12

Während Nicci zu Fuß die Straße zwischen dem Stadtrand von Fairfield und jenem Anwesen entlang wanderte, wo Jagang, wie ihr die drei Schwestern verraten hatten, seinen Wohnsitz genommen hatte, glitt ihr Blick suchend über das Durcheinander des umliegenden Feldlagers der Imperialen Ordnung. Sie wusste, irgendwo hier in diesem Abschnitt mussten sie sein; Jagang hatte sie gerne in seiner unmittelbaren Nähe. Reguläre Schlafzelte, Karren und Soldaten bedeckten, einer schwarzen Rußschicht gleich, Felder und Hügel, so weit das Auge reichte. Ein schmutziger, trüber Schatten schien sich über Himmel und Land gleichermaßen gelegt zu haben. Überall auf den dunklen Feldern leuchteten Lagerfeuer wie ein Himmel voller Sterne.

Der Tag war im Begriff, sich auf bedrückende Weise zu verdüstern, nicht nur, weil es langsam Abend wurde, sondern auch wegen der grauen, schwerfälligen Wolken, die sich fast am gesamten Himmel übereinander türmten. Der in kleinen Böen auffrischende Wind versetzte Zelte und Kleidungsstücke in heftiges Flattern, ließ die Flammen der Lagerfeuer flackern und wehte Rauch mal in diese, mal in jene Richtung. Die Windstöße bewirkten, dass sich einem der faulige Gestank menschlichen und tierischen Kots auf die Zunge legte und jeden angenehmen, wenn auch zarten Essensduft erstickte, der in den Himmel aufzusteigen versuchte. Je länger die Armee an einem Ort verweilte, desto schlimmer wurde es.

Weiter vorne erhoben sich die eleganten Gebäude des Anwesens über dem trostlosen Unrat zu ihren Fundamenten; dort lauerte Jagang. Da er Zugang zu Schwester Georgias, Rochelles und Aubreys Verstand hatte, würde er wissen, dass Nicci zurück war, und sie erwarten.

Doch der Kaiser musste sich gedulden; sie hatte vorher noch etwas anderes zu erledigen. Da Jagang nicht in ihren Verstand eindringen konnte, stand es ihr frei, dem nachzugehen.

In einiger Entfernung erspähte Nicci, was sie suchte; weil sie die kleineren Zelte überragten, konnte sie sie gerade eben erkennen. Die Straße verlassend, schlängelte sie sich durch das dichte, wirre Gedränge der Soldaten und konnte schon von weitem die charakteristischen Geräusche ausmachen, die von dieser speziellen Gruppe von Zelten herüberwehten – sie hörte es über dem Gelächter und Gesinge, dem Knacken der Lagerfeuer, dem Brutzeln des Fleisches in den Kesseln, dem kratzenden Scharren von Schleifstein auf Metall, dem Klirren von Hämmern auf Stahl und dem Rhythmus der Sägen.

Ausgelassen johlende Soldaten packten sie an Armen und Beinen oder versuchten, als sie, sich einen Weg durch das Chaos bahnend, vorüberkam, ihr Kleid zu fassen zu bekommen. Die rüpelhaften Soldaten lohnten kaum einen Gedanken; sie riss sich einfach los und überhörte ihre spöttischen Liebesbeteuerungen, während sie sich durch das Gedränge schob. Packte ein stämmiger Soldat ihr Handgelenk mit kräftigem Griff und riss sie schwungvoll herum, blieb sie gerade lange genug stehen, um ihre Kraft zu entfesseln und das heftig schlagende Herz in seiner Brust zum Platzen zu bringen. Die anderen Soldaten lachten, wenn sie ihn dumpf aufschlagend zu Boden sinken sahen, denn sie wussten noch nichts von seinem Tode, trotzdem versuchte keiner von ihnen, ihm die Beute, auf die er es abgesehen hatte, streitig zu machen. Sie hörte, wie die getuschelten Worte ›Gespielin des Todes‹ unter den Männern die Runde machten.

Schließlich fand sie ihren Weg durch diese Spießrutengasse. Soldaten würfelten, aßen Bohnen oder lagen schnarchend auf ihrem Bettzeug neben den Zelten, in denen Gefangene unter Folterqualen schrien. Zwei Soldaten zerrten eine ihre eigenen Eingeweide hinter sich herschleifende Leiche aus einem großen Zelt heraus und wuchteten den erschlafften Körper zu einem wirren Knäuel anderer auf einen Karren.

Mit dem Finger schnippend winkte Nicci einen unrasierten Soldaten zu sich, der sich von einem anderen Zelt her näherte. »Lasst mich einen Blick auf die Liste werfen, Captain.« Am blauen Leinenumschlag des Rapportbuchs, das er bei sich trug, sah sie, dass er der Dienst habende Offizier war.

Er musterte sie einen Moment mit finsterer Miene, doch als sein Blick an ihrem schwarzen Kleid hinabwanderte, ging ein Ausdruck des Wiedererkennens über sein Gesicht. Er reichte ihr das speckige, abgegriffene Buch, das in der Mitte einen tiefen Knick aufwies, so als hätte sich aus Versehen jemand darauf gesetzt. Die herausgefallenen Seiten waren wieder hineingesteckt worden, passten aber nirgendwo richtig, so dass da und dort die Kanten überstanden, allmählich ausfransten und ebenso speckig wurden wie der Einband.

»Viel zu berichten gibt es nicht, Herrin, aber richtet Seiner Exzellenz bitte aus, dass wir so ziemlich jeden bekannten Trick versucht haben, sie aber noch immer nicht redet.«

Nicci klappte das Buch auf und begann, die Listen mit den neuesten Namen, und was man über sie wusste, zu überfliegen.

»Sie? Von wem redet Ihr, Captain?«, murmelte sie beim Lesen.

»Nun, von dieser Mord-Sith.«

Nicci hob den Blick und sah den Mann an. »Die Mord-Sith, natürlich. Wo ist sie?«

Er deutete auf ein etwas außerhalb des Durcheinanders stehendes Zelt. »Ich weiß, Seine Exzellenz sagte, er erwarte nicht, dass uns eine Hexe von ihren geheimnisvollen Fähigkeiten Informationen über Lord Rahl preisgibt, trotzdem hatte ich gehofft, ihn mit ein paar guten Neuigkeiten überraschen zu können.« Er hakte seine Daumen hinter den Gürtel und gab einen enttäuschten Seufzer von sich. »Dieses Glück ist mir verwehrt geblieben.«

Nicci musterte das Zelt einen Augenblick lang kritisch, denn Schreie waren nicht zu hören. Sie hatte noch nie eine von diesen Frauen, diesen Mord-Sith, zu Gesicht bekommen, wusste aber ein wenig über sie, zum Beispiel, dass es ein tödlicher Fehler war, ihnen mit Magie beikommen zu wollen.

Sie las weiter in den Eintragungen des Rapportbuchs. Nichts darin war für sie sonderlich von Interesse. Die meisten Leute stammten aus der Gegend; es handelte sich lediglich um einen ausgesuchten Querschnitt, den man zusammengetrieben hatte, um herauszufinden, was diese Leute möglicherweise wussten. Sie würden ihr die Information, auf die sie es abgesehen hatte, nicht liefern können.

Nicci tippte auf eine Zeile gegen Ende der Eintragungen. Dort stand ›Bote‹.

»Wo finde ich diesen hier?«

Der Captain deutete mit seinem Kopf auf ein Zelt hinter seinem Rücken. »Ich habe einen meiner fähigsten Inquisitoren auf ihn angesetzt. Als ich das letzte Mal nachsah, hatte er immer noch nichts preisgegeben – aber das war heute Morgen.«

Es war einen vollen Tag her, dass er nachgesehen hatte. Ein voller Tag konnte eine Ewigkeit bedeuten, wenn man gefoltert wurde. Wie alle übrigen für das Befragen von Gefangenen benutzten Zelte, überragte das des Boten die umstehenden Schlafzelte, die gerade groß genug waren, um sich hineinzulegen. Nicci schob dem Offizier das Buch gegen seinen feisten Wams.

»Danke. Das wäre dann alles.«

»Ihr werdet Seiner Exzellenz Bericht erstatten?« Auf seine Frage reagierte Nicci mit einem geistesabwesenden Nicken, sie war mit den Gedanken woanders. »Werdet Ihr ihm erklären, dass man aus dieser Bande so gut wie nichts herausbekommen kann?«

Niemand war erpicht darauf, vor Jagang zu stehen und die eigene Unfähigkeit bei der Ausführung eines Befehls gestehen zu müssen, selbst wenn es nichts auszuführen gab. Jagang schätzte Ausreden nicht. Nicci nickte, während sie sich bereits entfernte und auf das Zelt des Boten zuhielt. »Ich werde ihn in Kürze sehen und ihm Euren Bericht geben, Captain.«

Kaum hatte sie den Zelteingang zurückgeschlagen und war eingetreten, wurde ihr bewusst, dass sie zu spät gekommen war. Die blutverschmierten Überreste des Boten lagen auf einem schmalen, mit den glänzenden Werkzeugen dieses Gewerbes bestückten Holztisch. Seine Arme hingen an den Seiten schlaff herab, aus ihnen tropfte warmes Blut.

Nicci sah, dass der Inquisitor ein gefaltetes Stück Papier in Händen hielt. »Was habt Ihr da?«

Er hielt den Zettel in die Höhe und ließ sie ein kurzes Grinsen sehen. »Etwas, das Seine Exzellenz überaus erfreuen wird, sobald er davon erfährt. Eine Karte.«

»Eine Karte wovon?«

»Von der Gegend, wo dieser Bursche hier sich rumgetrieben hat. Ich habe sie nach dem gezeichnet, was er alles so zum Besten gab.« Er lachte über seinen eigenen Scherz, sie nicht.

»Was Ihr nicht sagt«, erwiderte Nicci. Das Grinsen des Mannes war es, das ihre Aufmerksamkeit fesselte. Ein Mann wie er grinste nur, wenn er etwas in Händen hielt, auf das er es abgesehen hatte, etwas, das ihm die Gewogenheit seiner Vorgesetzten eintragen würde. »Und wo hat sich dieser Mann ›rumgetrieben‹?«

»Bei seinem Anführer.«

Er wedelte mit dem Stück Papier, als sei es eine Schatzkarte. Des Spiels müde, riss Nicci ihm die Beute aus der Hand. Sie faltete das zerknitterte gelbe Blatt Papier auseinander und sah, dass es sich tatsächlich um eine Karte handelte, auf der Flüsse, Küstenverlauf und Berge gewissenhaft eingezeichnet waren. Sogar Gebirgspässe waren vermerkt.

Nicci sah sofort, dass die Karte echt war. Während ihrer Zeit im Palast der Propheten war die Neue Welt ein ferner und geheimnisumwitterter Ort gewesen, in den sich, von ein paar Schwestern abgesehen, nur selten ein Mensch verirrte. Jede Schwester, die sich dorthin wagte, machte sich gewissenhaft Notizen, die im Palast auf Karten übertragen wurden. Im Laufe ihrer Studien lernten alle Novizinnen diese Karten und zahlreiche andere geheime Dinge auswendig. Obwohl sie damals zu keinem Zeitpunkt damit gerechnet hatte, in die Neue Welt zu reisen, war sie mit den örtlichen Gegebenheiten dort bestens vertraut. Nicci unterzog das Stück Papier in ihren Händen einer genauen Prüfung, sah sich genau die geographischen Verhältnisse an und legte, was neu daran war, über die in ihrem Gedächtnis bereits vorhandene Karte.

»Was hat dieser Mann gestanden, bevor er starb?« Sie sah auf. »Seine Exzellenz erwartet meinen Bericht, ich bin gerade auf dem Weg zu ihm.« Sie schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Lasst hören, und zwar alles.«

Der Mann kratzte sich am Bart. Seine Fingernägel waren verkrustet von getrocknetem Blut.

»Ihr werdet es ihm doch berichten, oder? Ihr werdet Seiner Exzellenz ausrichten, dass es Sergeant Wetzel war, der diese Information aus dem Boten herausbekommen hat?«

»Selbstverständlich«, versicherte ihm Nicci. »Das Verdienst dafür gebührt allein Euch. Für diese Art der Anerkennung habe ich keinerlei Verwendung.« Sie tippte gegen den goldenen Ring in ihrer Unterlippe. »Der Kaiser weilt zu jeder Tages- und Nachtzeit in meinem Verstand. Zweifellos sieht er jetzt, in diesem Moment, mit meinen Augen, dass Ihr es wart, der diese Information beschafft hat, und nicht ich. Also, was hat dieser Mann gestanden?«

Sergeant Wetzel kratzte sich abermals am Bart, offensichtlich versuchte er zu entscheiden, ob er ihr, was das Verdienst betraf, trauen konnte, oder ob er auf Nummer sicher gehen und Jagang die Information persönlich überbringen sollte. Innerhalb der Imperialen Ordnung war Vertrauen rar, und es gab guten Grund, jedem zu misstrauen. In seinem Bart blieben Schuppen getrockneten Blutes hängen, als er sich dort kratzte.

Nicci blickte unverwandt in seine rot umrandeten Augen. Er stank nach Schnaps. »Wenn Ihr mir nicht vollständig Bericht erstattet, Sergeant Wetzel, und zwar auf der Stelle, werde ich Euch als Nächsten auf diesen Tisch dort legen und mir Euren Bericht zwischen Euren Schreien geben lassen. Und wenn ich mit Euch fertig bin, wird man Euch zusammen mit den anderen Leichen auf den Karren werfen.«

Er senkte zweimal rasch den Kopf, zum Zeichen, dass er sich geschlagen gab. »Selbstverständlich. Ich wollte doch nur sichergehen, dass Seine Exzellenz von meinem Erfolg erfährt.« Auf Niccis Nicken fuhr er fort: »Er war nichts weiter als ein Bote. Ein kleiner Trupp von sechs Mann befand sich, tief hinter den feindlichen Linien, auf Erkundungsgang. Sie umgingen die gesamten Streitkräfte des Feindes weit oben im Norden und hatten eine dieser Frauen mit der Gabe bei sich, die ihnen helfen sollte, Abstand zu wahren, um nicht entdeckt zu werden. Irgendwo im Nordwesten der Streitkräfte stießen sie zufällig auf diesen Mann. Sie brachten ihn zu mir, damit ich ihn verhöre. Ich fand heraus, dass er zu einer Gruppe von regulären Boten gehört, die Lord Rahl in regelmäßigem Austausch Bericht erstatten.«

Nicci deutete mit einer ungeduldigen Handbewegung auf das Blatt Papier. »Aber das hier unten scheinen die feindlichen Truppen zu sein. Wollt Ihr etwa behaupten, Rich … Lord Rahl befindet sich nicht bei seinen Soldaten? Bei seiner Armee?«

»Genau. Der Bote wusste auch nicht, warum. Sein Auftrag bestand ausschließlich darin, die Truppenpositionen und die üblichen Informationen über ihren Zustand seinem Vorgesetzten zu überbringen.« Er tippte auf die Karte in ihrer Hand. »Dabei befindet sich Lord Rahls Versteck – und das seiner Gemahlin – genau hier.«

Nicci hob den Kopf, ihr klappte der Unterkiefer herunter. »Seine Gemahlin.«

Sergeant Wetzel nickte. »Der Mann behauptete, Lord Rahl habe eine Frau geheiratet, die als Mutter Konfessor bekannt ist. Sie ist schwer verletzt, und dort oben in den Bergen verstecken sie sich.«

Jetzt erinnerte sich Nicci wieder, was Richard für sie empfunden hatte und auch wie sie hieß: Kahlan. Dass Richard verheiratet war, ließ alles in einem neuen Licht erscheinen. Das besaß Sprengkraft, die Niccis Pläne vereiteln konnte. Oder aber…

»Sonst noch etwas, Sergeant?«

»Der Mann sagte, Lord Rahl und seine Gemahlin würden von einer dieser Frauen, dieser Mord-Sith, bewacht.«

»Was tun sie dort oben? Warum sind Lord Rahl und die Mutter Konfessor nicht bei ihrer Armee? Oder unten in Aydindril? Oder, was das anbelangt, in D’Hara?«

Er schüttelte den Kopf. »Dieser Bote war nur ein einfacher Soldat, der schnell reiten konnte und sich darauf verstand, die örtlichen Gegebenheiten zu deuten. Er wusste nicht mehr, als dass sie sich dort oben aufhalten und vollkommen auf sich gestellt sind.«

Diese Entwicklung verwirrte Nicci.

»Sonst noch etwas? Irgendwas?« Er schüttelte den Kopf. Sie legte dem Mann eine Hand auf den Rücken, zwischen die Schulterblätter. »Danke, Sergeant Wetzel. Ihr wart eine größere Hilfe, als Ihr jemals wissen werdet.«

Als er daraufhin zu grinsen begann, entfesselte Nicci einen Strom ihrer Kraft, der durch sein Rückgrat nach oben schoss und das Hirn in seinem Schädel augenblicklich zu Asche verglühen ließ. Krachend schlug er auf den harten Boden, während die Luft mit einem Stöhnen aus seinen Lungen entwich.

Nicci hielt die Karte, die sie sich bereits eingeprägt hatte, in die Höhe und setzte sie mit ihrer Gabe in Brand. Das Papier knisterte und verfärbte sich schwarz, als das Feuer über all die sorgfältig eingezeichneten Flüsse, Städte und Gebirge vorrückte, bis die heiße Glut den blutigen Fingerabdruck über einer Stelle im Gebirge einzukreisen schien. Als das Stück Papier in einer Wolke aus Rauch endgültig vernichtet wurde, ließ sie es aus ihren Händen aufsteigen. Die Asche rieselte herab wie schwarzer Schnee und legte sich auf den Leichnam zu ihren Füßen.

Vor dem Zelt, in dem die Mord-Sith gefangen gehalten wurde, prüfte Nicci mit einem aufmerksam über das umliegende Feldlager schweifenden Blick, ob sie beobachtet wurde. Niemand schenkte den Vorgängen in den Folterzelten irgendwelche Beachtung. Sie schlüpfte durch die Zeltöffnung hinein.

Nicci zuckte innerlich zusammen, als sie die ausgestreckt auf dem Holztisch liegende Frau gewahrte. Schließlich zwang sie sich, Luft zu holen.

Ein Soldat, die Hände von der Arbeit rot verschmiert, bedachte Nicci mit einem finsteren Blick. Sie gab ihm gar nicht erst Gelegenheit zu protestieren, sondern kommandierte schlicht: »Berichtet.«

»Aus ihr ist nichts rauszubekommen«, knurrte er.

Nicci nickte, dann legte sie ihre Hand auf den breiten Rücken des Soldaten. Die Hand war ihm unheimlich, daher machte er Anstalten, ihr auszuweichen, jedoch zu spät. Der Mann brach tot zusammen, noch bevor er wusste, dass er in Schwierigkeiten steckte. Hätte sie mehr Zeit gehabt, sie hätte ihn zuvor noch leiden lassen.

Nicci musste sich überwinden, an den Tisch zu treten und in die blauen Augen zu blicken. Der Kopf der Frau zitterte leicht.

»Gebraucht Eure Kraft … und tut mir weh, Hexe.«

Der Anflug eines Lächelns kam über Niccis Lippen. »Ihr würdet bis zum bitteren Ende kämpfen, hab ich Recht?«

»Gebraucht Eure Magie, Hexe.«

»Ich denke, das werde ich nicht tun. Ich weiß nämlich ein wenig über Euch Frauen, müsst Ihr wissen.«

In den blauen Augen blitzte unverhohlene Verachtung auf. »Ihr wisst überhaupt nichts.«

»Aber ja, Richard hat es mir selbst erzählt. Ihr dürftet ihn als Lord Rahl kennen, eine Zeit lang jedoch war er mein Schüler. Ich weiß, dass Frauen wie Ihr die Fähigkeit besitzen, die Kraft derer mit der Gabe einzufangen, wenn diese Kraft gegen Euch eingesetzt wird. Anschließend könnt Ihr sie dann gegen uns richten. Ihr seht also, ich werde auf keinen Fall so unklug sein, meine Kraft gegen Euch zu benutzen.«

Die Frau wandte den Blick ab. »Dann foltert mich von mir aus, falls Ihr deshalb hergekommen seid. Ihr werdet nichts aus mir herausbekommen.«

»Ich bin nicht gekommen, um Euch zu foltern«, versicherte ihr Nicci.

»Was wollt Ihr dann?«

»Erlaubt, dass ich mich vorstelle«, erwiderte Nicci. »Ich bin die Herrin des Todes.«

Die blauen Augen der Frau wandten sich abermals herum und verrieten zum ersten Mal einen Funken Hoffnung. »Gut, dann tötet mich.«

»Erst müsst Ihr mir ein paar Einzelheiten anvertrauen.«

»Ich werde … Euch … gar nichts erzählen.« Das Sprechen fiel ihr überaus schwer. »Nicht das Geringste. Tötet mich.«

Nicci nahm eine blutverschmierte Klinge vom Tisch und hielt sie ihr vor die blauen Augen. »Ich denke doch.«

Die Frau lächelte. »Nur zu. Das wird meinen Tod nur beschleunigen. Ich weiß, wie viel ein Mensch aushalten kann. Ich habe es nicht mehr weit bis in die Welt der Seelen. Aber was immer Ihr auch tut, ich werde vor meinem Tod nicht reden.«

»Ihr missversteht. Ich verlange nicht, dass Ihr Lord Rahl verratet. Habt Ihr nicht gehört, wie Euer Inquisitor zu Boden ging? Wenn Ihr Euren Kopf ein wenig mehr zur Seite dreht, könnt Ihr vielleicht sehen, dass der Mann, der Euch dies angetan hat, nicht mehr lebt. Ich verlange nicht, dass Ihr mir irgendwelche Geheimnisse anvertraut.«

So gut dies eben möglich war, warf die Frau einen flüchtigen Blick auf die am Boden liegende Leiche. Ihre Brauen zogen sich kurz zusammen. »Was wollt Ihr damit sagen?«

Nicci fiel auf, dass sie nicht darum bat, befreit zu werden; sie wusste längst, dass für sie keine Hoffnung mehr bestand. Das Einzige, worauf sie jetzt noch hoffen konnte, war, dass Nicci ihrer Qual ein Ende machte.

»Richard war mein Schüler. Wie er mir erzählte, war er einst Gefangener der Mord-Sith. Das ist doch wohl kein Geheimnis, oder?«

»Nein.«

»Darüber würde ich gerne mehr wissen. Wie lautet Euer Name?«

Die Frau drehte ihr Gesicht fort.

Nicci legte der Frau einen Finger ans Kinn und bog ihren Kopf zurück. »Ich möchte Euch ein Angebot machen. Ich werde nichts verlangen, was Ihr nicht erzählen dürft. Ich werde nicht verlangen, dass Ihr Lord Rahl verratet – das würde ich auch gar nicht wollen. Diese Dinge sind für mich nicht von Interesse. Wenn Ihr Euch behilflich zeigt« – Nicci hielt die Klinge abermals in die Höhe, damit die Frau sie sehen konnte – »werde ich Euch ein schnelles Ende bereiten. Das verspreche ich. Keine Folter mehr und keine Schmerzen. Nichts als die endgültige und bereitwillige Annahme des Todes.«

Die Lippen der Frau fingen an zu zittern. »Bitte«, wimmerte sie leise, jetzt wieder einen Funken Hoffnung in den Augen. »Bitte … werdet Ihr mich töten?«

»Wie lautet Euer Name?«, wiederholte Nicci ihre Frage.

Meist ließ der Anblick von Gefolterten Nicci völlig kalt, in diesem Fall jedoch fand sie ihn beunruhigend. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, was man ihr angetan hatte, vermied sie es, den Blick vom Gesicht der Frau abzuwenden und über den nackten Körper wandern zu lassen. Für Nicci war es unvorstellbar, wie diese Frau es schaffte, nicht zu schreien oder alles auszuplaudern.

»Hania.« Die Frau war an Händen und Knöcheln mit eisernen Schellen an den Tisch gefesselt, so dass sie nicht viel mehr als ihren Kopf bewegen konnte. Sie starrte hoch in Niccis Augen. »Werdet Ihr mich töten … Bitte?«

»Das werde ich, Hania, mein Wort darauf. Schnell und wirkungsvoll – vorausgesetzt Ihr sagt mir, was ich wissen will.«

»Ich kann Euch nichts sagen.« In ihrer Verzweiflung schien Hania kraftlos auf den Tisch zu sacken, überzeugt, dass ihre Folter weitergehen würde. »Und ich werde es auch nicht.«

»Ich möchte lediglich etwas über die Zeit von Richards Gefangenschaft erfahren. Wusstet Ihr, dass er einst Gefangener der Mord-Sith war?«

»Selbstverständlich.«

»Darüber möchte ich etwas wissen.«

»Warum?«

»Weil ich ihn verstehen möchte.«

Hania wälzte ihren Kopf von einer Seite auf die andere. Sie lächelte tatsächlich. »Keine von uns hat Lord Rahl je verstanden. Obwohl er gefoltert wurde, hat er … sich nie dafür gerächt. Wir verstehen ihn nicht.«

»Ich auch nicht, aber das wird sich hoffentlich ändern. Mein Name ist Nicci. Ich möchte, dass Ihr das wisst. Ich bin Nicci, und ich werde Euch hiervon erlösen, Hania. Erzählt mir davon. Bitte. Ich muss es wissen. Kennt Ihr die Frau, die ihn gefangen nahm? Ihren Namen?«

Die Frau überlegte einen Augenblick, bevor sie antwortete, so als wollte sie in ihrem eigenen Verstand erst prüfen, ob diese Information in irgendeiner Weise ein Geheimnis war oder ihm schaden konnte.

»Denna«, antwortete Hania schließlich mit leiser Stimme.

»Denna. Richard tötete sie, um fliehen zu können – so viel hat er mir bereits selbst erzählt. Kanntet Ihr Denna vor ihrem Tod?«

»Ja.«

»Ich verlange doch nicht etwa irgendwelche militärischen Geheimnisse von Euch, oder?«

Hania zögerte. Schließlich schüttelte sie den Kopf.

»Ihr kanntet Denna also. Kanntet ihr damals auch Richard? Als er dort war und sie ihn in ihrer Gewalt hatte? Wusstet Ihr, dass er ihr Gefangener war?«

»Das wussten alle.«

»Und warum?«

»Lord Rahl – der damalige Lord Rahl…«

»Richards Vater?«

»Ja. Es war sein Wunsch, dass Denna ihn abrichtete, um ihn darauf vorzubereiten, ohne Zögern alle Fragen zu beantworten, die Darken Rahl ihm stellte. In dieser Hinsicht war sie die Beste von uns allen.«

»Gut. Und jetzt erzählt mir davon. Alles, was Ihr wisst.«

Hania holte stockend Luft. Es dauerte einen Augenblick, bevor sie weitersprach. »Ich werde ihn nicht verraten. Ich bin erfahren in den Dingen, die man mir antut. Ihr könnt mich nicht täuschen. Ich werde Lord Rahl nicht ans Messer liefern, nur um mir das hier zu ersparen. Ich habe nicht so lange durchgehalten, nur um ihn jetzt noch zu verraten.«

»Ich verspreche Euch, nichts zu fragen, was die Gegenwart – den Krieg – betrifft, oder was ihn an Jagang verraten könnte.«

»Wenn ich Euch nur von damals, als Denna ihn in ihrer Gewalt hatte, und nicht von jetzt, vom Krieg und wo er sich derzeit aufhält und Ähnliches mehr, erzähle, gebt Ihr mir dann Euer Wort, dass Ihr mir ein Ende machen und mich töten werdet?«

»Ihr habt mein Wort, Hania. Ich würde niemals verlangen, dass Ihr Lord Rahl verratet – ich kenne ihn und habe vor ihm viel zu viel Respekt, als das von Euch zu fordern. Ich will ihn nur verstehen; aus ganz persönlichen Gründen. Ich war letzten Winter seine Lehrerin und habe ihn in der Anwendung seiner Gabe unterwiesen. Ich möchte ihn besser kennen lernen; ich muss ihn verstehen. Wenn mir das gelingt, dann kann ich ihm, glaube ich, helfen.«

»Und danach helft Ihr mir?« Mit den Tränen ging ein Hoffnungsschimmer einher. »Danach werdet Ihr mich töten?«

Diese Frau kannte kein anderes Ziel, es war das Letzte, was ihr in diesem Leben noch geblieben war: der Wunsch nach einem raschen Tod und einem Ende der Tortur.

»Sobald Ihr mir alles darüber erzählt habt, werde ich Eurem Leiden ein Ende machen, Hania.«

»Schwört Ihr es bei Eurer Hoffnung auf ein ewiges Leben in der Unterwelt und im Glanz des Lichts des Schöpfers?«

Nicci spürte, wie ein beißend kaltes, schmerzhaftes Frösteln aus den Tiefen ihrer Seele nach oben stieg. Seit ihrem Aufbruch vor nahezu einhundertundsiebzig Jahren hatte sie keinen anderen Wunsch gekannt, als zu helfen, und doch konnte sie dem Schicksal ihres verruchten Wesens nicht entfliehen. Sie war die Herrin des Todes.

Sie war eine Gefallene.

Mit der Seite eines Fingers strich sie über Hanias zarte Wange. Die beiden Frauen blickten sich lange innig in die Augen. »Versprochen«, sagte Nicci leise. »Schnell und wirkungsvoll. Es wird das Ende Eurer Schmerzen sein.«

Mit tränenüberströmten Augen willigte Hania kaum merklich nickend ein.

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