehle. Soldaten mit eingerollten Karten in den Händen eilten ein paar höherrangigen Offizieren hinterher, während diese in dem stickigen Raum ziellos auf und ab liefen.
Eine dieser Karten lag ausgebreitet über einem schmalen Tisch, den silbernen Kandelaber des Tisches hatte man auf den Fußboden hinter dem Tisch beiseite gestellt. Als Nicci an dem Tisch vorüberkam, warf sie einen Blick darauf und sah, dass viele jener Einzelheiten fehlten, die auf der von dem D’Haranischen Boten gezeichneten Karte so sorgfältig vermerkt waren. Die über den Tisch gebreitete Karte wies in dem nach Nordwesten hin gelegenen Gebiet nur ein paar dunkle Flecken von verschüttetem Bier auf; die Karte aber, die sich in Niccis Gedächtnis eingebrannt hatte, zeigte an dieser Stelle Gebirgszüge, Flüsse, hoch gelegene Pässe und Gebirgsbäche – und einen Punkt, der Richards Aufenthaltsort markierte, den seiner Gemahlin, der Mutter Konfessor sowie der Mord-Sith.
Offiziere unterhielten sich – einige im Stehen, einige halb auf den Marmortischen mit Eisenfüßen sitzend, wieder andere sich in den gepolsterten Ledersesseln räkelnd – und bedienten sich mit Delikatessen von den silbernen Tabletts, die ihnen schwitzende Diener mit zitternden Händen reichten. Andere schütteten Bier aus Zinnkrügen in sich hinein, wieder andere tranken Wein aus zierlichen Gläsern, und alle taten so, als seien sie mit diesem Prunk bestens vertraut, obgleich sie allesamt so fehl am Platz wirkten wie widerliches Ungeziefer bei einer eleganten Teegesellschaft.
Eine ältere Frau, Schwester Lidmila, die, offenbar um unbemerkt zu bleiben, in den Schatten neben den Wandbehängen kauerte, richtete sich ruckartig auf, als sie Nicci durch den Saal schreiten sah, trat aus den Schatten hervor und hielt kurz inne, um ihre schäbigen Röcke glatt zu streichen, eine Betätigung, die keinesfalls zu einer erkennbaren Verbesserung führte. Schwester Lidmila hatte Nicci einst anvertraut, in jungen Jahren Gelerntes lasse einen nie im Stich und bleibe einem oftmals besser in Erinnerung als die Mahlzeit vom Abend zuvor. Gerüchteweise wurde behauptet, die alte Schwester, erfahren in geheimnisvollen Zaubern, wie sie nur den mächtigsten Hexenmeisterinnen bekannt waren, könne sich an allerlei Interessantes aus ihrer Jugendzeit erinnern.
Schwester Lidmilas ledrige Haut spannte so fest über ihren Schädelknochen, dass sie Nicci vor allem an eine exhumierte Leiche erinnerte. So sehr die betagte Schwester auch einer wandelnden Mumie glich – sie näherte sich quer durch den Saal mit lebhaften, entschlossenen Bewegungen.
Als sie nur noch wenige Schritte entfernt war, hob Schwester Lidmila winkend einen Arm, als sei sie nicht ganz sicher, ob Nicci sie bemerken würde. »Schwester Nicci, Schwester Nicci, da seid Ihr ja.« Sie ergriff Niccis Handgelenk. »Kommt mit, meine Liebe. Kommt. Seine Exzellenz erwartet Euch. Hier entlang, so kommt doch.«
Nicci drückte die ziehende Hand der Schwester. »Geht nur voran, Schwester Lidmila. Ich werde Euch dicht auf den Fersen folgen.«
Die ältere Frau sah lächelnd über ihre Schulter. Das Lächeln war weder freundlich noch erfreut, eher ein Zeichen der Erleichterung. Jagang bestrafte jeden, der sein Missfallen erregte, unabhängig davon, ob er sich etwas hatte zu Schulden kommen lassen.
»Was hat Euch so lange aufgehalten, Schwester Nicci? Seine Exzellenz ist ziemlich aufgebracht wegen Euch. Wo habt Ihr nur gesteckt?«
»Ich hatte … noch Geschäfte zu erledigen.«
Für jeden von Niccis Schritten musste die Frau deren zwei oder drei machen. »Geschäfte, wenn ich das höre! Hätte ich etwas zu sagen, ich würde Euch dafür, dass Ihr Euren Vergnügungen nachgeht, wenn man Euch braucht, unten in der Küche Töpfe schrubben lassen.«
Schwester Lidmila war altersschwach und vergesslich, und gelegentlich entfiel ihr, dass sie nicht mehr im Palast der Propheten weilte. Jagang benutzte sie, um Leute abzuholen oder um auf sie zu warten und ihnen den Weg – gewöhnlich zu seinen Zelten – zu zeigen. Sollte sie den Weg vergessen, konnte er, falls nötig, ihren Kurs noch immer korrigieren. Es amüsierte ihn, eine ehrwürdige Schwester des Lichts – eine Hexenmeisterin, die in dem Ruf stand, Kenntnis von den geheimsten Zauberformeln zu haben – für etwas so Erniedrigendes wie Botengänge einzuspannen. Weit weg vom Palast und seinem Bann, das Altern zu verhindern, bewegte sich Schwester Lidmila Hals über Kopf immer schneller in Richtung Grab. Das galt für alle ihre Gesinnungsgenossinnen.
Die gebeugte Schwester schlurfte, mit ihren freien Armen rudernd, vor Nicci her, zerrte sie an ihrer Hand durch prachtvolle Säle, über Treppenfluchten und durch Korridore. Schließlich blieb sie vor einer mit vergoldeten Zierleisten eingefassten Tür stehen und legte, nach Atem ringend, ihre Finger an die Unterlippe. Ernstgesichtige, im Korridor herumlungernde Soldaten überschütteten sie mit Blicken, so düster wie ihr Kleid. Sie identifizierte die Männer als kaiserliche Gardetruppen.
»Hier ist es.« Schwester Lidmila sah hoch zu Nicci. »Seine Exzellenz weilt in seinen Gemächern. So beeilt Euch doch. Geht schon, geht.« Sie fuchtelte mit den Händen, als wollte sie Vieh zusammentreiben. »Nun geht schon hinein.«
Vor dem Eintreten nahm Nicci ihre Hand noch einmal vom Griff und wandte sich zu der alten Frau um. »Schwester Lidmila, Ihr sagtet einmal, das Wissen, das Ihr zu vererben habt, sei bei mir am besten aufgehoben.«
Ein listiges Schmunzeln ließ Schwester Lidmilas Gesicht aufleuchten. »Sieh da, fangt Ihr endlich an, Euch für einige der okkulteren Zaubereien zu interessieren, Schwester Nicci?«
Nicci hatte sich zuvor noch nie für irgendwelche Dinge interessiert, die ihr Schwester Lidmila gelegentlich hatte aufnötigen wollen. Magie war eine egoistische Beschäftigung. Nicci lernte, was sie lernen musste, unternahm aber nie besondere Anstalten, darüber hinauszugehen, zu den eher ungewöhnlichen Bannen.
»Ja. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube, ich bin endlich so weit.«
»Ich habe der Prälatin stets gesagt, Ihr seid die Einzige im Palast, die für die Zaubereien, die ich beherrsche, die erforderliche Kraft besitzt.« Die Frau beugte sich näher. »Und diese Zaubereien sind gefährlich.«
»Dann solltet Ihr sie weitergeben, solange Ihr noch dazu im Stande seid.«
Schwester Lidmila nickte zufrieden. »Ich denke, Ihr seid alt genug, ich könnte sie Euch zeigen. Wann?«
»Ich werde Euch aufsuchen … morgen.« Nicci warf einen Blick auf die Tür. »Ich glaube, heute Abend kann ich keinen Unterricht mehr nehmen.«
»Dann also morgen.«
»Falls ich Euch … morgen tatsächlich aufsuchen sollte, werde ich ganz versessen darauf sein, etwas zu lernen. Vor allem interessiert mich der Mutterbann.«
Nach allem, was Nicci über ihn wusste, war dieser Bann mit dem merkwürdigen Namen genau das, was sie brauchte. Er besaß zudem den Vorteil, dass er, einmal ausgesprochen, nicht mehr zurückgenommen werden konnte.
Schwester Lidmila richtete sich auf und legte abermals die Finger an die Unterlippe. Ein Anflug von Besorgnis huschte über ihr Gesicht.
»Du liebe Güte. Diesen also, ja? Nun, ich könnte ihn Euch beibringen. Ihr habt das nötige Talent – was nur für wenige zutrifft. Keiner anderen als Euch traue ich zu, etwas Derartiges zum Leben zu erwecken; dazu ist eine enorme Kraft der Gabe erforderlich, aber die besitzt Ihr. Sofern Ihr Euch über den damit verbundenen Preis im Klaren und bereit seid, ihn zu zahlen, könnte ich Euch darin unterrichten.«
Nicci nickte. »Ich werde also kommen, sobald ich kann.«
Die alte Schwester setzte gemächlich ihren Weg durch den Korridor fort, in Gedanken bereits bei ihrem Unterricht.
Nachdem sie gewartet hatte, bis die betagte Schwester hinter der Ecke verschwunden war, betrat Nicci einen stillen, von unzähligen Kerzen und Lampen erhellten Raum. Die hohe Decke war mit einem gemalten Eichenlaubmuster abgesetzt. Überall standen luxuriöse Sofas und in gedämpften Brauntönen gepolsterte Sessel auf tiefen, in kräftigen Gelb-, Orange- und Rottönen gehaltenen Teppichen, die ihnen das Aussehen eines herbstlichen Waldbodens verliehen. Die schweren Vorhänge vor der breiten Fensterfront waren zugezogen. Zwei auf einem Sofa sitzende Schwestern sprangen auf.
»Schwester Nicci!«, schrie eine von ihnen geradezu vor Erleichterung.
Die andere lief zur Doppeltür auf der anderen Seite des Zimmers und öffnete, offenkundig auf Anweisung, eine von ihnen, ohne vorher anzuklopfen. Sie steckte den Kopf in das dahinter liegende Zimmer und sagte etwas mit leiser Stimme, das Nicci nicht verstand.
Die Schwester schreckte zurück, als Jagang aus dem Geheimzimmer heraus brüllte: »Verschwindet! Alle miteinander! Alle anderen raus!«
Zwei weitere junge Schwestern, ohne Zweifel Leibdienerinnen des Kaisers, stürzten aus dem Zimmer. Nicci musste beiseite treten, als alle vier mit der Gabe gesegneten Frauen auf die aus dem Gemach herausführende Tür zuhielten. Ein in einer Ecke sitzender junger Mann, den Nicci nicht bemerkt hatte, schloss sich ihnen an. Keiner würdigte Nicci auch nur eines Blickes, während sie sich beeilten, ihren Befehlen nachzukommen. Das war die erste Lektion, die man als Sklave in Jagangs Diensten lernte: Wenn er etwas von einem verlangte, dann wollte er, dass man es sofort erledigte. Kaum etwas erzürnte ihn mehr als Trödelei.
An der Tür des Geheimzimmers kam Nicci eine den anderen dicht auf dem Fuße folgende Frau entgegen. Sie war jung und wunderschön mit ihrem dunklen Haar und ebensolchen Augen, wahrscheinlich eine Gefangene, die man irgendwo auf dem langen Marsch aufgegriffen hatte und die zweifellos Jagangs Vergnügen diente. In ihren Augen spiegelte sich eine Welt, die den Verstand verloren hatte.
Das war der unvermeidliche Preis, wenn die Welt wieder in einen Zustand der Ordnung versetzt werden sollte. Große Anführer waren bereits ihrem Wesen nach mit charakterlichen Fehlern behaftet, in denen sie selbst nur unbedeutende Unzulänglichkeiten sahen. Die umfassenden Wohltaten, die Jagang den armen, Not leidenden Massen zukommen ließ, wogen seine kruden Akte der persönlichen Befriedigung und die vergleichsweise bescheidenen Verwüstungen, die er anrichtete, bei weitem auf. Oft wurde Nicci Opfer seiner Übergriffe. Es war ein Preis, den es sich, in Anbetracht der Hilfe, die den Hilflosen schließlich zuteil werden würde, zu zahlen lohnte; nur das durfte in ihren Überlegungen eine Rolle spielen.
Die Außentür schloss sich, und schließlich waren Nicci und der Kaiser allein in dem Gemach. Sie stand aufrecht, den Kopf erhoben, die Arme an den Seiten, und genoss die Stille dieses Ortes. Pracht bedeutete ihr wenig, Stille dagegen war ein Luxus, den sie schätzen gelernt hatte, selbst wenn das eigensüchtig war. In den Zelten herrschte stets der Lärm der sich dicht um sie drängenden Truppen, hier dagegen war es still. Sich flüchtig im geräumigen und reich verzierten Vorzimmer umsehend, stellte sie Betrachtungen darüber an, ob Jagang Geschmack an Orten wie diesem gefunden haben könnte. Vielleicht suchte er auch einfach nur die Stille.
Sie wandte sich wieder zum Geheimzimmer um. Er stand unmittelbar hinter der Tür und beobachtete sie, eine muskelbepackte, wuterfüllte Masse, jeden Augenblick bereit, zu explodieren.
Entschlossen ging sie direkt auf ihn zu. »Ihr wolltet mich sehen, Euer Exzellenz?«
Nicci spürte einen betäubenden Schmerz, als er ihr seinen fleischigen Handrücken ins Gesicht schlug. Der Schlag wirbelte sie herum. Sie fiel auf die Knie, er riss sie an den Haaren wieder auf die Füße. Beim zweiten Mal prallte sie erst gegen die Wand, bevor sie abermals zu Boden ging. Ein betäubender Schmerz zog sich pochend durch ihr ganzes Gesicht. Als sie die Orientierung wiedergefunden hatte, brachte sie die Beine unter ihren Körper und stand abermals vor ihm. Beim dritten Mal riss sie einen frei stehenden Kandelaber mit. Kerzen fielen durcheinander und rollten über den Fußboden. Ein langer Streifen durchsichtigen Vorhangstoffs, an den sie sich Halt suchend geklammert hatte, riss ab und legte sich sanft wehend über sie, als sie mitsamt einem umgestürzten Tisch krachend auf dem Boden landete. Glas splitterte, man hörte das Scheppern von Metall, als kleinere Gegenstände davonsprangen.
Sie fühlte sich schwindelig und benommen, ihr Sehvermögen drohte zu versagen. Ihre Augen fühlten sich an, als wären sie geborsten, ihr Kiefer, als wäre er zersplittert, ihr Hals, als wären die Muskeln dort gerissen. Nicci lag, den in scharfen Wellen kommenden Schmerz genießend, ausgestreckt auf dem Boden und suhlte sich in dem seltenen Gefühl, überhaupt etwas zu empfinden.
Sie sah das auf den hellen Rand des Teppichs unter ihr und auf den warm glänzenden Holzfußboden gespritzte Blut, sie hörte, wie Jagang sie anbrüllte, verstand aber wegen des Klingens in ihren Ohren die Worte nicht. Mit zitterndem Arm stemmte sie sich hoch in eine halb aufgerichtete Stellung. Blut rann warm über ihre Finger, als sie ihren Mund befühlte. Sie genoss den körperlichen Schmerz. Es war so lange her, dass sie, abgesehen von jenem viel zu kurzen Augenblick bei der Mord-Sith, überhaupt etwas gespürt hatte. Herrlich, diese Flut aus Schmerzen.
Jagangs Brutalität vermochte bis in diese Tiefen vorzudringen, nicht nur wegen seiner Grausamkeit an sich, sondern weil sie wusste, dass sie nicht gezwungen war, sie auszuhalten. Auch ihm war klar, dass sie aus freien Stücken hier war, und nicht weil er es wollte. Das verstärkte seine Wut nur noch und damit ihre Empfindungen.
Sein Zorn schien tödlich. Sie nahm lediglich zur Kenntnis, dass sie diesen Raum höchstwahrscheinlich nicht lebend verlassen und wohl auch nicht mehr dazu kommen würde, Schwester Lidmilas Zauberkünste kennen zu lernen. Nicci harrte einfach jener Dinge, die das Schicksal längst für sie entschieden hatte.
Schließlich ließ das Drehen des Zimmers so weit nach, dass sie sich ein weiteres Mal aufrappeln konnte. Sie richtete sich vor der stummen, stämmigen Gestalt von Kaiser Jagang zu ihrer vollen Größe auf. Auf seinem kahl rasierten Schädel spiegelten sich Lichtpunkte von einigen der Lampen. Seine einzige Gesichtsbehaarung bestand aus einem fünf Zentimeter langen geflochtenen Schnurrbart, der über beiden Mundwinkeln wuchs, sowie einem weiteren geflochtenen Bart mitten unter seiner Unterlippe. Der goldene Ring in seinem linken Nasenflügel sowie das daran befestigte Goldkettchen, das zu einem weiteren Ring in seinem linken Ohr reichte, funkelten im weichen Schein der Lampen. Von einem schweren Ring an jedem Finger abgesehen, hatte er auf das erbeutete Sortiment aus königlichen Ketten und Juwelen verzichtet, das er gewöhnlich um den Hals trug. Auf den Ringen glänzte ihr Blut.
Seine Brust war nackt, doch im Gegensatz zu seinem Schädel war sie mit derbem Haar bedeckt. Seine Muskeln wölbten sich, und ihre Sehnen traten hervor, wenn er die Fäuste ballte. Er besaß den Nacken eines Stiers und ein Gemüt, das noch schlimmer war.
Nicci, einen halben Kopf kleiner als er, stand abwartend vor ihm und blickte in die Augen, die sie aus ihren Albträumen kannte. Sie waren von einem dunklen Grau, ohne jedes Weiß, das von düsteren, dämmrigen Partikeln getrübt wurde, die langsam über eine Oberfläche aus tintengleicher Dunkelheit zu treiben schienen. Obwohl sie keine erkennbare Iris oder Pupille aufwiesen – dort wo ein normaler Mensch Augen hatte, war nichts als eine scheinbar finstere Leere –, hatte sie nie den geringsten Zweifel, wann er sie ansah.
Es waren die Augen eines Traumwandlers, eines Traumwandlers, dem der Zugang zu ihrem Verstand verwehrt war. Jetzt begriff sie auch, warum.
»Nun?«, brummte er. Er warf die Hände über den Kopf. »Schreit doch! Brüllt! Fleht und diskutiert – macht Ausflüchte! Steht nicht einfach so herum!«
Nicci schluckte den scharfen Geschmack von Blut und blickte ihm seelenruhig in seine zornesroten Augen.
»Bitte macht präzise Angaben, Euer Exzellenz, was Ihr vorziehen würdet, wie lange ich damit fortfahren soll, ob ich es aus eigenem Antrieb beenden oder warten soll, bis Ihr mich bewusstlos schlagt.«
Mit wütendem Geheul warf er sich auf sie, umschloss ihren Hals mit seiner massigen Hand und hielt sie fest, während er sie schlug. Ihre Knie gaben nach, doch er hielt sie aufrecht, bis es ihr gelang, sich wieder zu fangen.
Er ließ ihre Kehle los und stieß sie fort. »Ich will wissen, warum Ihr das Kadar angetan habt!«
Sie hatte für seinen Zorn nur ein blutverschmiertes Grinsen.
Er bog ihr den Arm auf den Rücken und zog sie fest an seinen Körper. »Warum tut Ihr so etwas? Warum?«
Der tödliche Tanz mit Jagang hatte begonnen. Wieder einmal fragte sie sich matt, ob sie diesmal ihr Leben lassen würde.
Jagang hatte eine ganze Reihe von Schwestern getötet, die sein Missfallen erregt hatten. Dass Nicci sich in seiner Gegenwart sicher fühlte – wenn man davon sprechen konnte –, lag an ihrer Gleichgültigkeit gegenüber jeglichem Gefühl von Sicherheit. Ihr völliges Desinteresse an ihrem eigenen Leben faszinierte Jagang, weil er wusste, dass es ehrlich war.
»Manchmal benehmt Ihr Euch wie ein Narr«, erwiderte sie in aufrichtiger Verachtung, »Ihr seid zu überheblich, um zu erkennen, wen Ihr vor Euch habt.«
Er verdrehte ihr den Arm, bis sie sicher war, er werde brechen. Sie spürte seinen keuchenden Atem warm auf ihrer pochenden Wange. »Ich habe Menschen schon für sehr viel harmlosere Bemerkungen getötet.«
Trotz ihrer Schmerzen verspottete sie ihn. »Dann habt Ihr offenbar die Absicht, mich zu Tode zu langweilen? Wenn Ihr mich töten wollt, dann packt meine Kehle und erwürgt mich, oder zerstückelt mich zu einer blutigen Masse, damit ich zu Euren Füßen verblute – aber glaubt nicht, Ihr könnt mich mit dem bloßen Gewicht Eurer immer gleichen Drohungen ersticken. Wenn Ihr mich umbringen wollt, dann seid ein Mann und tut es! Wenn nicht, dann haltet den Mund.«
Die meisten Menschen begingen bei Jagang den Fehler, ihn wegen seiner Fähigkeit zu äußerster Brutalität für einen ungebildeten, dummen Rohling zu halten. Das war er keineswegs, sondern einer der intelligentesten Männer, denen Nicci je begegnet war. Brutalität war nichts als seine Maskerade. Als Folge seines Zugangs zum Verstand so vieler unterschiedlicher Menschen war er ihrem Wissen, ihrer Klugheit und ihren Ideen unmittelbar ausgesetzt, und dieses Ausgesetztsein mehrte sein Denkvermögen, seinen Verstand. Zudem wusste er genau, wovor die Menschen sich am meisten fürchteten. Wenn ihr etwas an ihm Angst machte, dann gewiss nicht seine Brutalität, sondern seine Intelligenz, denn sie war sich darüber im Klaren, dass Intelligenz ein bodenloser Quell wahrhaft erfinderischer Grausamkeit sein konnte.
»Warum habt Ihr ihn umgebracht, Nicci?«, wiederholte er seine Frage, wobei seine Stimme ein wenig von ihrer Erregtheit verlor.
In ihrem Verstand befand sich, einem steinernen Schutzwall gleich, der Gedanke an Richard, was er ihr offenbar an den Augen ablesen konnte. Jagangs Zorn, das wusste sie, beruhte zum Teil auf seinem Unvermögen, in ihren Verstand einzudringen und sie auf dieselbe Weise zu beherrschen, wie er dies bei anderen konnte. Ihr wissendes Grinsen verhöhnte ihn wegen etwas, das ihm verwehrt war.
»Es hat mich amüsiert zu hören, wie der große Kadar Kardeef um Gnade winselt, und sie ihm anschließend zu verwehren.«
Jagang brüllte erneut, ein viehisches Geräusch, das in einem gediegenen Schlafgemach wie diesem völlig fehl am Platz war. Sie gewahrte die verschwommenen Umrisse seines Armes, als er nach ihr schlug. Das Zimmer drehte sich heftig, und sie erwartete, mit Knochen zermalmender Wucht irgendwo gegen zu prallen. Stattdessen überschlug sie sich und landete auf etwas unerwartet Weichem: dem Bett, wie sie erkannte. Irgendwie hatte sie die Marmor- und Mahagonipfosten an den Ecken verfehlt – sie hätten sie mit Sicherheit getötet. Das Schicksal schien seinen Spaß mit ihr zu treiben; Jagang landete auf ihr.
Sie glaubte, er werde sie jetzt zu Tode prügeln, stattdessen musterte er aus kürzester Entfernung ihre Augen. Er richtete sich auf, setzte sich rittlings auf ihre Hüften und zerrte mit seinen fleischigen Händen an der Korsettverschnürung ihres Kleides. Mit einem plötzlichen Ruck zerriss er den Stoff, legte ihre Brüste frei und knetete ihr nacktes Fleisch, bis ihr die Tränen kamen.
Nicci sah ihn dabei weder an, noch leistete sie Widerstand, vielmehr ließ sie ihren Körper vollkommen erschlaffen, als er ihr das Kleid über die Hüften schob. Ihr Verstand begann in ferne Gefilde abzudriften, die nur sie allein betreten konnte. Er ließ sich auf sie fallen und presste ihr die Luft aus den Lungen, die mit einem hilflosen Stöhnen entwich.
Die Arme seitlich neben dem Körper, die Finger kraftlos geöffnet, starrte Nicci ohne jede Furcht auf die seidenen Falten im Baldachin des Bettes, ihr Geist ungerührt an einem still entrückten Ort. Die Schmerzen schienen sehr weit weg, ihr Kampf ums Atmen unbedeutend.
Während er auf seine grobschlächtige Art zu Werke ging, konzentrierte sie sich auf das, was sie gleich tun würde. Was sie soeben ins Auge fasste, hätte sie nie für möglich gehalten, jetzt wusste sie, es ging. Sie brauchte sich nur zu entscheiden.
Indem er sie schlug, veranlasste Jagang sie, sich wieder auf ihn zu konzentrieren. »Ihr seid zu blöde, um auch nur zu flennen!«
Sie begriff, dass er fertig war; er war nicht gerade begeistert, dass sie es nicht bemerkt hatte. Es kostete sie einige Mühe, nicht ihr Kinn zu reiben, das von dem Schlag brannte; für ihn war es nur ein kleiner Klaps, für den Getroffenen jedoch ein Hieb, der ihn fast zum Krüppel machte. Schweiß tropfte von seinem Kinn auf ihr Gesicht. Sein kraftvoller Körper glänzte von der Anstrengung, von der sie nichts gespürt hatte. »Ist es das, was Ihr Euch von mir wünscht, Exzellenz? Dass ich weine?«
Sein Tonfall bekam etwas Bitteres, als er sich neben ihr auf die Seite fallen ließ. »Nein. Ich möchte, dass Ihr reagiert.«
»Aber das tue ich«, sagte sie, den Blick starr auf den Baldachin gerichtet. »Nur ist es einfach nicht die Reaktion, die Ihr Euch wünscht.«
Er setzte sich auf. »Was ist nur los mit Euch, Frau?«
Sie betrachtete ihn einen Augenblick, dann wandte sie die Augen ab.
»Ich habe keine Ahnung«, antwortete sie wahrheitsgemäß. »Aber ich denke, ich werde es herausfinden müssen.«