46

Als Richard den letzten Wagen mit Eisenbarren abgeladen hatte, stützte er die Hände auf den Stapel und ließ keuchend den Kopf hängen. Die Muskeln in seinen Armen und Schultern pochten. Normalerweise wäre es einfacher gewesen, wenn man für das Abladen der Eisenbarren zwei Mann zur Verfügung gehabt hätte, einen auf dem Wagen und einen unten, aber der Mann, der ihm mit der Fuhre hatte helfen sollen, hatte einige Tage zuvor mit der Begründung gekündigt, er sei nicht korrekt behandelt worden. Im Grunde vermisste Richard ihn aber nicht allzu sehr, denn selbst wenn der Mann einmal den Hintern hochbekam, war er eher eine Last als eine Hilfe.

Das durch die hohen Fenster hereinfallende Licht wurde schwächer, und zurückblieb ein tief violetter Himmel im Westen. Der Schweiß lief ihm in den Nacken, feine Bahnen durch den schwarzen Eisenstaub ziehend. Am liebsten hätte er sich jetzt in einen kühlen Bergsee gestürzt; schon die Vorstellung hatte etwas Erfrischendes. Während er verschnaufte, ließ er seine Gedanken dorthin wandern.

Ishaq kam mit einer Laterne durch den Mittelgang. »Du arbeitest zu hart, Richard.«

»Ich dachte, deswegen hätte man mich eingestellt.«

Ishaq musterte Richard einen Augenblick, wobei sich der grelle Schein der Laterne in seiner Hand in einem Auge spiegelte. »Hör auf meinen Rat. Du arbeitest zu hart, und das wird dir nur Ärger einbringen.«

Mittlerweile arbeitete Richard, Wagen be- und entladend, seit drei Wochen im Lagerhaus. Er hatte eine ganze Reihe der anderen Arbeiter kennen gelernt und konnte sich ziemlich genau vorstellen, was Ishaq meinte.

»Die Vorstellung, mit einem Eisenbarren um den Hals schwimmen zu müssen, beschäftigt mich eben immer noch.«

Ishaqs finstere Miene hellte sich ein wenig auf und er lachte brummig. »An dem Tag hab ich bloß den Mund aufgerissen, wegen Jori.«

Jori war der Fahrer, der sich geweigert hatte, mit anzupacken, als der Wagen einen Radbruch hatte. Richard gähnte. »Weiß ich doch, Ishaq.«

»Wir sind hier nicht auf einer Farm, wie da, wo du herkommst. Das hier ist was anderes, hier lebt man nach den Gepflogenheiten des Ordens. Du darfst niemals die Bedürfnisse der anderen aus den Augen verlieren, wenn du nicht anecken willst. Das ist nun mal der Lauf der Welt.«

Der zur Vorsicht gemahnende Unterton in Ishaqs Stimme war Richard ebensowenig entgangen wie die Bedeutung seiner versteckten Warnung.

»Du hast Recht, Ishaq. Danke, ich werde versuchen daran zu denken.«

Ishaq deutete mit seiner Laterne Richtung Tür. »Heute Abend ist Arbeiterkollektivversammlung. Am besten, du machst dich sofort auf den Weg.«

Richard stöhnte. »Ich weiß nicht. Es ist spät, und ich bin müde. Ich würde lieber –«

»Du solltest darauf achten, dass dein Name sich nicht rumspricht. Es ist nicht gut, wenn die Leute sich den Mund zerreißen, dass es dir an sozialer Einstellung fehlt.«

Richard feixte. »Ich dachte, die Versammlungen wären freiwillig.«

Ishaq entfuhr abermals ein bellendes Lachen. Richard ging seinen Rucksack aus einem Regal in der hinteren Ecke holen und lief dann zum Tor, damit Ishaq es verriegeln konnte.

Draußen, wo es inzwischen immer dunkler wurde, konnte Richard Niccis üppige Gestalt gerade eben noch auf der Mauer am Eingang des Lagerhauses sitzen sehen. Ihre Kurven erinnerten ihn oft an nichts so sehr wie an eine Schlange. Da sie noch immer kein Zimmer hatten, schaute sie oft am Lagerhaus vorbei, nachdem sie den größten Teil des Tages damit zugebracht hatte, für Brot und andere Dinge des täglichen Bedarfs anzustehen. Gewöhnlich gingen sie anschließend zusammen zu ihrem Unterschlupf in einer ruhigen, ungefähr eine Meile entfernten Gasse. Richard hatte ein paar dort herumlungernden Jungen ein bisschen Geld in die Hand gedrückt, damit sie ihr Nachtlager bewachten und darauf aufpassten, dass es sich kein anderer unter den Nagel riss. Die Burschen waren jung genug, um für den kleinen Geldbetrag dankbar zu sein, gleichzeitig alt genug, ihre Arbeit mit einer gewissen Sorgfalt zu verrichten.

»Hast du Brot bekommen?«, fragte Richard.

Nicci sprang von der Mauer herunter. »Heute gab es keins – es war schon ausverkauft. Ich werde uns eine Suppe kochen.«

Richard knurrte der Magen. Er hatte sich Hoffnungen auf Brot gemacht, um gleich an Ort und Stelle ein Stück davon essen zu können. Suppe würde dauern.

»Wo ist dein Rucksack? Und wenn du Kohl eingekauft hast, wo ist er dann?«

Lächelnd holte sie einen kleinen Gegenstand hervor, den sie im Gehen vor sich hielt, sodass er sich vor dem tiefvioletten Himmel der Abenddämmerung abzeichnete. Es war ein Schlüssel.

»Ein Zimmer? Wir haben ein Zimmer?«

»Ich war heute Nachmittag in der Quartiervermittlung. Unser Name war endlich an der Reihe. Man hat uns ein Zimmer zugewiesen, für Mr. und Mrs. Cypher. Heute Nacht werden wir ein Dach über dem Kopf haben. Das ist auch gut so, denn es sieht nach Regen aus. Ich habe meine Sachen schon in unser Zimmer gebracht.«

Richard rieb sich seine schmerzenden Schultern. Er spürte, wie ihn angesichts der Heuchelei, zu der sie ihn und auch Kahlan zwang, eine Woge des Abscheus überkam.

Manchmal gab es Augenblicke, in denen er in dem, was sie war und tat, einen Anflug tieferer Bedeutung zu entdecken glaubte, meist jedoch fühlte er sich von dem Irrsinn des Ganzen einfach nur erdrückt.

»Und wo liegt dieses Zimmer?« Er hoffte, es war nicht ganz auf der anderen Seite der Stadt.

»Es ist eins von denen, wo wir schon einmal waren – nicht allzu weit von hier. Das mit dem Flecken an der Wand gleich neben der Tür.«

»Nicci, sie hatten alle Flecken an den Wänden.«

»Ich meinte den, der aussieht wie ein Pferdehintern mit wedelndem Schwanz. Du wirst schon sehen.«

Richard war völlig ausgehungert. »Ich muss heute Abend wieder zu einer Versammlung des Arbeiterkollektivs.«

»Oh«, machte Nicci. »Die Versammlungen des Arbeiterkollektivs sind wichtig. Sie helfen einem, nicht aus den Augen zu verlieren, worauf es wirklich ankommt, und dass jeder eine Verpflichtung gegenüber seinen Mitmenschen hat.«

Die Versammlungen waren die reinste Qual. Nie passierte dabei irgendetwas von Bedeutung; manchmal zogen sie sich über Stunden hin. Es gab allerdings Leute, die geradezu für die nächste Versammlung lebten, damit sie sich vor den anderen produzieren und vom Ruhm des Ordens berichten konnten. Das war ihre Glanzstunde, ihr Augenblick, in dem sie etwas darstellten, in dem sie wichtig waren.

Wer sich auf den Versammlungen nicht blicken ließ, konnte leicht in den Verdacht umstürzlerischer Umtriebe geraten. Dass ein solcher Verdacht jeder Grundlage entbehrte, war bedeutungslos. In einem Land, in dem Gleichheit als oberstes Ideal galt, gab es manchen Leuten ein Gefühl größerer Wichtigkeit, eine Anschuldigung vorzubringen.

Ständig schien die Gefahr eines Umsturzes, einer dunklen Wolke gleich, über der Alten Welt zu schweben. Der Anblick von Stadtgardisten, die Personen wegen des Verdachts auf umstürzlerische Umtriebe in Gewahrsam nahmen, war ganz und gar nichts Ungewöhnliches. Folter brachte Geständnisse hervor, die wiederum die Glaubwürdigkeit des Anklägers unter Beweis stellten. Dieser Logik entsprechend hatten die Leute, die sich auf Versammlungen lang und breit über irgendetwas ausließen, zu Recht mit dem Finger auf eine Reihe von Unruhestiftern gezeigt – wie deren Geständnisse ja bewiesen.

Die allgegenwärtige, unterschwellige Spannung in Altur’Rang ließ viele in ständiger Sorge über die Geißel des Umsturzes – die angeblich aus der Neuen Welt drohte. Beamte des Ordens zögerten nicht, einen solchen Umsturz niederzuschlagen, wann immer man ihn entdeckte. Andere verzehrten sich so sehr vor Angst, jemand könnte mit dem Finger auf sie zeigen, dass die Denunzianten auf den Versammlungen der Arbeiterkollektive sich einer großen Schar eifriger Anhänger sicher sein konnten.

Auf manch öffentlichem Platz ließ man Leichen der Unruhestifter – als Mahnung, was geschehen konnte, falls man in falsche Gesellschaft geriet – an hohen Pfählen aufhängen, bis die Vögel ihre Gebeine blank gepickt hatten. Ein häufig gehörter Scherz, falls ein unvorsichtiger Mensch auch nur die geringste nicht obrigkeitskonforme Bemerkung fallen ließ, lautete: »Möchtest du etwa im Himmel begraben werden?«

Richard gähnte abermals, als sie in die Straße einbogen, die zum Versammlungssaal führte. »Ich kann mich an keinen Fleck erinnern, der wie ein Pferdehintern aussah.«

Steine knirschten unter ihren Stiefeln, als sie die dunkle Straßenseite entlangliefen. Weit vor sich sahen sie Ishaqs schwingende Laterne, als der Mann zur Versammlung eilte.

»Du hattest gerade auf etwas anderes geachtet. Es ist das Zimmer, wo diese drei wohnen.«

»Diese drei was?«

Mehrere andere Leute, die er zum Teil kannte und zum Teil nicht, hasteten auf ihrem Weg zur Versammlung durch die Straße.

Da fiel es Richard wieder ein. Er blieb stehen.

»Meinst du etwa dieses Logierhaus, wo die drei Angeber wohnen – die drei mit den Messern?«

Im trüben Licht konnte er kaum sehen, wie sie nickte. »Genau das meinte ich.«

»Großartig.« Richard wischte sich mit der Hand durchs Gesicht während sie weitergingen. »Hast du dich erkundigt, ob wir vielleicht ein anderes Zimmer bekommen können?«

»Wer neu in die Stadt kommt, kann von Glück reden, wenn er überhaupt ein Zimmer bekommt. Die Zimmer werden zugeteilt, sobald der betreffende Name an der Reihe ist. Lehnt man ab, rutscht man in der Liste wieder nach ganz unten.«

»Hast du dem Wirt schon etwas bezahlen müssen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Nur, was ich bei mir hatte.«

Richard biss die Zähne aufeinander, ging aber weiter. »Das war alles, was wir für den Rest der Woche hatten.«

»Ich kann die Suppe verlängern.«

Richard traute ihr nicht über den Weg. Wahrscheinlich hatte sie irgendwie dafür gesorgt, dass man ihnen ausgerechnet dieses Zimmer zugewiesen hatte. Vermutlich wollte sie herausfinden, was er jetzt, da er der Situation nicht aus dem Weg gehen konnte, gegen die drei jungen Burschen unternehmen würde. Ständig tat sie so etwas, stellte seltsame Fragen und machte unverschämte Bemerkungen, nur um zu sehen, wie er darauf reagierte, wie er sich verhielt. Er vermochte sich nicht vorzustellen, was sie eigentlich von ihm wollte.

Wegen dieser drei Burschen begann er sich allerdings Sorgen zu machen, denn er erinnerte sich noch recht gut, wie Caras Strafer Kahlan dieselben Schmerzen hatte erleiden lassen wie Nicci. Wenn die drei Nicci verletzten, würde Kahlan ebenfalls darunter leiden. Bei der Vorstellung brach ihm der kalte Schweiß aus vor Sorge.

Während der Versammlung des Arbeiterkollektivs hockten Richard und Nicci auf Bänken im rückwärtigen Teil eines verrauchten Saales, während sich weiter vorne irgendwelche Leute über den Ruhm des Ordens ausließen, und wie dieser allen Menschen zu einem sittsamen Leben verhalf. Richards Gedanken wanderten zu dem kleinen Bach hinter der Hütte, die er gebaut hatte, zu den sonnendurchfluteten Nachmittagen, an denen er Kahlan dabei zugesehen hatte, wie sie ihre Füße im Wasser baumeln ließ. Er verging fast vor Sehnsucht, als er in Gedanken den Schwung ihrer Beine vor sich sah. Die Vorträge handelten von der Pflicht eines jeden Arbeiters gegenüber seinem Mitmenschen. Viele dieser Abhandlungen wurden in leierndem, monotonem Tonfall vorgetragen; sie waren bereits so oft wiederholt worden, dass den Worten jegliche Bedeutung abhanden gekommen war und allein noch die Tatsache zählte, dass man sie überhaupt herunterleierte. Richard musste an Kahlans Lachen denken, als er die Fische fing, die er für sie in die Gläser gesetzt hatte. Viele der Anwesenden, die Leiter der Kollektive sowie die Sprecher der Stadt, trugen voller Inbrunst und Leidenschaft ihr Lob über die Methoden des Ordens vor. Ein paar der Anwesenden erhoben sich und brachten die zur Sprache, die nicht anwesend waren, gaben ihre Namen an und beklagten sich darüber, welch bedauernswerte Einstellung sie gegenüber ihren Arbeiterkameraden hätten; Getuschel ging durch die Menge.

Nach den Reden erhoben sich einige der Arbeiterfrauen und erklärten, in letzter Zeit hätten sie zusätzlichen Bedarf, da sie gerade ein Kind bekommen hätten, ihre Männer ans Bett gefesselt oder aber die Angehörigen, die sie versorgten, krank seien. Nach jeder Wortmeldung wurde per Handzeichen abgestimmt. Wenn man sich korrekt verhalten und ihnen durch die Gruppe helfen lassen wollte, hob man seine Hand.

Wer seine Hand nicht hob, wurde namentlich notiert. Ishaq hatte Richard erklärt, wenn man anderer Meinung war, sei es durchaus gestattet, seine Hand nicht zu heben, mache man das aber zu oft, werde man auf eine Beobachtungsliste gesetzt. Richard wusste nicht, was eine Beobachtungsliste war, allerdings war das unschwer zu erraten; außerdem hatte Ishaq Richard erklärt, er solle zusehen, dass er nicht auf einer landete und darauf achten, dass er seine Hand meistens hob.

Richard hob sie jedes einzelne Mal. Im Grunde war es ihm egal, was passierte. Er hatte kein Interesse, sich an irgendetwas zu beteiligen, kein Interesse, die Dinge zum Besseren zu wenden, und er interessierte sich nicht dafür, wie gut oder schlecht es anderen erging. Die meisten schienen zu wollen, dass der Orden mit seinen Annehmlichkeiten ihr Leben regelte und ihnen die Mühe abnahm, selbst nachzudenken. Ganz so wie in Anderith. Nicci schien überrascht und gelegentlich sogar enttäuscht zu sein, seine Hand jedes Mal hochgehen zu sehen, brachte aber weder Einwände vor, noch stellte sie Fragen.

Er merkte es kaum noch, wenn er seine Hand hob. Innerlich musste er lächeln, als er sich an Kahlans Gesichtsausdruck und das Staunen in ihren grünen Augen erinnerte, als sie zum ersten Mal Seele erblickt hatte. Richard hätte ihr einen ganzen Berg geschnitzt, nur um noch einmal zu erleben, wie ihr beim Anblick von etwas, das sie bewunderte, dem sie zugetan war und das sie schätzte, vor Freude die Tränen kamen.

Mittlerweile hatte ein anderer Mann das Wort ergriffen und beklagte sich über ungerechte Arbeitsbedingungen, dass er gezwungen gewesen sei, zu kündigen, weil er sich nicht den Misshandlungen durch das Fuhrunternehmen habe aussetzen wollen. Es war der Mann, der die Arbeit hingeschmissen und Richard mit der Fuhre allein gelassen hatte. Richard hob zusammen mit allen anderen die Hand, um dem Mann als Entschädigung sechs Monate vollen Lohnausgleich zu bewilligen.

Nachdem die Abstimmung erfolgt war und sämtliche Verpflichtungen unter einigem Getuschel und dem Geräusch kratzender Federn auf Papier zusammengerechnet wurden, bekamen die gesunden Arbeitskräfte ihren gerechten Anteil zugesprochen, mit dem sie die Bedürftigen unterstützen durften. Wer arbeitsfähig war, so hatte man Richard mitgeteilt, war verpflichtet, nach besten Kräften Gewinn zu erwirtschaften, um denen helfen zu können, die dazu nicht in der Lage waren.

Sobald die Namen der Männer aufgerufen wurden, erhoben diese sich, um zu erfahren, welchen Anteil man ihnen von ihrem nächsten Wochenlohn abziehen würde. Da er neu war, wurde Richards Namen zuletzt aufgerufen. Er stand auf und sah gedankenverloren quer durch den schlecht beleuchteten Saal zu den Leuten in den mottenzerfressenen Jacken hinüber, die hinter einem langen, aus zwei alten Türen errichteten Tisch saßen. An einem Ende saß Ishaq, der den anderen bei jeder Abstimmung beipflichtete. Mehrere Frauen steckten noch immer die Köpfe zusammen. Als sie fertig waren, flüsterten sie dem Vorsitzenden etwas zu, woraufhin dieser nickte.

»Richard Cypher, da du sozusagen neu bei uns bist, hast du, was deine Pflichten gegenüber dem Arbeiterkollektiv anbelangt, noch einiges nachzuholen. Dein nächster Wochenlohn wird demzufolge vollständig als Hilfszahlung einbehalten.«

Einen Augenblick lang stand Richard wie benommen da. »Und wovon soll ich essen – oder meine Miete bezahlen?«

Menschen im Saal wandten sich herum und warfen ihm missbilligende Blicke zu. Der Vorsitzende ließ seine flache Hand auf den Tisch niederkrachen und bat sich Ruhe aus.

»Du solltest deinem Schöpfer dafür danken, dass du mit guter Gesundheit gesegnet bist und arbeiten kannst, junger Mann. Jetzt, in diesem Augenblick, gibt es Menschen, die nicht so viel Glück im Leben haben wie du, die bedürftiger sind als du. Leiden und Not gehen vor persönlicher Bereicherung.«

Richard seufzte. Was spielte es im Grunde für eine Rolle? Schließlich hatte er Glück im Leben.

»Jawohl, Sir. Ich verstehe, was Ihr meint. Ich werde den Bedürftigen mit Freuden meinen Anteil zur Verfügung stellen.«

Wenn nur Nicci nicht ihr ganzes Geld weggegeben hätte.

»Nun«, sagte er zu Nicci, als sie in die Nacht hinausschlenderten. »Ich schätze, wir können den Wirt bitten, uns den Mietzins zurückzugeben und bleiben, wo wir zuvor gewohnt haben, bis ich etwas mehr arbeiten und ein wenig Geld zurücklegen kann.«

»Mietzins wird niemals zurückerstattet«, sagte sie. »Der Wirt wird Verständnis für unsere Notlage haben und unsere Schulden auflaufen lassen, bis wir mit der Rückzahlung beginnen können. Du wirst bei der nächsten Versammlung einfach bei der Prüfungskommission vorstellig werden und deine Notlage erklären müssen. Wenn du sie in angemessener Form darlegst, wird man dir Mittel aus dem Barmherzigkeitsfonds bewilligen, damit du deine Miete zahlen kannst.«

Richard war erschöpft. Er kam sich vor wie in einem albernen, idiotischen Traum.

»Barmherzigkeit? Das ist mein Lohn – für die Arbeit, die ich geleistet habe?«

»Das ist eine eigensüchtige Betrachtungsweise, Richard. Die Arbeit wurde dir von Gnaden des Arbeiterkollektivs, der Gesellschaft und des Ordens überlassen.«

Er war zu müde, um zu widersprechen. Außerdem erwartete er ohnehin keine Gerechtigkeit bei irgendetwas, das im Namen des Ordens geschah. Er wollte einfach in ihr neues Zimmer gehen und ein wenig schlafen.


Als sie die Tür aufmachten, war einer der drei jungen Burschen gerade damit beschäftigt, Niccis Rucksack zu durchwühlen. Ein paar ihrer Wäschestücke in seiner Hand haltend, schaute er einfältig grinsend über seine Schulter zu ihnen hinüber.

»Sieh mal einer an«, meinte er, sich aufrichtend. Er trug noch immer kein Hemd. »Es scheint, die beiden nassen Ratten haben ein Loch gefunden, in dem sie hausen können.« Sein lüsterner Blick glitt zu Nicci, und es war nicht ihr Gesicht, das ihn interessierte.

Nicci riss ihm erst den Rucksack aus der einen, dann ihre Wäsche aus der anderen Hand. Während er ihr die ganze Zeit grinsend dabei zusah, stopfte sie ihre persönlichen Wäschestücke zurück in den Rucksack. Richard befürchtete, sie könnte ihre Verbindung zu Kahlan aufgeben, um von ihrer Kraft Gebrauch zu machen, doch sie funkelte den Burschen nur wütend an.

Im Zimmer stank es nach Schimmel. Die niedrige Decke gab Richard das Gefühl, bedrohlich eingezwängt zu sein. Früher schien die Decke wohl einmal weiß getüncht gewesen zu sein, jetzt jedoch war sie von Kerzenund Lampenruß schwarz, was dem Zimmer etwas Höhlenähnliches verlieh. Eine auf einer rostigen Wandhalterung stehende Kerze war die einzige Lichtquelle. In einer Ecke vor den schmutzigen, mit Fliegendreck übersäten Wänden stand schräg ein Kleiderschrank. Dem Kleiderschrank fehlte eine Tür. Zwei Holzschemel vor einem unter dem einen winzigen Fenster in der gegenüberliegenden Wand stehenden Tisch waren die einzige Sitzmöglichkeit, wenn man nicht mit dem verzogenen und durchhängenden Fußboden aus Fichtenplanken vorlieb nehmen wollte. Eine Vielzahl von Anstrichen in den unterschiedlichsten Farben hatte die kleinen Fensterglasquadrate undurchsichtig gemacht. Durch ein winziges Dreieck, wo das Glas herausgebrochen war, konnte Richard die graue Mauer des gegenüberliegenden Gebäudes erkennen.

»Wie bist du hier reingekommen?«, fuhr Nicci ihn barsch an.

»Mit dem Hauptschlüssel.« Er wedelte damit hin und her, wie mit einem Pass des Königs. »Mein Vater ist hier der Wirt, müsst ihr wissen. Ich habe eure Sachen bloß nach umstürzlerischen Schriften durchsucht.«

»Du kannst tatsächlich lesen?«, meinte sie spöttisch. »Das müsste ich hören und sehen, um es zu glauben.«

Das trotzige Grinsen geriet keinen Augenblick ins Wanken. »Wir würden es gar nicht gerne sehen, wenn wir Umstürzler unter unserem Dach wohnen hätten. Sie könnten alle anderen in Gefahr bringen. Mein Vater ist verpflichtet, alle verdächtigen Umtriebe sofort zu melden.«

Richard trat beiseite, um den jungen Mann auf seinem Weg zur Tür vorbeizulassen, doch als der Bursche die Kerze aufnahm, hielt er ihn am Arm fest.

»Die Kerze gehört uns«, sagte Richard.

»Ach ja? Und wie kommst du auf die Idee?« Richard schloss seinen Griff fester um den nackten, hageren, aber muskulösen Arm. Ihm in die Augen sehend, deutete er auf die Kerze.

»Auf der Unterseite sind unsere Initialen eingeritzt, dort.«

Instinktiv, ohne nachzudenken, drehte der junge Kerl die Kerze herum, um nachzusehen. Das heiße Wachs lief über seine Hand, woraufhin er die Kerze mit einem Aufschrei fallen ließ.

»Oje, das tut mir Leid«, meinte Richard. Er bückte sich und hob die Kerze auf. »Ich hoffe doch, du bist nicht verletzt. Du hast doch nichts von dem heißen Wachs in die Augen bekommen, oder? Heißes Wachs in den Augen ist äußerst schmerzhaft.«

»Ach ja?« Er wischte sich sein glattes, schwarzes Haar aus dem Gesicht. »Und woher willst du das wissen?«

»Da, wo ich herkomme, habe ich gesehen, wie einem armen Teufel so etwas passierte.«

Richard beugte seinen Oberkörper hinaus in den Flur und in den Schein eines anderen, auf einem Sims stehenden Wachslichts und tat, als ritze er mit dem Daumennagel ein R und ein C in die Unterseite der Kerze. »Siehst du, hier: meine Initialen.«

Der Junge sah nicht einmal hin. »Schon gut.«

Er wankte zur Tür hinaus. Richard begleitete ihn und entzündete ihre Kerze an der Flamme der im Flur brennenden. Bevor er sich entfernte, drehte sich der junge Kerl noch einmal um, einen überheblichen Ausdruck im Gesicht.

»Wie kann man nur so blöde sein, heißes Wachs in die Augen zu bekommen? War das auch so ein stumpfsinniger Ochse wie du?«

»Nein«, meinte Richard ganz beiläufig. »Ganz im Gegenteil. Er war ein dreister, ziemlich hochnäsiger Bursche, der den Fehler beging, die Ehefrau eines anderen anzufassen. Der Ehemann war es, der ihm das heiße Wachs in die Augen träufelte.«

»Ach ja? Und wieso hat der dämliche Trottel nicht einfach die Augen zugemacht?«

Zum ersten Mal bekam Richards Lächeln, als er den jungen Mann ansah, etwas Tödliches.

»Weil man ihm zuvor die Lider abgeschnitten hatte, damit er sie nicht schließen konnte. Siehst du, da, wo ich herkomme, kann einer, der eine Frau gegen ihren Willen anfasst, nicht auf Nachsicht rechnen.«

»Hört, hört.«

»Ja. Die Lider waren übrigens nicht das Einzige, was man dem jungen Mann abgeschnitten hat.«

Der junge Bursche wischte sich abermals das Haar aus dem Gesicht. »Willst du mir etwa drohen, du Ochse?«

»Nein. Nichts, was ich tun kann, könnte dir mehr schaden als das, was du dir schon lange selber antust.«

»Was soll denn das jetzt heißen?«

»Aus dir wird nie etwas werden, du wirst immer der wertlose Dreck bleiben, den andere sich von ihren Schuhen kratzen. Man hat nur ein einziges Leben, und du bist auf dem besten Wege, deines zu vergeuden. Das ist eine entsetzliche Schande. Ich bezweifele, ob du jemals erleben wirst, was es heißt, wirklich glücklich zu sein, jemals etwas von Bedeutung zu Stande zu bringen, jemals aufrichtig stolz auf dich zu sein. All das brockst du dir selber ein, etwas Schlimmeres könnte ich dir unmöglich antun.«

»Ich kann nicht ändern, was das Leben für mich bereit hält.«

»Doch, das kannst du. Jeder schafft sich sein eigenes Leben.«

»So? Wie kommst du denn auf die Idee?«

Richard deutete um sich. »Schau dir doch den Schweinestall an, in dem du haust. Dein Vater ist der Hauswirt. Wieso beweist du nicht ein bisschen Stolz und bringst das Haus in Ordnung?«

»Er ist der Hauswirt, nicht der Eigentümer. Der Mann, dem es gehörte, war ein geldgieriger Bastard, der mehr Miete haben wollte, als viele sich leisten konnten. Der Orden hat das Haus übernommen, und der Besitzer wurde wegen seiner Verbrechen an den Menschen zu Tode gefoltert. Meinem Vater hat man anschließend den Posten des Wirts übertragen. Wir verwalten diese Bruchbude nur, um armen Narren wie dir zu helfen, die kein Dach über dem Kopf haben; wir haben kein Geld, um das ganze Gebäude hier auf Vordermann zu bringen.«

»Geld?« Richard zeigte auf die Tür. »Braucht man etwa Geld, um den Müll fortzuräumen, den jemand im Flur liegen gelassen hat?«

»Ich habe ihn nicht dort hingeschmissen.«

»Und diese Wände – es kostet kein Geld, die Wände abzuwaschen. Sieh dir diese Zimmerdecke an; sie ist seit mindestens einem Jahrzehnt nicht mehr abgewaschen worden.«

»Ich bin keine Putzfrau, verdammt.«

»Und was ist mit der Treppe vor der Eingangstür? Irgendjemand wird sich noch den Hals auf ihr brechen, vielleicht du oder dein Vater. Warum tust du nicht zur Abwechslung einmal etwas Sinnvolles und reparierst sie?«

»Hab ich doch schon gesagt, wir haben kein Geld für Reparaturen.«

»Dazu braucht man kein Geld. Du brauchst sie bloß auseinanderzunehmen, die Verbindungen zu säubern, und ein paar neue Winkel einzusetzen. Die kann man aus irgendeinem Stück Holzabfall sägen, der hier überall rumliegt.«

Der junge Bursche wischte sich die Hände an seiner Hose ab. »Wenn du so schlau bist, wieso reparierst du dann nicht die Treppe?«

»Gute Idee. Das werde ich auch tun.«

»Ach?« Sein höhnisches Grinsen kehrte zurück. »Ich glaube dir kein Wort.«

»Morgen, wenn ich von der Arbeit nach Hause komme, werde ich die Treppe reparieren. Wenn du kommst, zeige ich dir, wie man das macht.«

»Vielleicht komme ich bloß, um zu sehen, wie irgendein Trottel sich die Mühe macht, etwas zu reparieren, das nicht einmal ihm gehört, und das auch noch umsonst.«

»Ich mache das nicht umsonst. Ich mache es, weil auch ich die Treppe benutze, und weil ich mich an dem Ort, wo ich wohne, wohlfühlen möchte. Mir ist es nicht egal, ob meine Frau hinfällt und sich ein Bein bricht. Aber falls du kommst, um zu lernen, wie man eine Treppe repariert, wirst du dir aus Achtung vor den Frauen im Haus ein Hemd anziehen.«

»Und wenn ich dir zusehen komme und nicht wie ein alter Mummelgreis ein dämliches Hemd anhabe?«

»In diesem Fall hätte ich nicht genug Achtung vor dir, um dir zu zeigen, wie man die Treppe repariert, und du würdest nichts lernen.«

»Und wenn ich gar nichts lernen will?«

»Dann hätte ich stattdessen etwas über dich gelernt.«

Er verdrehte seine dunklen Augen. »Wieso sollte es mich interessieren zu lernen, wie man irgendeine blöde Treppe repariert?«

»Du musst dich nicht unbedingt dafür interessieren, wie man eine Treppe repariert, aber wenn du dir selbst nicht völlig gleichgültig bist, solltest du daran interessiert sein, etwas zu lernen – auch wenn es ganz einfache Dinge sind. Man entwickelt nur dann ein Gefühl des Stolzes, wenn man etwas vollbringt, und sei es nur die Reparatur einer alten Treppe.«

»Ach ja? Ich bin auch so stolz auf mich.«

»Du schüchterst Menschen ein und verwechselst deren Reaktion mit Respekt. Andere Menschen können dir keine Selbstachtung geben, nicht einmal andere Menschen, denen du etwas bedeutest. Alles, was du im Augenblick kannst, ist rumstehen und ein dummes Gesicht machen.«

Er verschränkte die Arme. »Willst du etwa behaupten, ich bin…«

Richard stieß dem jungen Burschen einen Finger gegen die Brust und drängte ihn einen Schritt zurück. »Du hast nur ein Leben. Ist das alles, was du dir davon erhoffst – herumstehen und Leute beschimpfen und ihnen mit deiner Bande Angst einjagen? Mehr erhoffst du dir nicht von dem einzigen Leben, das du hast?

Jeder, der sich ein wenig mehr von seinem Leben erhofft, der seinem Leben einen Sinn geben möchte, hätte Interesse daran, etwas zu lernen. Morgen werde ich diese Treppe reparieren. Morgen werden wir sehen, aus welchem Holz du geschnitzt bist.«

Der junge Bursche verschränkte abermals die Arme und nahm eine trotzige Haltung an. »Ach ja? Vielleicht möchte ich meine Zeit ja lieber mit meinen Kumpels verbringen.«

Richard zuckte mit den Achseln. »Genau das ist der Grund, weshalb dein Los im Leben nichts mit Schicksal zu tun hat. Auf einen großen Teil meines Lebens habe ich keinen Einfluss, aber die Entscheidungen, die ich treffen kann, treffe ich sinnvollerweise in meinem besten Interesse. Ich habe mich entschieden, diese Treppe zu reparieren und den Ort, an dem ich lebe, ein wenig lebenswerter zu gestalten – statt nur herumzujammern und darauf zu warten, dass ein anderer etwas für mich tut. Ich bin stolz darauf, zu wissen, dass ich das selber in die Hand nehmen kann.

Die Reparatur einer Treppe macht aus dir noch keinen Mann, aber sie wird dir ein wenig mehr Selbstvertrauen geben. Wenn du magst, bring deine Freunde mit, dann bringe ich euch allen bei, wie man die Messer, die ihr da habt, zu etwas Sinnvollerem benutzt, als damit Leuten vor dem Gesicht herumzufuchteln.«

»Vielleicht kommen wir, um dich beim Arbeiten auszulachen, Ochse.«

»Schön. Aber falls du und deine Kumpels etwas Sinnvolles lernen wollt, dann solltet ihr damit beginnen, dass ihr mir euren Lernwillen beweist, und zwar indem ihr Respekt zeigt und mit Hemden erscheint. Wenn ihr es nicht von Anfang an richtig macht, werden eure Entscheidungsmöglichkeiten im weiteren Verlauf immer eingeschränkter werden. Im Übrigen lautet mein Name Richard.«

»Wie schon gesagt, vielleicht kriegen wir bei dir ja wenigstens was zu lachen.« Er verzog das Gesicht. »Richard.«

»Lach, so viel du willst. Ich kenne meinen Wert und brauche ihn niemandem zu beweisen, der seinen eigenen nicht kennt. Du weißt, was du zu tun hast, wenn du etwas lernen willst. Solltest du aber mir – oder, noch schlimmer, meiner Frau – noch ein einziges Mal mit dem Messer drohen, wird das der letzte der vielen Fehler in deinem Leben sein.«

Der Bursche beschloss, die Drohung durch gesteigertes Maulheldentum zu überspielen. »Was soll bloß aus mir werden? Irgend so ein Gimpel wie du vielleicht, der sich für diesen geldgierigen Ishaq und seine Transportfirma bucklig schuftet?«

»Wie heißt du?«

»Kamil.«

»Also schön, Kamil, ich arbeite als Gegenleistung für einen Lohn, um mich und meine Frau zu ernähren. Ich besitze etwas sehr Wertvolles – mich selbst; und offenbar schätzt jemand meinen Wert so hoch ein, dass er bereit ist, mich für meine Zeit und meine Fähigkeiten zu bezahlen. Im Augenblick gehört der Entschluss, mir mit dem Beladen von Wagen meinen Unterhalt zu verdienen, zu den wenigen Entscheidungen, die ich in meinem Leben fällen kann.« Richards Blick verengte sich. »Und überhaupt, was hat Ishaq eigentlich damit zu tun?«

»Ishaq? Ihm gehört das Fuhrunternehmen.«

»Ishaq ist dort nur Lademeister.«

»Früher wohnte Ishaq hier, damals, bevor der Orden das Gebäude übernahm. Mein Vater war mit ihm befreundet. Um genau zu sein, ihr schlaft in seinem Wohnzimmer. Damals war das noch sein Fuhrunternehmen. Allerdings hat er, vor die Wahl gestellt, den Pfad der Erleuchtung seiner Geldgier vorgezogen. Er hat sich vom bürgerlichen Arbeiterkollektiv darin unterweisen lassen, wie man ein besserer Bürger wird, und gelernt, wo sein Platz unter dem Schöpfer ist. Mittlerweile weiß er, dass er nicht besser ist als irgendeiner von uns – mich eingeschlossen.«

Richard schaute kurz hinüber zu Nicci, die mitten im Zimmer stehend das Gespräch verfolgte, er hatte sie vollkommen vergessen. Ihm war nicht länger nach vielem Reden zumute, deshalb sagte er kurzerhand: »Also dann bis morgen Abend, ob du nun kommst, um dich zu amüsieren oder um zu lernen. Es ist dein Leben, Kamil, die Entscheidung liegt ganz bei dir.«

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