22

Noch während sie verfolgte, wie Nicci ihre Apfelschimmelstute Richtung Pass und die fernen blauen Berge jenseits davon lenkte, kämpfte Kahlan damit, des Schwindelgefühls Herr zu werden, das die Frau in ihr verursacht hatte. Vorne, dicht bei den fernen Bäumen, standen eine Rehgeiß und ihr fast ausgewachsenes Kitz mit gespitzten Ohren in Alarmbereitschaft, beobachteten Nicci und warteten, ob sie ihnen vielleicht bedrohlich werden konnte. Als sie sahen, dass Nicci in ihre Richtung schwenkte, ließen sie erschrocken ihre Stummelschwänze senkrecht in die Höhe schnellen und sprangen mit mächtigen Sätzen Richtung Wald.

Kahlan lehnte es ab, sich vom Gefühl der Orientierungslosigkeit überwältigen zu lassen, aber wäre Richards eiserner Griff um ihre Hüfte nicht gewesen, sie hätte sich auf die Schwester der Finsternis gestürzt. Kahlan verspürte das verzweifelte Bedürfnis, ihre Konfessorkraft zu entfesseln. Nie zuvor hatte jemand dies mehr verdient als diese Nicci.

Hätten ihre Sinne nicht noch immer gegen ihre Benommenheit angekämpft, vielleicht hätte sie ihre Kraft mit Hilfe des Con Dar, des Blutrauschs – einer Fähigkeit aus alter Zeit – beschwören können. Eine solch einzigartige Magie hätte die verhältnismäßig kurze Entfernung überbrücken können, doch da ihr noch immer infolge der Nachwirkungen von Niccis Zauber schwindlig war, hatte sich der Versuch als wirkungslos erwiesen. Kahlan konnte sich gerade auf den Beinen halten, ohne ihre letzte Mahlzeit wieder von sich zu geben.

Es war frustrierend und demütigend, und es machte einen rasend, aber Nicci hatte sie überrascht und mit einer ebenso rasch wie ihre Konfessorkraft wirkenden Magie überwältigt, bevor sie reagieren konnte. Einmal in Niccis Gewalt, war Kahlan machtlos gewesen.

Man hatte ihr bereits von klein auf beigebracht, sich niemals überraschen zu lassen. Konfessoren waren immer schon Ziele gewesen, doch Kahlan war klüger. Unzählige Male hatte sie in vergleichbaren Situationen die Oberhand behalten. Eingelullt von monatelanger Ruhe und Abgeschiedenheit, hatte Kahlan ihren Schneid verloren. Sie schwor sich, es nie wieder so weit kommen zu lassen … im Augenblick jedoch nützte ihr das gar nichts.

Sie spürte Niccis kraftvolle Magie noch immer siedend heiß in ihrem Körper, so als habe die Hitze dieser Feuerprobe sie bis in ihre Seele verbrannt; sie war innerlich aufgewühlt, die Wogen dieses Ansturms hatten sich längst noch nicht geglättet. Der kalte, das braune Gras niederdrückende Wind frischte auf und strich eiskalt über ihr glühendes Gesicht. Mit dem Wind wehte ein unvertrauter Geruch ins Tal, ein Geruch, den ihre wirren Sinne als verschwommen unheilvoll wahrnahmen. Die hohen Fichten hinter ihrer Hütte neigten sich und wurden hin- und hergeschüttelt, hielten aber stand, während der Wind sich mit einem Geräusch, das dem gegen eine Felsenklippe schlagender Wellen nicht unähnlich war, an ihnen brach.

Welche Magie man auch in ihr entfesselt hatte, Kahlan war überzeugt, dass Nicci bezüglich der Konsequenzen die Wahrheit gesagt hatte. So sehr sie diese Frau hasste, aufgrund des Mutterbanns fühlte Kahlan sich mit ihr verbunden, eine Verbindung, die Kahlan nur als … Zuneigung deuten konnte. Ein verwirrendes Gefühl. Einerseits eindeutig verstörend, erzeugte es andererseits – jenseits ihrer abstoßenden Magie und verschrobenen Ziele – eine Kraft spendende Verbindung zu jener Frau. Irgendwo, tief in Niccis Innenleben, schien es etwas zu geben, das es wert war, geliebt zu werden.

Ungeachtet Kahlans weit hergeholter Empfindungen, ihre Wahrnehmung und Vernunft verrieten ihr, worum es sich in Wahrheit handelte: Diese Eindrücke waren nichts als Einbildung. Sollte sich ihr die Gelegenheit jemals bieten, sie würde nicht noch einmal zögern, Nicci auf der Stelle umzubringen.

»Cara«, sagte Richard, während er zornentbrannt auf Niccis Rücken starrte, die soeben ihr Pferd über die Wiese lenkte. »Ihr dürft nicht einmal mit dem Gedanken spielen, sie zurückzuhalten.«

»Ich lasse nicht zu…«

»Ich meine es ernst, ernster als jeden anderen Befehl, den ich Euch je gegeben habe. Solltet Ihr Kahlan auf diese Weise jemals schaden … nun, ich verlasse mich darauf, dass Ihr mir etwas so Entsetzliches niemals antun würdet. Warum geht Ihr nicht und zieht Euch etwas an?«

Cara knurrte einen leisen Fluch. Als die Mord-Sith Richtung Hütte davon stapfte, wandte Richard sich an Kahlan. Erst da fiel Kahlan wirklich auf, dass Cara nackt war, offenbar hatte sie sich beim Baden gestört gefühlt. Die Magie, die Nicci eingesetzt hatte, musste Kahlans Sinne umnebelt und die Erinnerung an die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit verwischt haben.

Das Gefühl des Strafers war Kahlan allerdings recht deutlich in Erinnerung geblieben. Die nervenzerrüttenden Qualen der Waffe der Mord-Sith war durch Niccis Magie gedrungen wie eine Lanze durch Stroh. Cara hatte ihren Strafer zwar gegen Nicci eingesetzt, trotzdem fühlte sich Kahlan, als hätte man ihn ihr unmittelbar an die eigene Wange gepresst.

Voller Mitgefühl legte Kahlan sachte ihre Hand an Richards Kinn, um gleich darauf, als Richard ihr mit einem Blick zu verstehen gab, dass er kein Mitgefühl gebrauchen konnte, stattdessen seine Oberarme zu ergreifen. Seine großen Hände schlossen sich um ihre Hüfte. Sie ließ sich bereitwillig umarmen und schmiegte ihre Stirn an seine Wange.

»Das kann nicht sein«, sagte sie leise. »Das darf einfach nicht sein.«

»Aber es ist.«

»Es tut mir so Leid.«

»Leid?«

»Dass ich mich habe überraschen lassen.« Kahlan war so wütend auf sich selbst, dass sie zitterte. »Ich hätte wachsamer sein und sie zuerst töten sollen, dann wäre es niemals so weit gekommen.«

Richard strich ihr zärtlich mit der Hand über den Hinterkopf und zog sie an seine Schulter.

»Weißt du noch, wie du mich vor ein paar Tagen bei einem Schwertkampf getötet hast?« Sie nickte in seinen Armen. »Wir alle machen Fehler und lassen uns in einem unbedachten Augenblick erwischen. Mach dir keine Vorwürfe, niemand ist perfekt. Gut möglich, dass sie ein magisches Netz ausgeworfen hat, um deine Aufmerksamkeit zu trüben, damit sie sich anschleichen konnte wie … wie eine lautlose, unsichtbare Mücke.«

Auf den Gedanken war Kahlan noch nicht gekommen. Aber ob sie nun in einem unbedachten Augenblick erwischt worden war oder nicht, sie war trotzdem wütend auf sich selbst. Hätte sie nur nicht auf das alberne Streifenhörnchen geachtet. Hätte sie nur früher den Kopf gehoben. Hätte sie nur gehandelt, ohne einen Sekundenbruchteil abzuwarten, um die Art der Bedrohung zu erkennen und zu entscheiden, ob sie die Entfesselung ihrer alles vernichtenden Kraft rechtfertigte.

Beinahe von Geburt an war Kahlan im Gebrauch ihrer Kraft unterwiesen worden, unter der Bedingung, sie nur dann zu entfesseln, wenn sie von der Notwendigkeit überzeugt war. Durchaus vergleichbar mit dem Tötungsakt, lief die Anwendung der Konfessorkraft auf die völlige Vernichtung der Persönlichkeit hinaus. Danach existierte der Betreffende ausschließlich zum Nutzen und auf Geheiß eines Konfessors. Sie war ebenso endgültig wie der Tod.

Kahlan sah hoch in Richards graue Augen; der bleigraue Himmel in seinem Rücken ließ sie noch grauer erscheinen.

»Mein Leben ist mir kostbar und heilig«, erklärte sie. »Und deines bedeutet dir nicht weniger. Wirf es nicht fort, nur um dich zum Sklaven des meinen zu machen. Das könnte ich nicht ertragen.«

»So weit ist es noch nicht. Ich werde mir etwas einfallen lassen. Im Augenblick jedoch muss ich mit ihr gehen.«

»Wir werden euch folgen, bleiben aber ein gutes Stück zurück.« Er schüttelte bereits den Kopf. »Aber sie wird es nicht einmal merken…«

»Nein. So weit wir wissen, könnte es sein, dass noch andere sie begleiten. Sie könnten euch auflauern, wenn ihr uns folgt. Die Vorstellung, sie könnte jederzeit mit Hilfe irgendeiner Magie oder auf andere Weise herausfinden, dass ihr uns folgt, wäre mir unerträglich. In diesem Fall würdest du einen sinnlosen Tod sterben.«

»Soll das heißen, du glaubst, sie könnte … dir wehtun, nur damit du ihr verrätst, ich hätte vor, euch nachzureiten?«

»Wir sollten unsere Fantasie nicht mit uns durchgehen lassen.«

»Trotzdem wäre ich gerne in der Nähe, wenn du etwas unternimmst – falls du einen Weg findest, ihr Einhalt zu gebieten.«

Richard nahm ihr Gesicht zärtlich in seine Hände. Er hatte einen merkwürdigen Blick in den Augen, einen Blick, der ihr gar nicht gefiel.

»Hör zu. Was gespielt wird, weiß ich nicht, aber du darfst auf keinen Fall sterben, nur um mich zu befreien.«

Tränen der Verzweiflung brannten ihr in den Augen. Sie blinzelte sie fort. Sie hatte größte Mühe zu verhindern, dass ihre Stimme in ein Wimmern umschlug.

»Geh nicht fort, Richard. Es ist mir gleich, was es für mich bedeutet, so lange du in Freiheit leben kannst. Ich würde glücklich sterben, könnte ich dadurch verhindern, dass du in die Hände eines grausamen Feindes fällst. Auch kann ich nicht zulassen, dass die Imperiale Ordnung dich gefangen nimmt. Ich kann nicht zulassen, dass du im Tausch gegen mein Leben den langsamen, qualvollen Tod eines Sklaven stirbst. Ich kann nicht zulassen, dass sie…«

Sie brach unvermittelt ab, denn das fürchtete sie am meisten: Die Vorstellung, er könne gefoltert werden, war für sie unerträglich. Beim Gedanken, er könnte entstellt und verstümmelt werden und müsste völlig allein und vergessen in irgendeinem fernen, stinkenden Verlies ohne Hoffnung auf Hilfe vor sich hinvegetieren, wurde ihr noch schwindliger und übler als zuvor.

Aber Nicci hatte versprochen, sie würde nichts dergleichen tun. Um nicht den Verstand zu verlieren, redete Kahlan sich ein, dass sie Niccis Worten glauben musste.

Kahlan bemerkte Richards versonnenes Lächeln, so als wollte er sich jede Einzelheit ihres Gesichts einprägen, während ihm gleichzeitig tausend andere Dinge durch den Kopf gingen.

»Ich habe keine Wahl«, meinte er leise, »ich muss es tun.«

Sie krallte sich voller Verzweiflung in sein Hemd. »Du tust genau, was Nicci will – sie weiß genau, du wirst mich retten wollen. Ich kann nicht zulassen, dass du dieses Opfer bringst!«

Kurz aufschauend, den Blick starr auf die Bäume und die Berge hinter ihrer Hütte gerichtet, nahm Richard alles in sich auf, ganz so wie ein zum Tode Verurteilter seine Henkersmahlzeit genießt. Dann sah er ihr abermals in die Augen, diesmal ernster.

»Begreifst du nicht? Ich bringe kein Opfer, ich mache ein gerechtes Tauschgeschäft. Die Tatsache, dass du existierst, ist die Grundlage meiner Freude und meines Glücks. Ich bringe kein Opfer«, wiederholte er, jedes Wort einzeln betonend. »Sollte es für mich tatsächlich darauf hinauslaufen, ziehe ich es vor, Sklave zu sein und zu wissen, dass es dich gibt, als frei in einer Welt zu leben, in der du nicht mehr existierst. Mit Ersterem kann ich leben, mit dem zweiten nicht. Die erste Möglichkeit ist schmerzhaft, die zweite vollkommen unerträglich.«

Kahlan schlug ihm mit der Faust vor die Brust. »Aber man wird dich wie einen Sklaven oder gar etwas Schlimmeres halten, und das ist für mich unerträglich!«

»Hör zu, Kahlan. Ich werde die Freiheit stets in meinem Herzen tragen, denn ich weiß, was sie bedeutet und kann deswegen darauf hinarbeiten. Ich werde einen Weg finden, in Freiheit zu leben. Aber ich werde nie einen Weg finden können, dich wieder lebendig zu machen. Die Seelen wissen, dass ich in der Vergangenheit oft bereit war, mein Leben für eine gerechte Sache zu opfern, wenn ich dadurch tatsächlich etwas hätte verändern können. Früher habe ich unser beider Leben oftmals wissentlich aufs Spiel gesetzt, war oft bereit, unser beider Leben zu opfern – aber nicht ohne Gegenleistung. Begreifst du nicht? Es wäre ein schlechter Tausch. Ich werde es nicht tun.«

In kleinen, abgehackten Stößen atmend versuchte Kahlan sowohl ihre Tränen als auch das aufkommende Panikgefühl zu unterdrücken. »Du bist der Sucher. Du musst einen Weg in die Freiheit finden. Natürlich wirst du es schaffen, du wirst es schaffen, das weiß ich.« Sie zwang sich, am Kloß in ihrer Kehle vorbei zu schlucken, während sie versuchte, Richard Mut zu machen, oder vielleicht auch nur sich selbst. »Du wirst einen Ausweg finden. Du wirst einen Weg finden und zurückkommen. Das ist dir bereits einmal gelungen, und du wirst es wieder schaffen.«

Die Schatten auf Richards Gesicht wirkten düster und ernst, eine Maske aus Selbstaufgabe und Verzicht. »Du musst gewillt sein, weiterzuleben.«

»Was meinst du damit?«

»Die Tatsache, dass auch ich weiterlebe, muss dir zum Glück gereichen. Du musst gewillt sein, allein auf Grund dieser Gewissheit und nichts anderem weiterzuleben.«

»Was soll das heißen, nichts anderem?«

Der Blick in seinen Augen war entsetzlich – eine Art trauriger, grimmig entschlossener, von Tragik durchsetzter Selbstaufgabe. Sie wollte ihm nicht in die Augen sehen, doch wie sie dort stand, die Hand auf seiner Brust, seine Wärme und das Leben in seinem Körper spürend, konnte sie sich nicht überwinden, fortzusehen, während er sprach.

»Ich glaube, diesmal ist es etwas anderes.« Kahlan wischte sich das Haar aus der Stirn, als der Wind es ihr über die Augen wehte. »Etwas anderes?«

»Diesmal habe ich ein völlig anderes Gefühl bei der Sache. Anders als die Dinge früher ergibt es einfach keinen Sinn. Nicci hat etwas tödlich Ernstes an sich, etwas Einzigartiges. Sie hat sich dies ganz genau überlegt und ist bereit, dafür zu sterben. Ich kann dich nicht anlügen, um dich zu täuschen. Irgendetwas sagt mir, dass ich diesmal vielleicht nie einen Weg zurück finden werde.«

»Sag so etwas nicht.« Kahlan raffte sein dunkles Hemd mit schwachen, zitternden Fingern zu einem zerknitterten Knäuel.

»Bitte, sag so etwas nicht, Richard. Du musst es versuchen. Du musst einen Weg finden, zu mir zurückzukommen.«

»Denke nicht, ich gäbe nicht mein Bestes.« Seine Stimme war so sehr von Leidenschaft erfüllt, dass sie fast zornig klang. »Ich schwöre dir, Kahlan, solange ich noch Luft zum Atmen in meinen Lungen habe, werde ich niemals aufgeben und stets versuchen, einen Weg zu finden. Aber wir können diese Möglichkeit nicht außer Acht lassen, nur weil sie schmerzlich wäre: Vielleicht kehre ich niemals zurück. Du musst der Tatsache ins Auge sehen, dass du aller Wahrscheinlichkeit nach ohne mich weiterleben musst, wenn auch in der Gewissheit, dass ich noch lebe, genau wie ich das Wissen um deine Existenz in meinem Herzen trage, wo niemand ihm etwas anhaben kann. In unseren Herzen haben wir einander, und daran wird sich niemals etwas ändern. Das war der Schwur, den wir bei unserer Hochzeit geleistet haben – dass wir uns auf ewig lieben und ehren. Nichts – weder Zeit noch Entfernung – vermag daran etwas zu ändern.«

»Richard…« Sie unterdrückte ihr Weinen, konnte aber nicht verhindern, dass ihr die Tränen über das Gesicht liefen. »Mir ist der Gedanke unerträglich, dass du wegen mir zum Sklaven wirst. Begreifst du nicht? Siehst du nicht, was mir das antun würde? Wenn ich muss, werde ich mich umbringen, damit sie dir das nicht antun kann. Ich muss.«

Er schüttelte den Kopf, der Wind zerzauste ihm das Haar. »Dann hätte ich keinen Grund mehr, ihr zu entkommen, nichts, weswegen ich fliehen sollte.«

»Du wirst nicht fliehen müssen, das wäre einfach das Ende – sie wird dich dann nicht mehr halten können.«

»Sie ist eine Schwester der Finsternis.« Er breitete die Hände aus. »Sie wird irgendwelche anderen Mittel einsetzen, gegen die ich mich nicht zu wehren weiß – und wenn du tot bist, werde ich das auch gar nicht wollen.«

»Aber…«

»Begreifst du nicht?« Er packte sie bei den Schultern. »Du musst leben, Kahlan, damit ich einen Grund habe, von ihr zu entkommen.«

»Dein eigenes Leben ist Grund genug«, erwiderte sie. »Frei zu sein, um den Menschen zu helfen, das wird dein Grund sein.«

»Zum Teufel mit den Menschen!« Er ließ sie los und gestikulierte verärgert. »Selbst Menschen aus meiner Heimat haben sich von uns abgewandt und sogar versucht, uns umzubringen, oder hast du das etwa schon vergessen? Selbst die Länder, die sich ergeben haben und dem Bund mit D’Hara beigetreten sind, werden ihre Treue aufkündigen, wenn sie erkennen, wie brutal die Armee der Imperialen Ordnung in Wirklichkeit bei ihrem Vormarsch in die Midlands vorgeht. Am Ende wird D’Hara völlig auf sich gestellt sein. Die Menschen begreifen nicht, was Freiheit heißt und wissen sie nicht zu schätzen. So wie die Dinge derzeit liegen, werden sie nicht dafür kämpfen. Das haben sie sowohl in Anderith als auch in Kernland bewiesen, wo ich aufgewachsen bin. Gibt es einen deutlicheren Beweis als das? Ich mache mir keine falschen Hoffnungen. Sobald der Augenblick kommt, gegen die Imperiale Ordnung zu kämpfen, wird der größte Teil der übrigen Midlands den Mut verlieren. Wenn sie sehen, wie gewaltig die Armee der Imperialen Ordnung ist und mit welcher Brutalität sie gegen alle vorgeht, die sich ihr widersetzen, werden sie ihre Freiheit kampflos aufgeben.«

Er wandte den Blick von ihr ab, so als bedauere er seinen Zornesausbruch in den letzten Augenblicken, die sie gemeinsam hatten. Seine aufrechte, vor der Weite des Himmels und der Berge so unerschütterlich wirkende Gestalt schien ein wenig in sich zusammenzusacken und sich enger an sie zu schmiegen, als hoffte sie dort Trost zu finden.

»Meine einzige Hoffnung ist eine rasche Flucht, damit ich zu dir zurückkehren kann.« Alle Spuren von Erregung waren aus seiner Stimme gewichen, als er kaum hörbar fortfuhr: »Bitte, nimm mir diese Hoffnung nicht, Kahlan – sie ist alles, was ich habe.«

In der Ferne sah sie den Fuchs mit seinem weißspitzigen Schwanz bei seinem Rundgang auf der Suche nach irgendwelchen Nagern über die Wiese traben. Als Kahlan seiner Bewegung mit dem Blick folgte, sah sie aus den Augenwinkeln für einen winzigen Moment die Figur der Seele stolz und aufrecht im Fensterrahmen stehen. Wie war es möglich, dass sie den Mann verlor, der das für sie geschnitzt hatte, als sie es am dringendsten benötigte?

Sie wusste, es war möglich, weil er jetzt etwas brauchte, was nur sie ihm geben konnte. Als sie abermals in seinen grauen Augen sah, wurde ihr bewusst, dass sie ihm seine ernste Bitte und einzigen Wunsch unmöglich abschlagen konnte, nicht in einem solchen Augenblick.

»Also gut, Richard, ich werde nichts Übereiltes tun, um dich zu befreien. Geduldig werde ich ausharren und auf dich warten. Ich kenne dich, ich weiß, du wirst niemals aufgeben. Und du weißt, dass ich nichts Geringeres von dir erwarte. Wenn du entkommst – was du ganz sicher tun wirst –, werde ich auf dich warten, und dann sind wir wieder vereint. In unseren Herzen werden wir uns niemals voneinander trennen. Wie du bereits sagtest, unser Liebesschwur gilt für die Ewigkeit.«

Richard schloss erleichtert die Augen. Er küsste sie zärtlich auf die Stirn, dann löste er ihre Hand von seiner Brust und überhäufte sie mit zarten Küssen. In diesem Augenblick wurde ihr bewusst, wie viel ihm ihr Versprechen bedeutete.

Kahlan zog ihre Hand zurück und nahm mit einer schnellen Bewegung ihre Halskette ab, jene Halskette, die Shota ihr zum Hochzeitsgeschenk gemacht hatte und die hatte verhindern sollen, dass sie schwanger wurde. Sie drehte Richards Hand und legte die Halskette hinein. Verwirrt betrachtete er den kleinen dunklen Stein, der an dem über seine Finger drapierten Goldkettchen hing.

»Was soll das bedeuten?«

»Ich möchte, dass du sie nimmst.« Kahlan musste sich räuspern, damit ihre Stimme nicht versagte. Sie brachte kaum mehr als ein Flüstern zu Stande. »Ich weiß, was sie von dir will – wozu sie dich zwingen wird.«

»Nein, darum geht es ganz sicher nicht…« Kopfschüttelnd setzte er hinzu: »Ich werde das nicht annehmen«, so als könnte er mit seiner Ablehnung die Möglichkeit ausschließen.

Kahlan legte ihm die Hand an die Wange. Sein Gesicht verschwamm vor ihren Augen.

»Bitte, Richard, nimm sie. Tu es mir zuliebe. Ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass eine andere Frau ein Kind von dir bekommt.« Oder versuchte, eins mit ihm zu zeugen –, doch diesen Aspekt behielt sie für sich. »Erst recht nicht, nachdem meines…«

Er wich ihrem Blick aus. »Kahlan…« Ihm fehlten die Worte.

»Tu es einfach mir zuliebe. Nimm sie, bitte, Richard. Ich werde tun, was du verlangst, und deine Gefangenschaft ertragen, aber bitte erfülle mir im Gegenzug meinen Wunsch. Ich könnte die Vorstellung nicht ertragen, dass dieses betörende blonde Biest dein Kind bekommt – das Kind, das eigentlich meines sein sollte. Begreifst du nicht? Wie könnte ich jemals etwas lieben, das ich zutiefst verabscheue, und wie könnte ich jemals etwas hassen, das ein Teil von dir ist? Bitte, Richard, lass es niemals dazu kommen.«

Der kalte Wind fuhr in ihr Haar und zauste es. Ihr ganzes Leben, so kam es ihr vor, schien im Chaos zu versinken und ihr aus den Fingern zu gleiten. Sie konnte kaum glauben, dass dieser Ort der Freude, des Seelenfriedens und der inneren Befreiung, dieser Ort, an dem sie zu neuem Leben erwacht war, zu einem Ort wurde, an dem ihr all dies wieder genommen wurde.

Richard hielt ihr die Halskette hin, als fürchtete er sich vor ihr. Der dunkle Stein pendelte im düsteren Licht schimmernd unter seinen Fingern.

»Ich glaube nicht, dass es darum geht, Kahlan, wirklich nicht. Aber wie auch immer, sie könnte sich schlicht weigern, sie zu tragen und damit drohen, dich zu töten, wenn ich nicht…«

Kahlan nahm das goldene Kettchen aus seinen Fingern und legte es ihm in einem säuberlichen Häufchen in die Hand. Der dunkle Stein, gefangen hinter dem Schleier aus winzigen goldenen Kettengliedern, schimmerte matt. Sie schloss seine Hand um die Halskette und hielt seine Faust mit beiden Händen fest.

»Du bist es doch, der von uns verlangt, die Dinge, über die es schwer ist, nachzudenken, nicht einfach zu ignorieren.«

»Aber wenn sie sich weigert…«

Kahlan drückte seine Faust mit ihren zitternden Fingern fester. »Wenn die Zeit kommt und sie dies von dir verlangt, musst du sie überzeugen, diese Halskette anzulegen. Du musst, mir zuliebe. Es ist schon schlimm genug, dass ich glaube, sie stiehlt mir meine Liebe und meinen Ehemann, aber obendrein noch befürchten zu müssen…«

Seine große Hand fühlte sich so warm, so vertraut und tröstlich an. Sie sprach mit tränenerstickter Stimme. Mehr als anflehen konnte sie ihn nicht. »Bitte, Richard.«

Schließlich nickte er, die Lippen fest aufeinander gepresst, und verstaute die Halskette in einer Tasche. »Ich glaube nicht, dass das ihre Absicht ist, wenn aber doch, hast du mein Wort: Sie wird die Halskette tragen.«

Kahlan ließ sich schluchzend gegen ihn sinken.

Er fasste sie am Arm. »Komm, beeil dich. Ich muss die Sachen zusammensuchen, die ich mitnehmen möchte. Mir bleiben nur ein paar Minuten, sonst ist am Ende alles umsonst. Ich kann den kürzeren Pfad nehmen und sie noch immer bis zum höchsten Punkt des Passes einholen, aber viel Zeit bleibt mir nicht.«

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