27

Gähnend rieb Kahlan sich die Augen, streckte blinzelnd den Rücken und dehnte ihre verspannten Muskeln, als die furchtbaren, bösen Erinnerungen aus den vom Schlaf noch trägen Winkeln ihres Verstandes hervorstürzten und fast augenblicklich alle anderen Gedanken verdrängten.

Längst hatte sie die Sphäre der unbarmherzigen Seelenqualen und der Tränen hinter sich gelassen und war eingetreten in das souveräne Reich ungezügelten Zorns.

Ihre Finger ertasteten die kalte, stählerne Scheide seines neben ihr liegenden Schwertes, es schien geradezu erfüllt von eiskalter Wut. Das, die Schnitzerei der Seele und ihre Erinnerungen waren so ziemlich alles, was ihr von ihm geblieben war.

Es gab nicht übermäßig viel Feuerholz, aber da sie ohnehin nicht mehr viel benötigen würden, legte Kahlan einen Ast aus dem noch verbliebenen Vorrat nach. Sie ging in die Hocke und hielt ihre Hände, in der Hoffnung, ein wenig Gefühl in ihre tauben Finger zu bekommen, dicht über die kraftlosen Flammen. Als der Wind sich ein wenig drehte, schlug ihr eine Woge beißenden Rauchs entgegen und brachte sie zum Husten. Der Rauch wälzte sich an ihrem Gesicht vorbei, kroch unter dem Felsenüberhang entlang und entwich aus ihrem Unterschlupf.

Cara war unterwegs, daher schob Kahlan den kleinen Wasserkessel in die Flammen, um für die Rückkehr der Mord-Sith Tee aufzusetzen. Cara befand sich wahrscheinlich gerade auf ihrem behelfsmäßigen Abort oder sah nach den Kaninchenfallen, die sie am Abend zuvor ausgelegt hatten. Kahlan hegte keine allzu große Hoffnung, dass sie ein Kaninchen für ihr Frühstück fangen würden, nicht bei diesem Wetter. Für alle Fälle hatten sie genügend Vorräte mitgenommen.

Das tiefrote Licht einer kalten, frischen Morgendämmerung schien durch den gelegentlich aufreißenden Wolkenhimmel, drang durch die Lücken zwischen den schneeverkrusteten Stämmen, um in flachem Winkel unter den Felsenüberhang zu fallen, wo es ihren kleinen Lagerplatz in ein rötliches Licht tauchte. Die beiden hatten erfolglos versucht, eine Launenfichte zu finden. Der schützende Schirm aus Bäumen sowie ein niedriger Schutzwall aus Zweigen, die sie und Cara am Abend zuvor geschnitten und als Windschutz in die Erde gesteckt hatten, wie Richard es ihnen beigebracht hatte, schirmten die abgelegene Stelle ab. Sie konnten von Glück reden, dass sie sie in diesem Schneetreiben überhaupt gefunden hatten. Draußen war der Schnee recht tief, in ihrem Unterschlupf dagegen hatten sie eine verhältnismäßig trockene Nacht verbracht. In die Decken und ihre dichten Wolfspelzüberwürfe gehüllt, hatten sich Kahlan und Cara aneinander geschmiegt, um sich zu wärmen.

Kahlan fragte sich, wo Richard sein mochte, und ob er ebenfalls fror. Sie hoffte nicht. Da er ein paar Tage früher aufgebrochen war, hatte er vermutlich Glück gehabt und war, dem Schnee aus dem Weg gehend, bereits bis hinunter ins Tiefland abgestiegen.

Gemäß seiner Bitte hatten Cara und Kahlan drei Tage in ihrer Hütte ausgeharrt; am Morgen nach seinem Fortgang hatte der Schnee eingesetzt. Kahlan war versucht gewesen, vor ihrem Aufbruch einen Wetterumschwung abzuwarten, doch sie hatte durch Nicci eine bittere Lektion gelernt: Warte niemals ab, sondern handle. Als Richard nicht zurückkam, waren Kahlan und Cara unverzüglich losmarschiert.

Anfangs waren sie nur mühsam vorangekommen, die Pferde mal führend, mal reitend, hatten sie sich durch die Schneeverwehungen gekämpft. Ihre Sicht war stark eingeschränkt, und die meiste Zeit hatten sie, als einzigen Hinweis auf ihre Marschrichtung, ihre rechte Schulter in den aus Westen kommenden Wind halten müssen. Unter diesen Umständen war das Überqueren von Pässen ein gefährliches Unterfangen. Eine Zeit lang befürchteten sie, mit dem Verlassen ihrer sicheren Hütte einen schweren Fehler begangen zu haben.

Am Abend zuvor hatten sie beim Sammeln von Zweigen für ihren Unterschlupf unmittelbar vor dem Dunkelwerden einen kurzen Blick durch eine Wolkenlücke auf die tiefer gelegenen Hügel erhaschen können; sie waren grün und braun gewesen, nicht weiß. Nicht mehr lange, und sie würden sich unterhalb der Schneegrenze befinden. Kahlan war überzeugt, dass sie das Schlimmste hinter sich hatten.

Sie war gerade dabei, ein zusätzliches Hemd über die beiden, die sie bereits trug, zu streifen, als Kahlan das Knirschen von Schritten im Schnee vernahm. Als sie merkte, dass es mehr als ein Schrittepaar war, stand sie hastig auf.

Cara bahnte sich einen Weg durch das dichte Geäst der schützenden Bäume. »Wir haben Besuch«, verkündete sie mit düsterer Stimme. Kahlan sah, dass Cara ihren Strafer in der geballten Faust hielt.

Zwischen den Bäumen erschien, in Caras Fußstapfen folgend, eine in mehrere Kleiderschichten gehüllte, untersetzte Frau. Verborgen unter den Schichten aus Umhängen, Schals und anderen herabhängenden Zipfeln dicken Stoffes, erkannte Kahlan zu ihrer Überraschung Ann, die ehemalige Prälatin der Schwestern des Lichtes.

Hinter Ann folgte eine größere Frau, die Schals aus dem Gesicht zurückgeschlagen, so dass man ihr braunes, grau werdendes, locker auf die Schultern fallendes Haar erkennen konnte. Sie hatte einen durchdringenden, ruhigen, berechnenden Blick, der sich für immer als strahlenförmiges, von ihren tief liegenden Augen ausgehendes feines Faltengeflecht in ihr Gesicht gegraben hatte. Ihre Brauen wirkten weniger ruhig, mehrmals näherten sie sich zuckend ihrer vorspringenden Nase. Sie machte den Eindruck einer Frau, die ihre Kinder mit der Rute erzog.

»Kahlan!« Ann stürzte vor und fasste Kahlan bei den Armen. »O, mein Liebes, was tut es gut, dich wiederzusehen!« Als Kahlan einen Blick über ihre Schulter warf, sah Ann sich um. »Das ist eine meiner Schwestern, Alessandra. Alessandra, darf ich dir die Mutter Konfessor vorstellen – Richards Gemahlin.«

Die Frau trat lächelnd vor. Ihr freundliches Strahlen ließ ihr Gesicht vollkommen verändert erscheinen; augenblicklich wischte eine offene Gutmütigkeit jede Strenge fort, eine Verwandlung, die umso verwirrender war, als sie dadurch wie zwei Menschen mit einem gemeinsamen Gesicht wirkte. Oder aber, überlegte Kahlan, wie ein Mensch mit zwei Gesichtern.

»Mutter Konfessor, es ist schön, Euch kennen zu lernen. Ann hat mir alles über Euch erzählt, und was für ein wundervoller Mensch Ihr seid.« Sie erfasste den Lagerplatz mit einem raschen Blick. »Ich freue mich so für Euch und Richard.«

Anns Augen wanderten suchend nach rechts und links. Am Schwert blieb ihr Blick hängen.

»Wo ist Richard? Cara wollte sich mit keinem Wort dazu äußern.« Sie schaute hoch in Kahlans Augen. »Gütiger Schöpfer«, hauchte sie. »Ist etwas nicht in Ordnung? Was ist passiert? Wo ist Richard?«

Endlich bekam Kahlan ihre Zähne auseinander. »Eine deiner Schwestern hat ihn mitgenommen.«

Ann schob sich die Schals von ihrem grauen Haar und ergriff abermals Kahlans Arm. Sie reichte mit dem Scheitel gerade bis an Kahlans Brust, schien aber fast doppelt so breit zu sein.

»Was sagst du da? Was soll das heißen, eine Schwester hat ihn mitgenommen? Welche Schwester denn?«

»Nicci«, knurrte Kahlan.

Ann fuhr zurück. »Nicci…«

Schwester Alessandra stockte der Atem. »Schwester Nicci?« Sie kreuzte ihre Hände über dem Herz. »Schwester Nicci gehört nicht zu Anns Schwestern, Nicci ist eine Schwester der Finsternis.«

»Oh, das ist mir durchaus bewusst«, erwiderte Kahlan.

»Wir müssen ihn unbedingt zurückholen«, sagte Ann. »Auf der Stelle. Bei ihr ist er nicht sicher.«

»Unmöglich zu sagen, zu was Nicci…« Schwester Alessandra brach unvermittelt ab und schloss den Mund.

Der Wind wehte ihnen eine glitzernde Bö ins Gesicht, die das rötliche Morgengrauen für einen Augenblick hinter einem weißen Schleier verschwinden ließ. Kahlan befreite sich blinzelnd vom Schnee. Cara, in ihrem roten Lederanzug, über dem sie sowohl einen Umhang als auch ihren schweren Fellüberwurf trug, achtete nicht darauf. Die beiden anderen Frauen wischten sich mit ihren schweren Wollfäustlingen über die Augen.

»Es wird sich alles wieder fügen, Kahlan«, versuchte Ann sie zu beruhigen. »Doch jetzt erzähl uns, was ist vorgefallen? Du musst uns alles erzählen. Ist er verletzt?«

Kahlan versuchte ihren aufkommenden Zorn zu unterdrücken. »Nicci hat einen Bann bei mir benutzt, den sie als Mutterbann bezeichnete.«

Ann fiel die Kinnlade herunter; Schwester Alessandra stockte abermals der Atem.

»Bist du sicher?«, fragte Ann vorsichtig nach. »Bist du sicher, dass es sich wirklich darum gehandelt hat? Woher willst du das mit Bestimmtheit wissen?«

»Sie hat mich mit einer Art Magie durchbohrt. Von einem solchen Bann hatte ich noch nie gehört. Ich weiß nur, dass es eine zweifellos mächtige Magie war, von der sie behauptete, sie werde Mutterbann genannt. Dann sagte sie noch, irgendwie seien wir beide mittels dieser Magie miteinander verbunden.«

Alessandra trat einen Schritt vor. »Das macht ihn noch nicht zu einem Mutterbann.«

»Als Cara ihren Strafer gegen Nicci benutzte«, sagte Kahlan, »warf mich das auf die Knie, als ob Cara den Strafer gegen mich eingesetzt hätte.«

Ann und Alessandra sahen sich schweigend an.

»Aber … aber, wenn sie tatsächlich…«, stammelte Ann.

Kahlan nahm Ann die Worte aus dem Mund, die sie nicht auszusprechen wagte. »Sollte dies tatsächlich Niccis Wunsch sein, dann könnte sie den magischen Strang kappen, und ich würde sterben. Auf diese Weise hat sie Richard gefangen genommen. Sie versprach, ich würde überleben, falls Richard sie begleitet. Richard hat sich freiwillig in die Sklaverei begeben, um mir das Leben zu retten.«

»Das ist völlig ausgeschlossen«, meinte Ann und legte ihre behandschuhten Finger ans Kinn. »Nicci kann unmöglich wissen, wie man einen derart ungewöhnlichen Bann einsetzt – dafür ist sie viel zu jung. Außerdem erfordert ein so außergewöhnlicher Bann ein gewaltiges Maß an Kraft. Bestimmt hat sie etwas anderes getan und nur behauptet, es handele sich um einen Mutterbann. Nicci könnte niemals einen solchen Mutterbann bewirken.«

»Doch, das könnte sie«, widersprach Alessandra zögernd. »Sie besitzt sowohl die nötige Kraft als auch die Fähigkeit. Sie brauchte nur jemanden, der über das spezielle Wissen verfügt, um sie darin zu unterrichten. Nicci verfolgt die Magie nicht übermäßig leidenschaftlich, aber befähigt ist sie wie kaum eine andere.«

»Lidmila…«, meinte Ann leise zu Alessandra, als es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen fiel. »Jagang hat Lidmila bei sich.«

Kahlan bedachte Alessandra mit einem argwöhnisch funkelnden Blick. »Und wie kommt es, dass Ihr so viel mehr über Niccis Fähigkeiten wisst als selbst die Prälatin?«

Schwester Alessandra raffte ihren Umhang, der sich geöffnet hatte, wieder zusammen. Alles Warme wich aus ihrem Gesicht, und sie verfiel wieder in ihr missbilligendes Stirnrunzeln – diesmal jedoch mit einem Zug von Bitterkeit um den Mund.

»Ich habe Nicci in den Palast der Propheten gebracht, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ich war für ihre Erziehung verantwortlich und leitete ihre Ausbildung in der Verwendung der Gabe; ich kenne sie besser als jede andere. Ihre dunklen Kräfte sind mir ebenfalls nicht unbekannt, denn auch ich war eine Schwester der Finsternis. Ich war es, die sie dazu verleitet hat, sich dem Hüter zuzuwenden.«

Kahlan spürte, wie die Wucht ihres klopfenden Herzens sie schüttelte. »Dann seid Ihr also auch eine Schwester der Finsternis.«

»Sie war es«, warf Ann ein, Kahlan mit erhobener Hand warnend.

»Die Prälatin kam in Jagangs Feldlager und rettete mich, nicht nur vor Jagang, sondern auch vor dem Hüter. Jetzt diene ich wieder dem Licht.« Das strahlende Lächeln verwandelte Alessandras Gesicht ein weiteres Mal. »Ann hat mich zum Schöpfer zurückgeführt.«

Was Kahlan anbetraf, so war diese Behauptung es nicht wert, bestätigt zu werden. »Wie habt Ihr uns gefunden?«

Ann überging die unmissverständliche Frage. »Wir müssen uns beeilen und Richard aus Niccis Gewalt befreien, bevor es ihr gelingt, ihn an Jagang auszuliefern.«

Den funkelnden Blick noch immer auf Alessandra gerichtet, antwortete ihr Kahlan: »Sie wird ihn nicht zu Jagang bringen. Sie behauptete, nicht im Namen Seiner Exzellenz zu handeln, sondern in ihrem eigenen Interesse. Das zumindest waren ihre Worte. Sie sagte, sie habe Jagangs Ring aus ihrer Unterlippe entfernt und fürchte sich nicht vor ihm.«

»Hat sie auch gesagt, warum sie dann Richard gefangen genommen hat?«, wollte Ann wissen. »Oder wenigstens, wohin sie ihn bringen will?«

Kahlan richtete ihren forschenden Blick wieder auf Ann. »Sie sagte, sie wolle ihn in die Vergessenheit führen.«

»In die Vergessenheit!«, rief Ann erschrocken.

»Ich habe dir eine Frage gestellt«, sagte Kahlan, deren Stimme einen zunehmend verärgerten Unterton annahm. »Wie habt Ihr uns gefunden?«

Ann tippte gegen ihre Hüfte. »Ich bin im Besitz eines Reisebuches, mit dessen Hilfe ich mich mit Verna bei unseren Truppen in Verbindung gesetzt habe. Verna erzählte mir von den Boten, die euch aufsuchen, daher wusste ich, wo ich euch finden würde. Glücklicherweise bin ich schnell genug aufgebrochen, um ein Haar hätten wir euch verfehlt. Ich kann gar nicht sagen, wie froh ich bin, dich wieder bei Kräften zu sehen, Kahlan. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.«

Kahlan sah, dass die hinter den beiden Frauen stehende Cara noch immer ihren Strafer in der Hand hielt. Kahlan brauchte keinen Strafer; ihre brodelnde Konfessorkraft war nie weiter als ein impulsives Zucken entfernt. Aus Vorsicht würde sie bestimmt keinen Fehler mehr begehen.

»Das Reisebuch, natürlich. Dann wird Verna dir auch von Richards Vision berichtet haben, dass er unsere Truppen auf keinen Fall gegen die Imperiale Ordnung führen darf.«

Ann, ganz offenkundig nicht erpicht darauf, eine derartige Vision zu diskutieren, nickte zögernd. »Vor ein paar Tagen, wir waren bereits ganz in der Nähe, ließ Verna uns die Nachricht zukommen, die D’Haraner seien ziemlich aufgebracht, weil sie plötzlich Richards Ortung verloren hätten. Sie sagte, zwar seien sie aufgrund ihrer Bande zu Lord Rahl noch immer vor dem Traumwandler sicher, hätten jedoch ganz plötzlich das Gespür dafür verloren, wo Richard sich befindet.«

»Nicci hat die Bande vor uns verborgen«, knurrte Cara.

»Wie auch immer, wir müssen ihn finden«, sagte Ann. »Wir müssen ihn aus Niccis Gewalt befreien. Er ist unsere einzige Chance. Was immer er auch denkt, es ist Unfug, und es ist unsere Pflicht, ihn eines Besseren zu belehren, aber zuallererst müssen wir ihn zurückholen. Er muss unsere Truppen gegen die Imperiale Ordnung führen, er ist es, der in der Prophezeiung genannt wurde.«

»Deswegen seid ihr also hergekommen«, sagte Kahlan leise bei sich. »Du hast von Verna gehört, dass er es ablehnt, die Armee zu führen oder ihr auch nur Befehle zu erteilen. Du bist hergekommen, weil du dir Hoffnungen machst, du könntest ihn zum Kämpfen zwingen.«

»Er muss kämpfen«, beharrte Ann.

»Nein, das muss er nicht«, erwiderte Kahlan. »Er ist zu der Erkenntnis gelangt, dass wir den Kampf um unsere Freiheit auf Generationen hinaus verlieren würden, wenn er uns in die Schlacht führt. Er sagte, er habe erkannt, dass die Menschen mit der Freiheit noch nichts anfangen können und deshalb nicht bereit sind, für sie zu kämpfen.«

»Er muss sich einfach dem Volk gegenüber beweisen.« Anns finsteres Gesicht wurde rot. »Er muss beweisen, dass er sein Anführer ist, was er ansatzweise bereits getan hat. Dann wird das Volk ihm auch folgen.«

»Richard sagte, er habe erkannt, dass nicht er sich dem Volk, sondern das Volk sich ihm gegenüber beweisen muss.«

Ann kniff überrascht die Augen halb zusammen. »Aber das ist Unsinn.«

»Ist es das?«

»Natürlich ist es das. Der Junge wurde bereits vor Jahrhunderten in einer Prophezeiung genannt. Hunderte von Jahren habe ich darauf gewartet, dass er geboren wird, um uns in dieser Auseinandersetzung anzuführen.«

»Was du nicht sagst. Und wer bist du, dass du Richards Entschluss rückgängig zu machen versuchst – wo du doch angeblich so entschlossen bist, ihm zu folgen? Er hat einen Entschluss gefasst. Wenn er der von dir herbeigesehnte Anführer ist, dann musst du dich seiner Führung unterwerfen, und damit auch seinem Entschluss.«

»Aber das ist nicht das, was in der Prophezeiung verlangt wird!«

»Richard glaubt nicht an Prophezeiungen, er glaubt, wir haben unser Schicksal selber in der Hand. Ganz allmählich begreife ich, was ihn zu der Behauptung veranlasst hat, der Glaube an Prophezeiungen beeinflusse künstlich die Ereignisse. Es ist der blinde Glaube an die Prophezeiung selbst – an irgendwelche mystisch verklärte Folgen –, der sich schädlich auf das Leben der Menschen auswirkt.«

Anns graue Augen weiteten sich bestürzt, um sich gleich darauf wieder zu verengen. »Richard ist der in der Prophezeiung Genannte, der uns gegen die Imperiale Ordnung führen soll. In diesem Kampf geht es um die blanke Existenz der Magie in dieser Welt – begreifst du das nicht?! Für ebendiesen Kampf wurde Richard geboren. Wir müssen ihn zurückholen!«

»Du bist an allem schuld«, sagte Kahlan leise.

»Was?« Anns Stirnrunzeln ging in ein gutmütiges Lächeln über. »Was redest du da, Kahlan?« Ihr Tonfall wurde wieder freundlich. »Du kennst mich doch, du bist über unseren Kampf für das Überleben der Freiheit der Magie informiert. Wenn Richard uns nicht führt, haben wir nicht die geringste Chance.«

Kahlan ließ ihren Arm vorschnellen und packte die verblüffte Schwester Alessandra an der Kehle; die Augen der Frau weiteten sich.

»Keine Bewegung«, presste Kahlan zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »oder ich entfessele meine Konfessorkraft.«

Ann hob flehend die Hände. »Hast du den Verstand verloren, Kahlan? Lass sie in Frieden. So beruhige dich doch.«

Mit ihrer freien Hand deutete Kahlan ins Feuer. »Das Reisebuch. Wirf es ins Feuer.«

»Was? Ich werde nichts dergleichen tun!«

»Auf der Stelle«, presste Kahlan zwischen den Zähnen hervor. »Oder Schwester Alessandra gehört mir. Und wenn ich mit ihr fertig bin, wird Cara dafür sorgen, dass du das Reisebuch ins Feuer wirfst, und wenn du es mit gebrochenen Fingern tun musst.«

Ann drehte sich kurz zu der Mord-Sith um, die hinter ihrer Schulter wartete.

»Ich weiß, du bist erregt, und dafür habe ich volles Verständnis, aber wir stehen in dieser Angelegenheit auf derselben Seite, wir lieben Richard genau wie du. Auch wir wollen die Imperiale Ordnung daran hindern, sich der gesamten Welt zu bemächtigen. Wir…«

»Wir? Wären die Schwestern und du nicht gewesen, es wäre niemals so weit gekommen. Du bist an allem schuld. Nicht Jagang, nicht die Imperiale Ordnung, sondern du.«

»Hast du jetzt endgültig den Verstand verl…«

»Du allein trägst die Verantwortung für das, was der Welt widerfuhr. So wie Jagang seinen Ring durch die Unterlippe seiner Sklavinnen bohren lässt, so hast du den deinen durch die Nase deines Sklaven bohren lassen – durch Richards! Du allein trägst die Verantwortung und für die bereits erlittenen Verluste und für die Menschenleben, die in dem blutigen Gemetzel, das über das Land hinwegfegen wird, noch verloren gehen werden. Du, und nicht Jagang, bist es, der wir das alles zu verdanken haben!«

Trotz der Kälte war Anns Stirn mit Schweißperlen übersät. »Was im Namen des Schöpfers redest du da? Du kennst mich, Kahlan, ich war bei deiner Hochzeit. Ich stand stets auf deiner Seite und habe mich nur deshalb an die Prophezeiungen gehalten, weil ich den Menschen helfen wollte.«

»Du hast die Prophezeiungen selbst hervorgebracht! Ohne dein Zutun wären sie niemals eingetreten! Sie haben sich nur deshalb ereignet, weil du sie erfüllt hast. Du hast den Ring durch Richards Nase gezogen!«

Ann reagierte mit Gelassenheit auf Kahlans Zornesausbruch.

»Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst, aber jetzt geht dir jeder Sinn für Vernunft abhanden.«

»Ach, wirklich? Ist das so, Prälatin Ann? Warum hat Schwester Nicci meinen Gemahl in ihrer Gewalt? Antworte mir. Warum?«

Anns Gesichtsausdruck erstarrte zu einer grollend finsteren Maske. »Weil sie böse ist.«

»Nein.« Kahlans Griff um Alessandras Hals schloss sich fester. »Der wahre Grund dafür bist du. Hättest du Schwester Verna gar nicht erst in die Neue Welt geschickt und ihr befohlen, Richard über die Barriere in die Alte Welt zu schaffen…«

»Aber die Prophezeiungen besagen, dass die Imperiale Ordnung sich erheben wird, um die Welt zu erobern und die Magie zu vernichten, wenn es uns nicht gelingt, ihr Einhalt zu gebieten! In den Prophezeiungen heißt es weiter, Richard sei der Einzige, der uns führen könne, der Einzige, der überhaupt eine Chance habe!«

»Und du hast diese veraltete Prophezeiung zum Leben erweckt, du ganz allein. Und das alles nur, weil du eher blutleeren Worten traust als deinem eigenen Verstand. Du bist heute nicht hier, weil du die Entscheidungen deines erklärten Anführers unterstützen willst oder um vernünftig mit ihm zu reden, sondern um ihm eine Prophezeiung aufzuzwingen – und ihn diesen Ring spüren zu lassen. Hättest du Verna damals nicht ausgesandt, um Richard abermals in deine Gewalt zu bringen, was wäre dann wohl geschehen, Prälatin?«

»Nun, die Imperiale Ordnung…«

»Die Imperiale Ordnung? Sie säße noch immer in der Alten Welt fest, jenseits der Barriere! Oder etwa nicht? Drei Jahrtausende lang hat diese von Zauberern geschaffene Barriere dem Druck der Imperialen Ordnung und ihresgleichen sowie deren Wunsch, in Massen zur Eroberung entschlossen in die Neue Welt einzufallen, unüberwindbar standgehalten.

Nur weil du Richard gegen seinen Willen hast gefangen nehmen lassen und angeordnet hast, ihn in die Alte Welt zu schaffen – alles nur aus sklavischer Ehrfurcht vor nichts sagenden Worten in alten, verstaubten Büchern –, war er gezwungen, die Barriere zu zerstören; dadurch wurde es der Imperialen Ordnung erst möglich, in gewaltigen Massen in die Neue Welt einzufallen, in die Midlands, in meine Midlands, wo sie mein Volk abschlachtet und mir meinen Ehemann stiehlt – und das alles nur, weil du dich unbedingt einmischen musstest!

Ohne dich wäre nichts von alledem geschehen! Es gäbe keinen Krieg, keine Berge dahingemetzelter Menschen in den Städten der Neuen Welt, nicht Tausende von toten Männern, Frauen und Kindern, abgeschlachtet durch die Hand brutaler Halsabschneider der Imperialen Ordnung – nichts von alledem!

Wegen dir und deiner ach so geschätzten Prophezeiungen wurde der Schleier zerrissen und die Welt von einer Epidemie heimgesucht. Ohne deine Unternehmungen, mit denen du uns alle vor den Prophezeiungen ›retten‹ wolltest, wäre all dies niemals geschehen. Ich wage gar nicht daran zu denken, wie viele Kinder ich allein deinetwegen am schwarzen Tod habe leiden und sterben sehen, Kinder, die mir in die Augen schauten und mich fragten, ob sie wieder gesund werden würden, was ich bejahen musste, obwohl ich ganz genau wusste, dass sie die nächste Nacht nicht überleben würden.

Niemand wird die genaue Zahl der Toten je erfahren, es ist niemand mehr übrig, der sich noch an all die kleinen Orte erinnern könnte, die von jener Pest für immer ausgelöscht wurden. Ohne deine Einmischung würden diese Kinder noch leben, ihre Mütter würden ihnen lächelnd beim Spielen zuschauen, und ihre Väter würden ihnen beibringen, wie es in der Welt zugeht – eine Welt, die du ihnen vorenthalten hast, weil du an Prophezeiungen glaubst!

Du behauptest, dies sei ein Kampf um den Fortbestand der Magie in dieser Welt – dabei hat dein Wirken zur Erfüllung der Prophezeiungen die Welt womöglich längst zum Untergang verdammt. Ohne dein Zutun wäre es nie dazu gekommen, dass man die Chimären auf die Welt losgelassen hätte. Es stimmt, Richard ist es gelungen, sie zu vertreiben, aber welcher nicht wieder gut zu machende Schaden ist dadurch entstanden? Mag sein, dass wir unsere Kraft zurückerhalten haben, während jener Zeit jedoch, als die Chimären der Welt die Magie entzogen, sind ganz sicherlich einige Geschöpfe der Magie ausgestorben, Wesen, die für ihre nackte Existenz auf Magie angewiesen waren. Magie bedarf für ihren Fortbestand der Ausgewogenheit. Die Ausgewogenheit der Magie in dieser Welt war gestört. Vielleicht hat die unwiderrufliche Vernichtung von Magie längst eingesetzt. Und das alles, weil du den Prophezeiungen geradezu sklavisch huldigst.

Wärst du nicht gewesen, Prälatin Ann, Jagang, die Armee der Imperialen Ordnung sowie alle deine Schwestern befänden sich noch dort, jenseits der Barriere, und wir hier könnten in Sicherheit und Frieden leben. Du hast die Schuld überall verteilt, nicht nur dort, wo sie hingehört. Wenn Freiheit und Magie, wenn gar die Welt selbst vernichtet wird, dann allein durch deine Hand, Prälatin Ann.«

Das einzige Geräusch war das leise Stöhnen des Windes, das die plötzliche Stille umso quälender erscheinen ließ. Ann sah Kahlan aus tränenüberströmten Augen an. Der Schnee glitzerte in den Sonnenstrahlen einer kalten Dämmerung.

»So verhält es sich nicht, Kahlan. In deinem Schmerz erscheint es dir nur so.«

»Doch, genauso verhält es sich«, erwiderte Kahlan entschieden.

Anns Mund bewegte sich, doch diesmal brachte sie kein Wort hervor.

Kahlan streckte ihre Hand aus, die Handfläche nach oben.

»Das Reisebuch. Wenn du glaubst, ich werde das Leben dieser Frau nicht zerstören, dann hast du nicht die leiseste Ahnung, wer ich bin. Entweder ist sie eine deiner Schwestern, die mithilft, die Welt im Namen des Guten zu zerstören, oder sie ist eine der Schwestern des Hüters, die mithilft, die Welt im Namen des Todes zu vernichten. So oder so, händigst du mir das Reisebuch nicht aus, und zwar auf der Stelle, hat sie ihr Leben verwirkt.«

»Was glaubst du damit zu erreichen?«, fragte Ann leise, voller Verzweiflung.

»Es wird ein Anfang sein, deiner Einmischung in das Leben der Menschen aus den Midlands und dem Rest der Welt – in mein Leben und das Richards – Einhalt zu gebieten. Es ist der einzige Anfang, den ich mir vorzustellen vermag, ohne euch beide auf der Stelle umzubringen; ganz bestimmt wollt ihr nicht wissen, wie kurz davor ich bereits war. Und jetzt gib mir das Buch.«

Ann starrte auf Kahlans offene Hand vor ihrem Gesicht. Sie blinzelte ihre Tränen fort, dann streifte sie einen wollenen Fäustling ab und zog das kleine Buch hinter ihrem Gürtel hervor. Einen Augenblick lang hielt sie, es voller Ehrfurcht betrachtend, inne, schließlich aber legte sie es Kahlan in die Hand.

»Gütiger Schöpfer«, sagte Ann leise, »vergib deinem armen gequälten Kind für das, was es gleich tun wird.«

Kahlan schleuderte das Buch ins Feuer.

Mit aschfahler Miene starrten Ann und Alessandra auf das in den zischenden Flammen verschwindende Buch.

Kahlan schnappte sich Richards Schwert. »Gehen wir, Cara.«

»Die Pferde stehen bereit. Ich war gerade dabei, sie zu satteln, als die beiden auftauchten.«

Kahlan schüttete das heiße Wasser aus, während Cara daran ging, rasch ihre Habseligkeiten zusammenzusuchen. Beide stopften Gegenstände in ihre Satteltaschen, anderes Gerät nahmen sie über die Schulter und trugen es hinüber zu den Pferden, um es an den Sätteln festzuzurren.

Ohne sich noch einmal nach Ann und Alessandra umzusehen, schwang Kahlan sich hinauf in ihren kalten Sattel. Die finster drein blickende Cara neben sich, ließ sie ihr Pferd wenden und entschwand in leichtem Galopp im Schneegestöber.

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