Vor Anstrengung keuchend musste Kahlan rückwärts durch das mit stacheligen Brombeeren durchsetzte Astgewirr eines erlenblättrigen Schneeballs trippeln, um dem Schwung des Schwertes auszuweichen. Die Spitze sirrte vorbei, ihre Rippen um einen Zoll verfehlend. Bei ihren hektischen Ausweichbemühungen achtete sie nicht auf das Reißen und Zerren der Dornen an ihrer Hose. Sie spürte, wie ihr Herz bis zur Schädelbasis pochte.
Während er sie mit seiner Attacke unerbittlich in die Enge trieb, sie über ein leicht ansteigendes Felsband und durch die dahinter liegende Mulde scheuchte, wallten Unmengen toten, von seinen Stiefeln aufgewirbelten Laubes, bunten Gewitterwolken gleich, in die spätnachmittägliche Luft. Die strahlend gelben, leuchtend orangefarbenen und sattroten Blätter regneten auf blank liegende, von stacheligen, verdrehten Wacholdersträuchern umschlungene Felsen herab. Es war, als kämpfte man in einem vom Himmel gefallenen Regenbogen.
Richard stieß erneut nach ihr. Kahlan blieb die Luft weg, aber es gelang ihr, sein Schwert abzublocken.
Unerbittlich setzte er seinen erbarmungslosen Angriff mit unverminderter Entschlossenheit fort. Sie wich zurück, die Beine hochziehend, um nicht über die Wurzelschlingen am Fuß einer mächtigen Fichte zu stolpern. Den Stand zu verlieren wäre tödlich, im Fall eines Sturzes würde Richard sie sofort durchbohren.
Sie schaute nach links hinüber. Dort ragte eine hohe Wand aus schierem, mit langen Ranken flaumigen Mooses behangenem Fels empor. Zur anderen Seite wich die Kante des Felsvorsprungs zurück, bis sie schließlich mit ebendieser Felswand zusammenstieß. Dort, wo der ebene Grund sich immer mehr verjüngend in einer Sackgasse endete, blieb einem nur noch die Wahl, steil nach oben oder nach unten zu klettern.
Sie lenkte einen schnellen Vorstoß seines Schwertes zur Seite, und er parierte ihren. In einem Anfall aufbrausenden Zorns fiel sie mit einer wilden Attacke über ihn her. Er parierte ihre Hiebe mühelos und zahlte ihren Angriff mit gleicher Münze heim. Was sie an Raum gewonnen hatte, war rasch zweifach verloren. Abermals war sie gezwungen, sich verzweifelt zu verteidigen und ihr Überleben durch Aufgabe von Boden zu sichern.
Auf einem niedrigen, abgestorbenen Balsamtannenast keine zehn Fuß entfernt, pflückte ein kleines rotes Eichhörnchen, dem die Winterhaarbüschel bereits aus den Ohren wucherten, eine ledrig-braune Flechtenrosette ab, die auf der Rinde wuchs. Den weißen Bauch stolz zur Schau gestellt, hockte es, seinen buschigen Schwanz in die Höhe gereckt, auf seinen Hinterbeinen am Ende des abgebrochenen toten Astes, hielt das gekräuselte Stück Flechte in seinen winzigen Pfoten und knabberte den Rand ringsherum ab wie ein Turnierzuschauer, der einen gerösteten Brotfladen verspeist, während er zuschaut, wie die Duellanten aufeinander prallen.
Kahlan schluckte trocken, während ihre Augen mal hier, mal dorthin zuckend zwischen den eindrucksvollen Stämmen des Hochwaldes festen Grund suchten und gleichzeitig nach irgendetwas Ausschau hielten, was sie retten konnte. Wenn es ihr irgendwie gelänge, Richard und die Bedrohung seines Schwertes zu umgehen, würde sie ein wenig Zeit gewinnen. Sie wich einem raschen Vorstoß seines Schwertes aus und warf sich hinter einem jungen Ahornbaum in ein Beet aus braunem und gelbem, von leuchtenden Sonnensprenkeln beschienenen Adlerfarn.
Unvermittelt stürmte Richard wie von Sinnen vorwärts, um den Kampf zu beenden, und riss sein Schwert hoch, um sie zu zerteilen.
Das war ihre Bresche – ihre einzige Chance.
Blitzartig schaltete sie von Rückzug auf Angriff um. Sie sprang einen Schritt vor, tauchte unter seinem Arm hindurch und bohrte dabei ihr Schwert in seine weiche Körpermitte.
Richard hielt sich die Wunde mit beiden Händen. Er wankte einen Augenblick, dann brach er im Farn zusammen und blieb ausgestreckt auf dem Rücken liegen. Leichte, auf größeren Farnen liegende Blätter wurden durch die Strömung emporgehoben, stiegen Purzelbäume schlagend in die Luft und trudelten schließlich herab, um seinen Leichnam mit leuchtenden Farben zu verzieren. Das satte Rot der Ahornblätter wirkte so lebendig, dass Blut im Vergleich braun gewirkt hätte.
Kahlan stand über Richard gebeugt und versuchte keuchend wieder zu Atem zu kommen. Sie war völlig erledigt, ließ sich auf die Knie fallen und warf sich über den auf dem Rücken liegenden Körper. Rund herum hatten sich Farnwedel in der Farbe von Karamellbonbons wie zum Trotz gegen ihren jahreszeitlich bedingten Tod zu kleinen Fäusten eingerollt. Die wenigen helleren, gelblichen, nach Heu duftenden Farne verliehen der nachmittäglichen Luft ein sauberes, süßliches Aroma; nur wenige Dinge konnten es mit dem Duft des Waldes im Spätherbst aufnehmen. Aus unerfindlichen Gründen war ein hoher Ahornstamm ganz in der Nähe noch nicht gänzlich entlaubt, sondern entfaltete, im Schatten eines schützenden Vorsprungs in der Felswand, sein üppiges Blätterkleid – in einem derart grellen Orange, dass es sich mit dem ultramarinblauen Himmel darüber biss.
»Cara!« Die linke Hand auf Richards Brust gelegt, stützte Kahlan sich auf einen Arm und rief noch einmal: »Cara! Ich habe Richard getötet!«
Cara, die nicht weit entfernt am Rand des Felsvorsprungs auf dem Bauch liegend Ausschau hielt, antwortete nicht.
»Ich habe ihn umgebracht! Habt Ihr gehört? Habt Ihr das gesehen, Cara?«
»Ja«, murmelte sie. »Ich hab’s gehört. Ihr habt Lord Rahl getötet.«
»Nein, hast du nicht«, sagte Richard, noch immer verschnaufend.
Sie versetzte ihm mit ihrem Weidenrutenschwert einen Hieb gegen die Schulter. »Doch, hab ich. Diesmal habe ich dich getötet. Und zwar endgültig.«
»Du hast mich nur gestreift.« Er bohrte ihr die Spitze seiner Weidenrute in die Flanke. »Du bist mir in die Falle gegangen. Ich habe dich in meiner Gewalt. Ergib dich.«
»Niemals«, erwiderte sie lachend, immer noch nach Luft schnappend. »Lieber würde ich sterben, als mich von einem Kerl wie dir gefangen nehmen zu lassen, du Schurke.«
Sie stieß ihn mehrmals mit ihrem Übungsschwert aus Weidenruten in die Rippen, woraufhin er sich kichernd von einer Seite auf die andere wälzte.
»Cara! Habt Ihr gesehen? Diesmal hab ich ihn getötet. Endlich hab ich ihn erwischt.«
»Ja, schon gut«, nörgelte Cara, die aufmerksam über den Felsgrat hinaus Ausschau hielt. »Ihr habt Lord Rahl getötet. Wie schön für Euch.« Sie warf einen Blick über ihre Schulter. »Der gehört mir, nicht wahr, Lord Rahl? Ihr habt mir versprochen, dass der hier mir gehört.«
»Stimmt«, sagte Richard, immer noch nach Atem ringend, »er gehört ganz alleine Euch, Cara.«
»Gut.« Cara lächelte zufrieden. »Es ist ein großer.«
Richard sah grinsend hoch zu Kahlan. »Ich habe dich gewinnen lassen, das weißt du doch?«
»Nein, hast du nicht! Ich habe gewonnen.« Sie schlug ihn abermals mit ihrem Weidenschwert, dann hielt sie inne und runzelte die Stirn. »Ich dachte, du hättest gesagt, du seist nicht tot. Du hast gesagt, es sei nur ein Kratzer. Ha! Du hast selber zugegeben, dass ich dich diesmal erwischt habe.«
Richard lachte amüsiert. »Ich hab dich absichtlich…«
Kahlan gab ihm einen Kuss, damit er endlich den Mund hielt. Cara sah es und verdrehte die Augen.
Als Cara sich abermals umdrehte und über den Felsgrat hinausblickte, sprang sie plötzlich auf. »Sie sind gerade aufgebrochen! Kommt, beeilt Euch, bevor ein Tier sie schlägt!«
»Nichts wird es schlagen, Cara«, widersprach Richard, »jedenfalls nicht so schnell.«
»Kommt schon! Ihr habt versprochen, dass dieser mir gehört. Ich will das nicht alles ganz umsonst durchgemacht haben. So kommt doch endlich.«
»Schon gut, in Ordnung«, sagte Richard, während Kahlan von ihm herunterkletterte. »Wir sind schon unterwegs.«
Er streckte die Hand aus, damit Kahlan ihm aufhalf, stattdessen stieß sie ihn in die Rippen. »Ich hab dich schon wieder erwischt, Lord Rahl. Du wirst nachlässig.«
Richard lächelte bloß, als Kahlan ihm schließlich die Hand reichte. Als er auf den Beinen stand, zog er sie zu einer raschen Umarmung an sich und sagte, bevor er sich umdrehte, um Cara nachzugehen: »Gute Arbeit, Mutter Konfessor, wirklich gute Arbeit. Du hast mich erstochen. Ich bin wirklich stolz auf dich.«
Kahlan bemühte sich, ihm ein gelassenes Lächeln zu zeigen, befürchtete aber, dass es eher ein übermütiges Grinsen wurde. Richard nahm seinen Rucksack auf und hob ihn auf seinen Rücken. Unverzüglich begann er mit dem Abstieg über die steile, zerklüftete Wand. Kahlan warf sich ihren langen Wolfspelzmantel um die Schultern und folgte ihm, eher auf die blank liegende Felskante als auf die tiefer gelegenen Stellen tretend, durch die tiefen Schatten der schützenden Nadelbäume am äußersten Rand des Grats.
»Seht Euch vor«, rief Richard Cara hinterher, die ihnen bereits ein gutes Stück voraus war. »Bei all dem auf der Erde liegenden Laub könnt ihr die Löcher und Spalten im Gestein nicht sehen.«
»Ich weiß, ich weiß«, brummte sie. »Wie oft, meint Ihr, muss ich mir das wohl noch anhören?«
Richard behielt die beiden stets im Auge. Er hatte ihnen beigebracht, wie man sich in diesem Gelände fortbewegte und worauf man zu achten hatte. Von Anfang an, seit sie durch die Wälder und Berge marschierten, war Kahlan aufgefallen, dass Richard mit ruhigen, fließenden Bewegungen ging, während Cara dahinzockelte, auf Steine und vorspringende Simse hinauf und wieder heruntersprang, fast wie ein übermütiges Fohlen. Cara hatte die meiste Zeit ihres Lebens hinter verschlossenen Türen verbracht, daher wusste sie nicht, dass es eine Rolle spielte, wie man sich in einem solchen Gelände fortbewegte.
Geduldig hatte Richard ihr erklärt: »Passt genau auf, wo Ihr Eure Füße hinsetzt, damit Eure Schritte ungefähr auf gleicher Höhe bleiben. Setzt den Fuß nicht ohne Not auf eine tiefer gelegene Stelle, wenn Ihr, um Euren Anstieg den Pfad hinauf fortzusetzen, unmittelbar darauf wieder nach oben steigen müsst. Klettert niemals unnötig hinauf, nur um gleich wieder abzusteigen. Und solltet Ihr tatsächlich mal auf einen höher gelegenen Punkt treten müssen, braucht Ihr nicht immer Euren ganzen Körper hochzudrücken – winkelt einfach die Beine an.«
Cara beschwerte sich, es sei zu kompliziert, sich jedesmal zu überlegen, wo man seine Füße hinsetzte. Er erwiderte, so wie sie sich bewege, besteige sie den Berg in Wahrheit zweimal, wo er nur einmal hinaufklettere. Er riet ihr, beim Gehen nachzudenken, dann werde es ihr schon bald in Fleisch und Blut übergehen, und jede bewusste Überlegung werde überflüssig. Als Clara daraufhin feststellte, dass ihre Waden- und Oberschenkelmuskeln weder so rasch ermüdeten noch zu schmerzen begannen, wenn sie auf seinen Rat hörte, entwickelte sie sich zu einer lebhaft interessierten Schülerin. Mittlerweile fragte sie eher nach, als ständig zu widersprechen. Meistens jedenfalls.
Kahlan sah, dass Cara beim Abstieg über den steilen Pfad Richards Rat befolgte und einen Stock als Wanderstab zu Hilfe nahm, mit dem sie verdächtige, mit Laub gefüllte Mulden untersuchte, bevor sie ihren Fuß hineinsetzte. Dies war kaum der geeignete Ort, sich den Knöchel zu brechen. Richard schwieg, manchmal aber, wenn sie statt mit dem Fuß mit ihrem Stab ein Loch entdeckte, schmunzelte er.
Auf einem steilen Berghang wie dem, den sie jetzt hinunterkletterten, einen neuen Pfad begehbar zu machen, war ein gefährliches Unterfangen. Oft liefen in Frage kommende Wege aus und endeten in einer Sackgasse, dann war man gezwungen, denselben Weg zurückzugehen. An weniger schwierigen Hängen, an Böschungen und vor allem in ebenerem Gelände, schufen Tiere oft ausgezeichnete Pfade. Wenn sich ein brauchbarer Pfad in einem Tal verlor, war das nicht übermäßig problematisch, denn dort konnte man sich durch das Gestrüpp in offeneres Gelände durchschlagen, wollte man sich dagegen seinen eigenen Pfad an einem jähen Abgrund in tausend Fuß Höhe bahnen, war das stets beschwerlich und oft frustrierend. Unter diesen Umständen, vor allem, wenn der Tag zur Neige ging, verleitete einen der Wunsch, einen schwierigen Anstieg nicht noch einmal durchklettern zu müssen, oft zu Risiken.
Richard erklärte, es sei ein hartes Stück Arbeit, das es erforderlich machte, die Vernunft über den Wunsch zu stellen, nach unten, nach Hause oder an einen Lagerplatz zu gelangen. »Wünsche können Menschen umbringen«, sagte er oft, »der Gebrauch des Verstandes bringt sie jedoch ans Ziel.«
Cara bohrte ihren Stab in einen Blätterhaufen zwischen zwei blanken Granitfelsen. »Tretet hier nicht in die Blätter«, rief sie über ihre Schulter, während sie auf den nächsten Felsen sprang. »Hier ist ein Loch.«
»O ja, danke, Cara«, antwortete Richard in gespielter Dankbarkeit, so als wäre er ohne ihre Warnung hineingetreten.
Die steile Felswand, in der sie sich befanden, wies eine Reihe verhältnismäßig breiter, mit knorrigen Bäumen und Gestrüpp bestandener Vorsprünge auf, die einen festen Untergrund und sicheren Halt boten. Unterhalb davon fiel die Bergflanke vor ihnen jäh bis in eine üppig bewachsene Schlucht in die Tiefe. Jenseits dieses Hohlwegs stieg sie als steiler, mit immergrünen Pflanzen und den tristen, grauen Skeletten von Eichen, Ahornbäumen und Birken bewachsener Hang erneut an.
Solange sie vorhanden war, hatte die unebene Schicht aus Herbstlaub in den buntesten Farben geleuchtet, jetzt jedoch lag sie kaum dichter als Konfetti auf dem Boden und wurde rasch spärlicher. Normalerweise behielten Eichen ihre Blätter wenigstens bis in die ersten Wintertage, manche sogar bis in den Frühling, hoch oben in den Bergen jedoch hatten eiskalte Winde und frühe Unwetter selbst die Eichen ihres hartnäckigen, braunen Blätterkleids beraubt.
Cara trat auf eine vorspringende Felsplatte, die über den darunter liegenden Abgrund ragte. »Da«, sagte sie und deutete hinüber auf die andere Seite. »Dort oben. Seht Ihr?«
Richard schützte seine Augen gegen das warme Sonnenlicht und schaute aus zusammengekniffenen Augen zu einer höher gelegenen Stelle auf dem gegenüberliegenden Hang hinüber. Brummig bestätigte er, dass er es ebenfalls gesehen hatte. »Ein hässlicher Ort zum Sterben.«
Kahlan kuschelte sich bis zu den Ohren in ihren Wolfspelz, um sie gegen den kalten Wind zu schützen. »Gibt es denn einen schönen?«
Richard nahm die Hand von seiner Stirn. »Vermutlich nicht.«
Ein kleines Stück über der Stelle, auf die Cara gezeigt hatte, endete der Baumbestand an einem Ort mit Namen ›Krüppelwald‹. Oberhalb davon, wo keine Bäume mehr gedeihen konnten, bestand der Berg aus nackten Felsvorsprüngen und Geröll. Noch ein Stückchen weiter oben glitzerte zuckerweißer Schnee im schräg einfallenden Sonnenlicht. Unterhalb von Schnee und nacktem Fels war der Krüppelwald schroffen Winden und rauhem Wetter ausgesetzt, was zur Folge hatte, dass die Bäume zu gequälten Formen verwachsen waren. Der Krüppelwald bildete eine Grenzlinie zwischen jener Ödnis, wo außer Flechten kaum etwas überleben konnte, und dem dichten, baumreichen, weiter unten gelegenen Wald.
Richard deutete nach links hinüber. »Wir sollten trotzdem keine Zeit verschwenden. Ich möchte hier nicht von der Dunkelheit überrascht werden.«
Kahlan blickte hinüber zu der Stelle, wo sich das Gebirge zu einem großartigen Ausblick auf schneebedeckte Gipfel, Täler und das wogende Grün scheinbar end- und wegloser Wälder weitete. Eine aufgewühlte Schicht aus schweren Wolken war in diese Täler vorgedrungen, hatte sich an den Bergen vorbei heimlich herangeschlichen und rückte klammheimlich immer näher. In der Ferne ragten einige schneebedeckte Gipfel aus einem grauen Wattemeer. Tiefer unten in den Bergen, unter den dichten, dunklen Wolken, war das Wetter mit Sicherheit erbärmlich.
Sowohl Richard als auch Cara warteten ab, wie Kahlan sich entscheiden würde. Die Vorstellung, im Krüppelwald dem eiskalten Nebel und dem Nieselregen ausgesetzt zu sein, behagte ihr ganz und gar nicht. »Ich fühle mich pudelwohl, bringen wir es hinter uns und gehen wir weiter, bis wir tiefer nach unten gelangen; dort suchen wir uns eine Launenfichte, unter der wir die Nacht im Trockenen verbringen können. Gegen ein ordentliches warmes Feuer und eine Tasse heißen Tee hätte ich nichts einzuwenden.«
Cara blies sich in die hohlen Hände, um sie zu wärmen. »Klingt ganz vernünftig.«
Als Kahlan und Richard sich vor mittlerweile mehr als einem Jahr begegnet waren, hatte er sie gleich am ersten Tag zu einer Launenfichte geführt. Damals hatte Kahlan nicht gewusst, dass es in den weiten Wäldern Westlands solche Bäume gab. In ihren Augen besaßen Launenfichten noch immer die gleichen mystischen Eigenschaften wie damals, beim ersten Mal, als sie einen solchen Baum als eine alle anderen Bäume ringsum überragende Silhouette vor dem dunkler werdenden Abendhimmel erblickt hatte. Diese ausgewachsenen Bäume waren der Freund der Reisenden und alles andere als ein herkömmlicher Unterschlupf.
Die Zweige einer großen Launenfichte reichten rundherum bis auf den Boden. Die Nadeln wuchsen größtenteils am äußeren Rand, wodurch die inneren Zweige kahl blieben. Drinnen, unter ihrem dichten Kleid aus Grün, boten Launenfichten einen ausgezeichneten Schutz vor schlechtem Wetter. Eine Eigenschaft seines Harzes machte den Baum beständig gegen Feuer, so dass man, bei entsprechender Vorsicht, ein gemütliches Lagerfeuer entzünden konnte, während es draußen regnete und stürmte.
Wenn sie in den Bergen unterwegs waren, machten Richard, Kahlan und Cara oft unter Launenfichten Halt. Die Nächte unter dem Baum, an einem kleinen Lagerfeuer, ließen sie enger zusammenrücken und gaben ihnen Zeit zum Nachdenken, miteinander zu sprechen und sich Geschichten zu erzählen. Manche dieser Geschichten brachten sie zum Lachen, andere schnürten ihnen die Kehle zu.
Nachdem Kahlan ihnen versichert hatte, sie fühle sich dem gewachsen, nickten Richard und Cara einander zu und begannen den Abstieg über die steile Felswand. Sie hatte sich von ihren entsetzlichen Verletzungen erholt, aber die Entscheidung, ob sie bereit war, die Mühen eines solchen Abstiegs, Wiederaufstiegs und abermaligen Abstiegs auf sich zu nehmen, bevor sie einen geschützten Lagerplatz – hoffentlich unter einer Launenfichte – fanden, überließen sie noch immer ihr.
Kahlans Genesung hatte lange Zeit in Anspruch genommen. Natürlich war sie sich darüber im Klaren gewesen, dass Wunden wie die ihren eine Weile brauchen würden, bis sie verheilt waren. Nach so langer Bettlägerigkeit waren ihre Muskeln geschwunden, sie waren schwach und nahezu nutzlos. Lange Zeit war es ihr schwer gefallen, genügend Nahrung zu sich zu nehmen; sie war zu einem Skelett abgemagert. Die Erkenntnis, wie schwach und hilflos sie in Wirklichkeit geworden war, hatte sie im Laufe ihrer Genesung immer tiefer in einen Zustand äußerster Niedergeschlagenheit sinken lassen.
Kahlan hatte sich keinen rechten Begriff davon gemacht, welche qualvollen Mühen erforderlich sein würden, wenn sie wieder sie selbst werden wollte. Richard und Cara versuchten sie aufzuheitern, doch ihre Bemühungen wirkten lahm, sie verstanden einfach nicht, wie einem dabei zumute war. Ihre Beine magerten ab, bis sie zu knochigen Stöcken mit knotigen Knien wurden. Sie kam sich nicht nur hilflos, sondern hässlich vor. Richard schnitzte Tiere für sie: Habichte, Füchse, Ottern, Enten und sogar Backenhörnchen; für sie schienen sie nicht mehr zu sein als eine Kuriosität. An ihrem Tiefpunkt wünschte sich Kahlan beinahe, sie wäre zusammen mit ihrem Kind gestorben.
Ihr Leben verkam zu einem Einerlei ohne jeglichen Reiz. Alles, was sie sah, Tag für Tag, Woche auf Woche, waren die vier Wände ihres Krankenzimmers. Die Schmerzen erschöpften sie, und die Eintönigkeit ließ sie abstumpfen. Sie begann, den bitteren Schafgarbentee, den sie ihr zu trinken gaben, ebenso zu verabscheuen wie die Breiumschläge aus Fingerkraut und Schafgarbe. Als sie sich nach einer Weile weigerte, Schafgarbentee zu trinken, wechselten sie manchmal zu Lindenholztee, der nicht ganz so bitter schmeckte, aber auch nicht so gut wirkte – allerdings half er ihr einzuschlafen. Schädeldach war oft bei Kopfschmerzen hilfreich, aber so adstringierend, dass sich ihr Mund noch lange Zeit danach zusammenzog. Manchmal wichen sie zur Linderung ihrer Schmerzen auch auf eine Tinktur aus Mutterkraut aus. Kahlan begann sich vor der Einnahme von Kräutern zu ekeln und behauptete oft unwahrheitsgemäß, sie habe keine Schmerzen, nur um irgendeinem widerlichen Absud zu entgehen.
Richard hatte das Fenster im Schlafzimmer nicht übermäßig groß angelegt; in der sommerlichen Hitze wurde es im Zimmer oft drückend heiß. Draußen vor ihrem Fenster konnte Kahlan nur ein winziges Stück des Himmels, ein paar Baumwipfel und die schroffe blau-graue Silhouette eines Berges in der Ferne erkennen.
Richard wollte sie nach draußen mitnehmen, doch Kahlan sträubte sich dagegen, da sie überzeugt war, es lohne die Schmerzen nicht. Es brauchte keine große Überzeugungskraft, ihm auszureden, ihr wehzutun. Die unterschiedlichsten Tage kamen und gingen, von strahlend sonnig bis hin zu grau und düster. In ihrem winzigen Zimmer liegend, während die Zeit verstrich und sie langsam gesund wurde, dachte Kahlan oft daran, dass dies ihr ›verlorener Sommer‹ war.
Eines Tages war sie völlig ausgetrocknet, und Richard hatte vergessen, den Becher nachzufüllen und ihn dort abzustellen, wo sie ihn, auf dem einfachen Tisch neben dem Bett, erreichen konnte. Als sie um Wasser bat, kam Richard mit dem Becher und einem vollen Wasserschlauch herein, stellte beides auf dem Fensterbrett ab und rief Cara draußen etwas zu. Daraufhin eilte er, Kahlan im Gehen noch zurufend, sie müssten nach den Angelschnüren sehen und würden so schnell wie möglich zurück sein, aus dem Zimmer. Bevor Kahlan ihn bitten konnte, das Wasser näher zu rücken, war er auch schon verschwunden.
Kahlan lag wütend in der Stille, sie konnte kaum glauben, dass Richard so gedankenlos war, das Wasser außerhalb ihrer Reichweite abzustellen. Für die spätsommerliche Jahreszeit war es ungewöhnlich warm. Ihre Zunge fühlte sich geschwollen an. Hilflos starrte sie hinüber zu dem hölzernen Becher auf dem Fensterbrett.
Den Tränen nahe, stöhnte sie vor Selbstmitleid und schlug mit der Faust gegen das Bett. Sie wälzte ihren Kopf nach links, vom Fenster fort, schloss die Augen und beschloss ein wenig zu schlafen, um nicht an ihren Durst zu denken. Wenn sie aufwachte, würden Richard und Cara zurück sein und ihr Wasser geben; und Richard würde etwas zu hören bekommen.
Der Schweiß rann ihr in den Nacken. Draußen rief unablässig irgendein Vogel, dessen sich ewig wiederholender Gesang sich wie ein kleines Mädchen anhörte, das mit hoher Stimme fragte: »Was, ich?« Wenn einer dieser Vögel erst einmal angefangen hatte, konnte sich seine Darbietung in die Länge ziehen. Kahlan hatte kaum noch einen anderen Gedanken als den Wunsch, etwas zu trinken.
Sie konnte nicht einschlafen. Ein ums andere Mal wiederholte der lästige Vogel seine Frage, und mehr als ein Mal ertappte sie sich dabei, wie sie leise mit »Ja, du« antwortete. Richard verwünschend, schloss sie fest die Augen und versuchte, ihren Durst, die Hitze und den Vogel zu vergessen und endlich einzuschlafen. Ihre Augen gingen immer wieder auf.
Kahlan löste das Nachthemd von ihrer Brust und bewegte es in Wellen auf und ab, um sich ein wenig Kühlung zu verschaffen. Sie merkte, dass sie das Wasser auf dem Fensterbrett anstarrte, das für sie – weit drüben auf der anderen Seite des Zimmers – unerreichbar schien. So unbedacht konnte Richard nicht sein. Sie überlegte, dass sie den Becher, wenn es ihr gelang, sich aufzurichten und bis zum Fußende zu rutschen, vielleicht mit der Hand erreichen konnte.
Wutschnaubend schleuderte sie die leichte Decke von ihren dürren Beinen. Ihr eigener Anblick war ihr unerträglich. Warum war Richard nur so gedankenlos? Was war los mit ihm? Mit dem Vorsatz, ihm bei seiner Rückkehr gehörig die Meinung zu sagen, schwang sie ihre Beine über die Bettkante.
Die Matratze bestand aus einer nachgiebigen, geflochtenen, mit Gräsern, Federn und Werg gefüllten Matte. Sie war recht bequem, und Kahlan war mit ihrem gemütlichen Lager ganz zufrieden. Unter großen Mühen stemmte sie sich hoch. Den Kopf in den Händen, blieb sie eine ganze Weile auf der Bettkante hocken und verschnaufte. Ihr gesamter Körper pochte vor Schmerzen.
Zum ersten Mal hatte sie sich ganz aus eigener Kraft aufgesetzt.
Sie wusste nur zu gut, was Richard damit beabsichtigte. Für seine Methode, sie zum Aufstehen zu zwingen, brachte sie trotzdem kein Verständnis auf. Noch war sie nicht so weit, sie war noch immer schwer verletzt. Sie brauchte ihre Bettruhe, um wieder zu Kräften zu kommen. Ihre eiternden Wunden hatten sich zwar endlich geschlossen und waren verheilt, trotzdem war sie überzeugt, immer noch zu verwundet zu sein, um das Bett zu verlassen. Sie hatte Angst, ihre gebrochenen Knochen auszuprobieren.
Unter ausgiebigem Stöhnen und Ächzen zog sie sich bis ans Fußende des Bettes. Als sie dort saß, eine Hand auf dem Fußteil des Bettes, um sich abzustützen, war sie immer noch zu weit vom Fenster entfernt, um das Wasser zu erreichen. Sie würde ganz aufstehen müssen.
In Gedanken ihren Mann verwünschend, hielt sie einen Augenblick inne.
Viele Wochen zuvor hatte Richard ihr, nachdem sie bereits eine ganze Weile gerufen und er ihre schwache Stimme nicht gehört hatte, eine leichte Stange dagelassen, mit der sie bis zur Wand oder Tür hinüberlangen und dagegen klopfen konnte, falls sie dringend Hilfe brauchte. Unter großen Mühen schloss Kahlan jetzt ihre Finger um die längs neben ihrem Bett liegende Stange und richtete sie senkrecht in die Höhe. Das dickere Ende auf den Boden gestemmt, ließ sie sich auf die Stange gestützt vorsichtig vom Bett heruntergleiten, bis ihre Füße den kühlen Lehmfußboden berührten. Als sie ihre Beine belastete, verschlug es ihr vor Schmerz den Atem.
Halb stehend, halb auf das Bett gestützt, war sie bereit loszuschreien, musste jedoch feststellen, dass es eher die Erwartung der brutalen Schmerzen war, die ihr den Atem stocken ließ, als der tatsächliche Schmerz. Es tat zwar durchaus weh, sie stellte aber fest, dass es zu ertragen war. Die Erkenntnis, dass es nicht annähernd so schlimm war wie zuvor, verstimmte sie ein wenig; eigentlich hatte sie Richard mit den Höllenqualen, die er ihr in seinem Hochmut aufgenötigt hatte, zu Tränen rühren wollen.
Sie belastete ihre Füße noch ein wenig mehr und zog sich mit Hilfe der Stange hoch. Schließlich stand sie, triumphierend, wenn auch wackelig; sie war tatsächlich auf den Beinen, und sie hatte es ganz aus eigener Kraft geschafft.
Kahlan schien ihre Beine nicht in die gewünschte Richtung lenken zu können. Um an das Wasser zu kommen, würde sie sie dazu bringen müssen, ihren Befehlen zu gehorchen – zumindest bis zum Erreichen des Fensters. Danach konnte sie getrost auf dem Boden zusammenbrechen, wo Richard sie finden würde. Sie schwelgte in den vor ihrem inneren Auge vorüberziehenden Bildern. Bestimmt würde er seinen Plan, sie zum Aufstehen zu bewegen, dann für nicht mehr ganz so schlau halten.
Mit Hilfe der kräftigen Stange als Stütze und ihrer Zunge im Mundwinkel zur Wahrung ihres Gleichgewichts, schlurfte sie langsam Richtung Fenster. Kahlan nahm sich vor, im Falle eines Sturzes dort zusammengesunken ohne Wasser auf dem Boden liegen zu bleiben, bis Richard zurückkam und sie mit aufgeplatzten Lippen, stöhnend, dem Verdursten nahe, fand. Dann würde es ihm Leid tun, ihr einen so erbarmungslosen Streich gespielt zu haben. Er würde sich für das, was er ihr angetan hatte, den Rest seines Lebens schuldig fühlen – dafür würde sie schon sorgen.
Sich mit jedem schwierigen Schritt auf ihrem langen Weg fast wünschend, sie möge stürzen, schaffte sie es schließlich bis zum Fenster. Um sich zu stützen, warf Kahlan einen Arm über das Fensterbrett, schloss die Augen und versuchte keuchend in kleinen Zügen zu atmen, um ihre Rippen nicht in Mitleidenschaft zu ziehen. Als sie wieder bei Atem war, zog sie sich zum Fenster hoch. Sie schnappte sich den Becher und stürzte das Wasser hinunter.
Den leeren Becher aufs Fensterbrett knallend, spähte sie nach draußen, während sie abermals verschnaufte.
Unmittelbar vor dem Haus hockte Richard auf der Erde, die Arme um die Knie geschlungen, die Hände gefaltet.
»Hallo«, begrüßte er sie grinsend.
Cara, die unmittelbar neben ihm saß, hob ungerührt den Kopf. »Wie ich sehe, seid Ihr auf.«
Kahlan hätte ihn am liebsten angeschrien, stattdessen stellte sie fest, dass sie mit aller Gewalt ein Lachen zu unterdrücken versuchte. Plötzlich überkam sie ein überwältigendes Gefühl der Torheit, weil sie nicht früher versucht hatte, eigenständig aufzustehen.
Tränen schossen ihr in die Augen, als sie hinaussah und die endlosen Wälder erblickte, die kräftigen, leuchtenden Farben, die majestätischen Berge und die gewaltige, mit langsam in der Ferne entschwindenden, sanft dahinschwebenden weißen Wolken übersäte Himmelsfläche. Die Größe der Berge, ihre üppigen Farben, übertraf alles, was sie je zuvor gesehen hatte. Wie war es möglich, dass sie sich nicht mehr als alles andere gewünscht hatte, aufstehen und die Welt um sie herum sehen zu können?
»Dir ist natürlich klar, dass du einen großen Fehler begangen hast«, sagte Richard.
»Wie meinst du das?«, fragte Kahlan.
»Nun, wärst du nicht aufgestanden, hätten wir dich weiter umsorgt – zumindest eine Weile. Jetzt, da du uns bewiesen hast, dass du alleine aufstehen und umhergehen kannst, werden wir damit weitermachen und Dinge aus deiner Umgebung entfernen und dich auf diese Weise zwingen, umherzugehen und dir selbst zu helfen.«
Obwohl sie ihm insgeheim dankte, war sie nicht – noch nicht – bereit, ihm rundheraus zu sagen, wie Recht er damit hatte. Im Stillen liebte sie ihn jedoch nur umso mehr, weil er, um ihr zu helfen, ihren Zorn auf sich geladen hatte.
Cara wandte sich an Richard. »Sollten wir ihr nicht zeigen, wo sie den Tisch findet?«
Richard zuckte mit den Achseln. »Wenn sie Hunger bekommt, wird sie das Schlafzimmer verlassen und ihn schon finden.«
In der Hoffnung, das gezierte Grinsen aus seinem Gesicht zu wischen, warf Kahlan mit dem Becher nach ihm. Er fing ihn auf.
»Es freut mich zu sehen, dass dein Arm wieder funktioniert«, meinte er. »Dann kannst du dir dein Brot selbst abschneiden.« Als sie protestieren wollte, fuhr er fort: »Das ist nur gerecht. Cara hat es gebacken, das Mindeste, was du tun kannst, ist es abzuschneiden.«
Kahlan klappte der Unterkiefer runter. »Cara hat Brot gebacken?«
»Lord Rahl hat es mir beigebracht«, sagte Cara. »Ich wollte Brot zu meinem Eintopf, richtiges Brot, da meinte er, wenn ich Brot wolle, müsse ich lernen, welches zu backen. Es war eigentlich ganz einfach, ein bisschen so wie bis zum Fenster gehen. Nur war ich erheblich besserer Laune und habe ihm nichts an den Kopf geschmissen.«
Kahlan konnte nicht umhin zu lächeln; mit Sicherheit war es Cara schwerer gefallen, einen Teig zu kneten, als ihr, aufzustehen und bis zum Fenster zu gehen. Irgendwie bezweifelte sie, dass Cara dabei gut gelaunt gewesen war. Diesen Kampf der Starrköpfe hätte sie gerne miterlebt.
»Gib mir meinen Becher zurück, und dann geh etwas Fisch fürs Abendessen fangen. Ich habe Hunger. Ich möchte eine Forelle, und zwar eine große. Und dazu Brot.«
Richard lächelte. »Ganz wie du willst. Wenn du es schaffst, den Tisch zu finden.«
Kahlan fand den Tisch. Von da an aß sie nie wieder im Bett.
Anfangs waren die Schmerzen beim Gehen mehr als sie ertragen konnte, so dass sie immer wieder in ihr Bett flüchtete. Gewöhnlich kam Cara dann herein und bürstete Kahlan das Haar, damit sie nicht allein war. Sie hatte keine Kraft in ihren Muskeln und konnte sich kaum selbstständig bewegen. Das Ausbürsten ihrer Haare kam einer übermenschlichen Anstrengung gleich. Bereits der Gang zum Tisch erschöpfte sie, und anfangs brachte sie nicht mehr zu Stande. Richard und Cara zeigten sich verständnisvoll und ermutigten sie ohne Unterlass, trieben sie aber auch an.
Kahlan war überglücklich, das Bett verlassen zu können, und das half ihr, die Schmerzen zu ignorieren. Die Welt war wieder ein Ort der Wunder. Sie schätzte sich überglücklich, endlich nach draußen auf den Abort gehen zu können. Zwar hatte sie es nie ausdrücklich erwähnt, dennoch war Kahlan sicher, dass auch Cara froh darüber war.
So sehr ihr das gemütliche Heim gefiel, es zu verlassen war, als habe man sie endlich aus einem Verlies befreit. Zuvor hatte Richard ihr des Öfteren angeboten, sie tagsüber nach draußen mitzunehmen, aus Angst vor den Schmerzen hatte sie ihr Bett jedoch nie verlassen wollen. Sie merkte, dass die Schwere ihrer Krankheit ihr Denken im Laufe der Zeit schwerfällig und wirr gemacht hatte. Wie den Sommer, so hatte sie für eine Weile auch sich selbst verloren. Jetzt endlich hatte sie wieder das Gefühl, einen klaren Kopf zu haben.
Sie fand heraus, dass die Aussicht von ihrem Fenster den am wenigsten eindrucksvollen aller Ausblicke bot. Schneebedeckte Gipfel ragten um die winzige, von Richard im Schoß atemberaubender Berge errichtete Hütte in die Höhe. Die einfache Hütte mit einem Schlafzimmer zu beiden Seiten, eins für Richard und Kahlan, eins für Cara, sowie einem Gemeinschaftszimmer in der Mitte, stand am Rand einer Wiese voller samtgrüner Gräser, zwischen denen verstreut einzelne Wildblumen wuchsen. Obwohl die Jahreszeit bei ihrer Ankunft bereits fortgeschritten war, war es Richard gelungen, an einer sonnigen Stelle vor Caras Fenster einen kleinen Garten anzulegen, in dem er frisches Gemüse für ihre Mahlzeiten anbaute, sowie einige Kräuter, um ihrer Küche ein wenig mehr Aroma zu verleihen. Unmittelbar hinter der Hütte ragten hoch über ihren Köpfen riesige Kiefern in die Höhe, die sie vor der ärgsten Wucht des Windes schützten.
Richard hatte seine Schnitzerei fortgeführt, um sich, wenn er an Kahlans Bett saß, sich unterhielt und Geschichten erzählte, die Zeit zu vertreiben, aber nachdem sie endlich das Bett verlassen hatte, änderten sich seine Schnitzereien. Anstelle von Tieren begann Richard Menschen zu schnitzen.
Dann, eines Tages, überraschte er sie mit seiner bis dahin herrlichsten Schnitzerei – um, wie er sagte, zu feiern, dass sie so weit genesen war, dass sie endlich wieder in die Welt hinaustreten konnte. Überrascht vom vollendeten Realismus und der Kraft der kleinen Statuette, erwiderte sie leise, nur die Gabe könne seine Hand beim Schnitzen geführt haben. Richard hielt solches Gerede für Unsinn.
»Menschen ohne die Gabe schnitzen ständig die wunderschönsten Statuen«, sagte er. »Mit Magie hat das nichts zu tun.«
Doch sie wusste, dass einige Künstler die Gabe besaßen und mit ihrer Kunst oft eine magische Wirkung erzielten.
Manchmal sprach Richard wehmütig von den Kunstwerken im Palast des Volkes in D’Hara, wo man ihn gefangen gehalten hatte. Da er in Kernland aufgewachsen war, hatte er niemals zuvor aus Marmor gemeißelte Statuen zu Gesicht bekommen, und erst recht keine, die in so eindrucksvoller Größe oder von so talentierten Händen gemeißelt worden waren. In gewisser Hinsicht hatten ihm diese Kunstwerke die Augen geöffnet, seinen Horizont erweitert und einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Wer außer Richard hätte die während seiner Gefangenschaft und Folter gesehene Schönheit in angenehmer Erinnerung behalten?
Ohne Zweifel war es richtig, dass Kunst auch unabhängig von Magie existieren konnte, andererseits hatte man Richard überhaupt nur mit Hilfe eines durch Kunst zum Leben erweckten Banns gefangen nehmen können. Kunst war eine universelle Sprache und damit bei der Ausführung von Magie ein Hilfsmittel von unschätzbarem Wert.
Schließlich gab Kahlan es auf, mit ihm darüber zu streiten, ob die Gabe ihm beim Schnitzen half, er glaubte einfach nicht daran. Trotzdem spürte sie, dass sich seine Gabe, die über kein anderes Ventil verfügte, auf diese Weise äußerte. Magie schien stets einen Weg zu finden, sich zu offenbaren, und für sie hatten seine Schnitzereien von Menschen zweifellos etwas Magisches.
Die Frauengestalt jedoch, die er ihr zum Geschenk geschnitzt hatte, rührte sie zutiefst. Er nannte das nahezu zwei Fuß hohe, aus butterweichem, schwerem, duftendem Walnussholz geschnitzte Bildnis Seele . Die Fraulichkeit ihres Körpers, ihre vollkommene Gestalt, ihre Rundungen, ihre Knochen und die Muskulatur zeichneten sich deutlich sichtbar unter ihrem fließenden Gewand ab. Sie sah aus, als sei sie lebendig.
Wie Richard eine solche Meisterleistung vollbracht hatte, überstieg selbst Kahlans Vorstellungsvermögen. Durch diese Frau mit ihrem im Wind wehenden Gewand, dem in den Nacken geworfenen Kopf, der vorgereckten Brust, den an ihren Seiten leicht zu Fäusten geballten Händen und ihrem kraftvoll durchgedrückten Rücken, so als trotze sie einer unsichtbaren Macht, die sie erfolglos zu unterjochen suchte, hatte Richard ein Gefühl von … Seele ausgedrückt.
Ganz offenkundig sollte die Statue Kahlan nicht ähnlich sehen, und doch rief sie in ihrem Innern eine Reaktion hervor, eine Art Spannung, die ihr überraschend vertraut vorkam. Etwas an der Frau in dieser Schnitzerei, ein Wesenszug, der in ihr zum Ausdruck kam, ließ Kahlan danach dürsten, gesund zu werden, wieder lebendig, stark und unabhängig zu sein.
Wenn das keine Magie war…
Kahlan hatte ihr ganzes Leben in prächtigen Palästen zugebracht, war mit jeder Menge Kunstwerken anerkannter Künstler konfrontiert worden, doch keines hatte ihr mit der Wucht seiner visionären Kraft, dem Gefühl individueller Erhabenheit so den Atem verschlagen wie diese stolze, lebenssprühende Frau in ihrem fließenden Gewand. Ihre Kraft und Vitalität schnürten Kahlan die Kehle zu, und sie konnte nicht umhin, Richard in einer sprachlosen Gefühlswallung die Arme um den Hals zu werfen.