33

Als Kahlan und Cara endlich zwischen den verwundeten, erschöpften und schlafenden D’Haranischen Soldaten hindurch ins Lager hineinritten, waren es nur noch wenige Stunden bis Tagesanbruch. Kahlan hatte angenommen, sie hätten sich einen sicheren Schlafplatz draußen im Grasland suchen und bis zum Hellwerden warten müssen, um den Rückweg zu finden, doch sie hatten Glück gehabt; ein Aufreißen der dichten Wolkendecke hatte es ihnen ermöglicht, sich nach den Sternen zu orientieren. Nur unter der funkelnden Weite des Sternenhimmels hatten sie den dunklen Faltenwurf des Gebirges am Horizont erkennen können. Diesen deutlich sichtbaren Führer vor Augen, hatten sie weit draußen im menschenleeren Land ihren Weg finden, die Imperiale Ordnung sicher umgehen und anschließend Richtung Norden Kurs auf ihre eigenen Truppen nehmen können.

Ein Begrüßungskommando erwartete sie, Soldaten kamen herbeigelaufen und bildeten ein jubelndes Spalier, als das Lager sie aufnahm. Kahlan empfand ein wenig Stolz darüber, diesen Männern gegeben zu haben, was sie in diesem Augenblick am dringendsten benötigten: Vergeltung. Hinten auf Caras Pferd sitzend, winkte Kahlan den Männern zu, an denen sie vorüberritt. Ihr Lächeln galt allein ihnen.

General Meiffert, der den Jubel mitbekommen hatte, wartete ungeduldig in der Nähe des Bereiches, wo die Pferde angepflockt wurden. Er kam ihnen entgegen, um sie zu begrüßen. Als Kahlan und Cara neben dem Gatter der behelfsmäßigen Pferdekoppel absaßen, übernahm einer der Soldaten die Zügel des Pferdes. Die Schmerzen in ihren Muskeln vom scharfen Ritt während der letzten Tage und der einen durchkämpften Nacht ließen Kahlan zusammenzucken.

Die Hiebe, die sie ausgeteilt hatte, machten sich in ihrem rechten Schultergelenk als Pochen bemerkbar. Nach ihren spielerischen Duellen mit Richard, dachte sie bei sich, hatte ihr Schwertarm niemals so wehgetan. Den anwesenden Soldaten zuliebe zwang sie sich beim Gehen zu einer lockeren Körperhaltung, als hätte sie soeben drei Tage Ruhe und Erholung hinter sich.

General Meiffert hatte die Schlacht der vergangenen Nacht offenbar nicht weiter zugesetzt, er schlug sich die Faust aufs Herz und sagte: »Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin, Euch zu sehen, Mutter Konfessor.«

»Und ich auch, General.«

Er beugte sich vor. »Bitte, Mutter Konfessor, ich hoffe doch, Ihr werdet nicht noch einmal etwas so Tollkühnes tun, oder?«

»Es war alles andere als tollkühn«, mischte sich Cara ein. »Ich war bei ihr und habe auf sie aufgepasst.«

Er warf ihr einen finsteren Blick zu, widersprach ihr aber nicht. Kahlan fragte sich, wie man ohne gelegentlich etwas Tollkühnes zu tun Krieg führen konnte. Der ganze Feldzug war tollkühn.

»Wie viele Männer haben wir verloren?«, erkundigte sich Kahlan stattdessen.

Ein Grinsen teilte General Meifferts Gesicht. »Keinen einzigen, Mutter Konfessor, könnt Ihr Euch das vorstellen? Dank der Hilfe des Schöpfers sind alle geschlossen zurückgekehrt.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dass der Schöpfer auf unserer Seite sein Schwert geschwungen hätte«, erwiderte Cara.

Kahlan verschlug es die Sprache. »Eine bessere Nachricht hättet Ihr mir nicht überbringen können, General.«

»Ich kann Euch gar nicht sagen, wie das die Männer aufgerichtet hat, Mutter Konfessor. Trotzdem möchte ich Euch bitten, so etwas nicht noch einmal zu tun.«

»Ich bin nicht hier, um den Männern zuzulächeln, ihnen zu winken oder hübsch für sie auszusehen, General, ich bin hier, um diese mörderischen Bastarde für immer in die Gewalt des Hüters zu verbannen.«

Seufzend gab er sich geschlagen. »Wir haben Euch ein Zelt zurechtgemacht. Ihr seid ohne Zweifel müde.«

Kahlan nickte und ließ sich und Cara von dem General durch das mittlerweile stille Feldlager geleiten. Männer, die nicht schliefen, salutierten schweigend mit einem Faustschlag auf ihr Herz. Kahlan versuchte, ihnen zuliebe ein Lächeln aufzusetzen; sie konnte ihnen an den Augen ablesen, wie sehr sie ihre Bemühungen zu schätzen wussten, in der unbarmherzigen Schlacht das Blatt ein kleines Stück zu ihren Gunsten zu wenden. Wahrscheinlich glaubten sie, sie hatte es für sie getan, doch das stimmte nur zum Teil.

Als sie bei einer gut bewachten Gruppe aus einem halben Dutzend Zelten anlangten, deutete General Meiffert auf das in der Mitte.

»Es war General Reibischs Zelt, Mutter Konfessor. Ich habe Eure Sachen hineinschaffen lassen; ich war der Meinung, Ihr solltet das beste Zelt bekommen. Wenn es Euch jedoch etwas ausmacht, in diesem Zelt zu schlafen, werde ich Eure Habe auf Euren Wunsch woanders hinbringen lassen.«

»Ich werde mich bestimmt wohl fühlen, General.« Als Kahlan daraufhin das Gesicht des jungen Mannes in Augenschein nahm, entdeckte sie einen Anflug von Niedergeschlagenheit. Sie erinnerte sich, dass er gerade so alt war wie sie. »Wir alle vermissen ihn sehr.«

Sein Gesicht verriet nur einen Teil des Schmerzes, den er ihrer Ansicht nach empfinden musste. »Ich kann einen Mann wie ihn unmöglich ersetzen, Mutter Konfessor, er war nicht nur ein großer General, sondern auch ein fantastischer Mensch. Ich habe viel von ihm gelernt, und sein Vertrauen hat mich stets geehrt. Er war der beste Mann, unter dem ich je gedient habe; ich möchte nicht, dass Ihr Euch der Illusion hingebt, ich könnte seinen Platz einnehmen. Ich weiß, dass ich das nicht kann.«

»Das hat niemand von Euch verlangt. Wir erwarten lediglich, dass Ihr Euer Möglichstes tut; das wird uns eine große Hilfe sein, da bin ich vollkommen sicher.«

Ihr Großmut ließ ihn lächeln. »Das werde ich bestimmt, Mutter Konfessor. Ich verspreche es Euch, das werde ich.« Er wandte sich an Cara und wechselte das Thema. »Eure Sachen habe ich in das Zelt dort drüben schaffen lassen, Herrin Cara.« Es war das Zelt unmittelbar neben Kahlans.

Cara ließ den Blick prüfend über die Szene schweifen und bemerkte die patrouillierenden Wachen. Als Kahlan ihr erklärte, sie werde sofort zu Bett gehen und sie solle ebenfalls ein wenig schlafen, pflichtete Cara ihr bei und wünschte den beiden noch eine gute Nacht, bevor sie in ihrem Zelt verschwand.

»Ich habe Eure Hilfe heute Abend sehr zu schätzen gewusst, General, aber jetzt solltet Ihr Euch ein wenig schlafen legen.«

Er neigte den Kopf und wandte sich zum Gehen, drehte sich aber noch einmal um.

»Wisst Ihr, ich hatte immer gehofft, eines Tages General zu werden, das war mein Traum, seit ich ein kleiner Junge war…« Er wich Kahlans Blick aus. »Ich glaube, ich stellte mir immer vor, es würde mich stolz und glücklich machen.« Er hakte seine Daumen in die Taschen und ließ, vielleicht seine Träume aus der Vergangenheit, vielleicht aber auch seine neuen Pflichten vor Augen, den Blick über das dunkle Lager schweifen.

»Glücklich hat es mich keineswegs gemacht«, meinte er schließlich.

»Ich weiß«, erwiderte sie in aufrechtem Mitgefühl. »Kein rechtschaffener Soldat möchte auf diese Weise befördert werden, manchmal jedoch muss man sich einer Herausforderung stellen.« Leise seufzend versuchte sie sich vorzustellen, wie ihm zumute sein musste. »Eines Tages, General, werden sich Stolz und Zufriedenheit einstellen, und zwar aus dem Gefühl heraus, dass Ihr gute Arbeit leistet, und weil Ihr wisst, dass Ihr etwas bewirkt.«

Er nickte. »Ich weiß, es war ein recht erhebendes Gefühl heute Nacht, als ich Euch auf dem Rücken von Caras Pferd sicher ins Lager habe zurückkehren sehen. Mit Freuden sehe ich dem Tag entgegen, da ich auch Lord Rahl in unser Lager einreiten sehe.« Er machte Anstalten zu gehen. »Ich wünsche Euch eine gute Nacht. In zwei, drei Stunden wird es hell, dann werden wir wissen, was der neue Tag uns bringt. Ich werde einige Berichte für Euch vorbereitet haben.«

Als sie in ihr Zelt trat, saß dort Zedd allein und wartete. Kahlan stöhnte innerlich.

Sie war todmüde und verspürte nicht die geringste Lust, sich von dem alten Zauberer ausfragen zu lassen. Manchmal, vor allem, wenn man müde war, konnte seine bohrende Fragerei überaus lästig werden. Sie wusste, er meinte es nur gut, trotzdem war ihr nicht danach zumute. Vermutlich würde es ihr nicht einmal gelingen, höflich zu bleiben, sobald er zu seinem endlosen Verhör angesetzt hatte. Es war bereits spät, und sie war so erschöpft, dass sie sich einfach wünschte, er würde sie in Frieden lassen.

Sie blieb unmittelbar hinter dem Zelteingang stehen und beobachtete schweigend, wie er sich erhob. Sein krauses weißes Haar war zerzauster als gewöhnlich, sein schweres Gewand verdreckt und blutbespritzt; um seine Knie war es dunkel von getrocknetem Blut.

Er bedachte sie mit einem langen Blick, dann schloss er sie in seine knochendürren Arme. Sie wollte nichts als schlafen. Schweigend drückte er ihren Kopf an seine Schulter, vielleicht weil er dachte, sie könnte zu weinen anfangen, doch ihre Tränen schienen endgültig versiegt. Sie fühlte sich wie betäubt, vermutlich wegen ihres immer währenden Zorns, aber weinen konnte sie einfach nicht mehr, alles, was sie empfand, war Wut.

Schließlich hielt Zedd sie auf Armeslänge von sich und knetete ihr mit seinen erstaunlich kräftigen Fingern die Schultern. »Ich wollte nur abwarten, bis du sicher zurück bist, bevor ich ins Bett gehe. Ich wollte dich noch einmal sehen.« Er lächelte traurig. »Ich bin sehr erleichtert, dass du in Sicherheit bist. Schlaf gut, Kahlan.«

Ihr noch immer mit Lederriemen umschlungenes Bettzeug lag auf einem aus einer strohgefüllten Matratze bestehenden Lager. Über ihrem in der Ecke stehenden Rucksack hingen Satteltaschen, gegenüber dem Bett gab es einen kleinen Klapptisch mitsamt Stuhl, daneben einen Korb mit eingerollten Karten. Auf einem zweiten kleinen Klapptisch standen eine Wasserkanne und eine Schüssel, über der Querstrebe der Tischbeine hing ein sauberes Handtuch.

Für Armeeverhältnisse war das Zelt geräumig, trotzdem herrschte immer noch drangvolle Enge. Die Zeltleinwand schien schwer genug, jedem Wetter zu trotzen; an beiden Enden des Zeltes von einer den First des Daches bildenden Stange herabhängende Lampen warfen ein warmes Licht in den gemütlichen Innenraum. Kahlan versuchte sich vorzustellen, wie der beleibte General Reibisch, sich an seinem rostroten Bart zupfend, auf so beengtem Raum auf und ab ging und sich dabei über eine Armee den Kopf zerbrach, die größer war als manche Stadt.

Zedd wirkte erschöpft. Ein Ausdruck innerer Gequältheit hatte sich in Form von Falten in sein hageres Gesicht gegraben. Sie ermahnte sich, dass er eben erst erfahren hatte, dass sich sein Enkelsohn, sein einziger Verwandter auf dieser Welt, in der Gewalt des grausamen Feindes befand.

Davon abgesehen hatte Zedd zwei Tage lang gekämpft und des Nachts versucht, Soldaten zu heilen. Als sie ins Lager einritt, hatte sie gesehen, wie er sich wankend neben der Leiche eines Mannes aufgerappelt hatte, der sich als General Reibisch herausgestellt hatte. Sofort war ihr klar gewesen, dass der Mann unrettbar verloren war, wenn Zedd ihn nicht heilen konnte.

Kahlan strich sich das Haar aus dem Gesicht und deutete auf einen Stuhl.

»Warum setzt du dich nicht einfach einen Augenblick hin, Zedd?«

Er betrachtete erst den Stuhl, dann ihr Bettzeug. »Ich denke schon, eine Minute, während du dein Nachtlager bereitest. Du brauchst dringend Schlaf.«

Dem vermochte Kahlan nicht zu widersprechen. Sie merkte, dass ihr Kopf hämmerte. Kleinigkeiten wie hämmernde Kopfschmerzen vergaß man in der Hitze des Gefechts leicht. In diesem Augenblick erschien ihr die strohgefüllte Matratze so prächtig wie ein Federbett. Sie warf ihren Überwurf aus Wolfspelz und ihren Umhang über das Nachtlager; sie würden sie warm halten.

Kommentarlos verfolgte Zedd, wie sie das Schwert der Wahrheit abschnallte und vom Rücken nahm. Er hatte diese Waffe einst Richard überreicht. Kahlan war dabei gewesen und hatte Zedd angefleht, es nicht zu tun, er jedoch hatte erwidert, er habe keine Wahl, Richard sei der Auserwählte. Zedds Äußerung hatte sich als richtig erwiesen, das war Richard in der Tat.

Sie fühlte, wie sie errötete, als sie, kurz bevor sie das Schwert ablegte, das Heft an jener Stelle küsste, wo Richards Hand so oft gelegen hatte. Zedd, wenn er es überhaupt bemerkt hatte, enthielt sich jeglichen Kommentars, und so legte sie die glänzende Scheide neben ihre Bettstatt.

Als Kahlan in der beklemmenden Stille ihr königlich-galeanisches Schwert abnahm, bemerkte sie, dass an der Scheide Blut ablief. Sie löste die Schnallen ihrer leichten Lederrüstung, zog sie aus und legte sie neben ihren Rucksack. Als sie daraufhin das königliche Schwert mitsamt seiner Scheide gegen die Platten ihrer Lederrüstung lehnte, bemerkte sie, dass diese blutbespritzt waren.

Sie bemerkte außerdem, dass ihre ledernen Beinmanschetten an verschiedenen Stellen Handabdrücke aufwiesen und sich im Leder längliche Kratzspuren von den Fingernägeln der Soldaten befanden. Sie erinnerte sich, dass Soldaten sie hatten packen wollen, aber dass deren Hände sie tatsächlich zu fassen bekommen und sie aus dem Sattel zu zerren versucht hatten, wusste sie nicht mehr. Als die Bilder über sie hereinzustürzen begannen, drohte ihr übel zu werden, deshalb versuchte sie ihre Gedanken auf etwas anderes zu konzentrieren.

»Cara und ich haben das Rang’Shada-Gebirge nördlich der Weite Agaden überquert und sind anschließend quer durch Galea nach Süden geritten«, brach sie das bedrückende Schweigen.

»Das dachte ich mir«, erwiderte er.

Mit einer unbestimmten Handbewegung deutete sie auf das umliegende Lager. »Ich hielt es für angebracht, einige Truppen mitzubringen.«

»Die können wir gut gebrauchen.«

Kahlan sah hoch in seine haselnussbraunen Augen. »Ich habe alle mitgebracht, die ich mitbringen konnte, ohne warten zu müssen. Warten wollte ich auf keinen Fall.«

Zedd nickte. »Das war klug.«

»Prinz Herold wollte mich begleiten, ich bat ihn jedoch, eine größere Streitmacht zusammenzustellen und sie hierher zu führen. Wenn wir die Midlands verteidigen wollen, werden wir zusätzliche Truppen benötigen. Er fand, das sei eine gute Idee.«

»Hört sich ganz so an.«

»Sobald er seine Armee aus ihren Verteidigungsstellungen abziehen kann, wird Prinz Herold zu uns stoßen und uns beistehen.«

Zedd nickte bloß.

Sie räusperte sich. »Ich wünschte, wir hätten eher kommen können.«

Zedd zuckte mit den Achseln. »Du bist so schnell gekommen, wie du konntest. Außerdem bist du jetzt hier.«

Kahlan drehte sich zu ihrem Bettzeug herum, ließ sich auf ein Knie sinken und ging daran, die Lederriemen zu lösen, mit denen ihr Bettzeug zusammengehalten wurde. Aus irgendeinem Grund schienen ihr die Riemen vor den Augen zu schwimmen – vermutlich deshalb, weil sie so müde war.

Im trüben Schein der Lampe warf sie einen kurzen Blick über ihre Schulter, dann ging sie abermals daran, den Knoten aufzudröseln. »Vermutlich möchtest du wissen, wie es dieser Schwester der Finsternis gelingen konnte, Richard gefangen zu nehmen.«

Einen Augenblick schwieg er, dann endlich war seine leise und freundliche Stimme zu vernehmen. »Dafür ist später noch genug Zeit, Kahlan. Heute Nacht ist das nicht nötig.«

Beim Herumzupfen an dem widerspenstigen Knoten fiel ihr das Haar über die Schulter, sie musste es aus dem Gesicht streichen, um zu erkennen, was sie tat. Der dämliche Lederriemen hatte sich fest zusammengezogen. Am liebsten hätte sie die Person verflucht, die ihn geknotet hatte, doch da sie es selbst gewesen war, konnte sie keinem anderen die Schuld zuschieben.

»Sie hat einen Mutterbann gegen mich benutzt, der uns miteinander verbindet. Sie behauptete, sie könne – sie könne mich töten, falls Richard ihr nicht gehorcht und sie begleitet.«

Auf diese Nachricht hin stieß Zedd nur einen verzweifelten Seufzer aus.

»Richard kann sie nicht töten, da ich sonst ebenfalls sterbe.«

Sie wartete darauf, dass er hinter ihrem Rücken etwas sagte. Schließlich ließ sich seine Stimme vernehmen.

»Ich habe von diesen Bannen nur gelesen, aber nach allem, was ich weiß, hört sich das ganz so an, als habe sie dir die Wahrheit erzählt.«

»Ich habe eine Platzwunde am Mund, die ich nicht selbst verschuldet habe. Passiert ist es vor ein paar Tagen – über diese Verbindung. Was immer ihr zustößt, stößt auch mir zu. Ich hoffe, Richard hat sie geschlagen. Es wäre es wert gewesen.«

»Ich glaube nicht, dass Richard so etwas tun würde.«

Sie wusste auch, dass er es nicht tun würde, es war nichts weiter als ein frommer Wunsch.

Eine der kleinen Lampen begann zu flackern und ließ die Schatten zittern, die andere zischte leise vor sich hin; Kahlan wischte sich die Nase an ihrem Ärmel ab.

»Richard hat seine Freiheit aufgegeben, damit ich weiterleben kann. Ich wünschte, ich könnte sterben, um ihm die Freiheit zurückzugeben, aber ich musste ihm versprechen, es nicht zu tun.«

Kahlan spürte, wie sich eine tröstende Hand auf ihre Schulter legte. Zedd schwieg; ihr Herz nicht unter einer Lawine von Fragen zu begraben war der größte Freundschaftsdienst, den er ihr in diesem Augenblick erweisen konnte.

Dank der beruhigenden Wirkung seiner Hand gelang es Kahlan schließlich, den Knoten zu lösen. Zedd lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, während sie ihr Bettzeug ausrollte, in dem die Schnitzfigur Seele zur sicheren Aufbewahrung eingewickelt war. Sie passte von ihrer Größe her genau quer in ihre Decken. Kahlan nahm sie heraus und drückte sie einen Augenblick lang an ihr Herz, dann drehte sie sich um und stellte Seele auf den kleinen Klapptisch.

Als Zedd sich langsam erhob, glich er unter seinem kastanienbraunen Gewand einer Ansammlung knochiger Ecken und Kanten. Den einen Arm angewinkelt, um auf die stolz auf dem kleinen Tischchen stehende Figur zu zeigen, während er sie offenen Mundes bestaunte, wirkte er mit seiner schlaksigen Gestalt steif wie ein hoch aufgeschossener, dürrer Baum im Winter.

»Wo sonst hast du auf dem Weg hierher noch Halt gemacht?« Er warf einen argwöhnischen Blick in ihre Richtung. »Hast du etwa Schätze aus irgendwelchen Palästen gestohlen?«

Jetzt erst merkte sie, dass der Blick nicht so sehr argwöhnisch als vielmehr hänselnd gemeint war. Kahlan strich mit dem Finger über das fließende Gewand der Holzfigur und folgte den kraftvollen Linien der Körperhaltung der Frau mit ihrem Blick. Irgendetwas an der Art, wie sie, die Fäuste geballt an den Seiten und den Rücken durchgedrückt, den Kopf, jener unsichtbaren Kraft trotzend, die sie zu unterwerfen suchte, in den Nacken warf, wirkte ungeheuer gut getroffen.

»Nein.« Kahlan musste schlucken. »Die Figur hat Richard für mich geschnitzt.«

Zedd senkte seine Stirn noch tiefer. Eine Weile starrte er die Figur unverwandt an, dann streckte er einen seiner zweigdürren Finger vor, um sie zu berühren, als sei sie eine Antiquität von unschätzbarem Wert.

»Bei den Gütigen Seelen…«

Kahlan tat, als lächelte sie. »Beinahe. Er meinte, sie heißt Seele . Richard hat sie für mich geschnitzt, als ich dachte, ich würde nie wieder gesund werden. Sie hat mir sehr geholfen…«

In der ehrfürchtigen Stille löste Zedd seinen Blick schließlich von der Frau mit den geballten Fäusten an den Seiten und dem leicht erhobenen Blick, mit dem sie Kahlan anzusehen schien, und runzelte auf äußerst seltsame Weise die Stirn.

»Das bist du«, sagte er, halb zu sich selbst. »Bei den Gütigen Seelen … der Junge hat eine Statue deiner Seele geschnitzt. Ich erkenne sie wieder. Das ist völlig sonnenklar.«

Zedd war nicht nur Richards Großvater, sondern mittlerweile auch ihrer. Zudem war er nicht nur der Oberste Zauberer, er war es auch, der Richard großgezogen hatte. Neben Richard besaß Zedd keine weiteren Angehörigen.

Außer einer Halbschwester und einem Halbbruder, die, von der Blutsverwandtschaft abgesehen, Fremde für sie waren, hatte auch Kahlan keine Verwandten mehr; sie stand ebenso allein in der Welt wie Zedd.

Durch Richard war Zedd jetzt ihre Familie, ihr wurde jedoch bewusst, dass er selbst dann keine geringere Bedeutung für sie hätte, wenn es nicht so wäre.

»Wir werden ihn zurückbekommen, Liebes«, sagte er leise und voller Mitgefühl. Behutsam streichelte er ihr mit seiner zweigdürren Hand die Wange. »Wir werden ihn befreien.«

Alles schien zu verschwimmen. Als Kahlan seine schützende Umarmung spürte, konnte sie eine wahre Flut von Tränen nicht länger zurückhalten.

Загрузка...