55

Mit Kamil an ihrer Seite stieg Nicci das Dutzend Stufen zur Kaserne der Stadtwache hinauf. Es war eine mächtige Festung, deren hohe Mauern sich den gesamten Block entlang erstreckten. Nicci hatte Kamil nicht bitten müssen, sie zu begleiten; sie bezweifelte, dass etwas Geringeres als der Tod ihn davon hätte abhalten können. Sie vermochte wirklich nicht genau zu enträtseln, wie es Richard gelang, Menschen zu derartigen Reaktionen zu veranlassen.

Bei ihrem Aufbruch hatte sich Nicci in einem Zustand schockierter Aufgebrachtheit befunden, trotzdem war ihr nicht entgangen, dass die Menschen im ganzen Haus angespannt und auf der Hut zu sein schienen. Starre Gesichter in den Fenstern hatten ihnen nachgeschaut, als sie und Kamil aus dem Haus und die Straße hinuntergestürzt waren. Alle hatten hart und finster ausgesehen.

Was war es nur, das die Menschen dazu brachte, so viel Zuneigung für diesen einen Mann zu empfinden?

Was war es, das sie so besorgt machte?

Im Inneren der völlig verdreckten Kaserne herrschte drangvolle Enge. Hohlwangige, unrasierte alte Männer standen verstört herum, den starren Blick ins Leere gerichtet. Pausbäckige Frauen mit einem Tuch um den Kopf weinten still vor sich hin, während schreiende Kinder sich an ihre Röcke klammerten. Andere Frauen standen einfach mit ausdrucksloser Miene da, so als warteten sie darauf, Brot oder Hirse einzukaufen. Ein kleines, nur mit einem Hemdchen bekleidetes und von der Hüfte an abwärts nacktes Kind stand einsam und verlassen da, hielt sich die winzigen Fäustchen vor den Mund und brüllte.

Der Raum strahlte die Atmosphäre einer Totenwache aus.

Gardisten der Stadtwache, meist groß gewachsene junge Männer mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, zwängten sich auf ihrem Weg in düstere, von ihren Kameraden bewachte Flure durch das Gedränge. Eine niedrige, schlampig errichtete Trennwand hielt die Masse der Menschen zurück und beschränkte das tumultartige Chaos auf die eine Hälfte des Raumes. Jenseits der niedrigen Trennwand standen weitere Gardisten der Stadtwache, ganz zwanglos miteinander plaudernd. Andere trugen Berichte zu Männern an einem primitiven Tisch, scherzten oder empfingen im Vorübergehen Befehle.

Nicci schob sich mitten durch die Menge und bahnte sich gewaltsam einen Weg bis vor die niedrige Trennwand, wo eng aneinander gedrängt kauernde Frauen darauf hofften, aufgerufen zu werden, darauf hofften, etwas zu erfahren, oder sich gar auf die Fürsprache des Schöpfers selbst Hoffnungen machten. Was sie sich stattdessen an die derben Planken der Trennwand gepresst einfingen, waren Splitter.

Nicci hielt einen vorübergehenden Gardisten am Ärmel fest. Er blieb mitten im Schritt stehen. Sein wütend funkelnder Blick wanderte von ihrer Hand bis hoch zu ihren Augen. Sie ermahnte sich, dass sie nicht über ihre Kraft verfügte, und ließ den Ärmel wieder los.

»Dürfte ich bitte erfahren, wer hier das Sagen hat?«

Er musterte sie von Kopf bis Fuß, eine Frau, die seiner Einschätzung nach offenbar bald ohne Ehemann und daher Freiwild sein würde. Sein Gesicht verzog sich zu einem affektierten Grinsen. Er gestikulierte.

»Dort drüben, am Tisch. Volksprotektor Muksin.«

Der ältliche Mann hatte sich hinter seinen höchst wichtigen Papierstapeln verschanzt. Sein umfangreicher Körper unter dem bis auf die Brust reichenden Kinn schien in der sommerlichen Hitze dahinzuschmelzen. Das weite weiße Hemd wies dunkle Schweißringe auf und trug mit seinem Gestank zum üblen Mief in dem stickigen Raum bei.

Gardisten beugten sich vor, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern, während sein stumpfer Blick ruhelos umherwanderte. Andere rechts und links von ihm am Tisch waren entweder in emsiger Geschäftigkeit mit ihren eigenen Stapeln von Papieren befasst, unterhielten sich miteinander oder beschäftigten sich mit dem Strom der anderen Beamten und Gardisten, die in dem Raum ein und aus gingen.

Protektor Muksin, dessen glänzende Schädeldecke ungefähr so unauffällig war wie eine alternde, unter ein paar Grashalmen schlummernde Schildkröte, behielt den Raum im Auge. Seine dunklen, nie zur Ruhe kommenden Augen wanderten über die Gardisten, die Beamten und das Geschiebe der Menschenmenge hinweg. Als sie Niccis Gesicht streiften, verrieten sie nicht mehr Interesse als bei irgendeinem der anderen Anwesenden. Sie alle waren Bürger der Imperialen Ordnung, identisch und austauschbar, und jeder Einzelne an und für sich bedeutungslos.

»Könnte ich ihn vielleicht sprechen?«, bat Nicci. »Es ist sehr wichtig.«

Das lüsterne Feixen des Gardisten schlug um in Spott. »Davon bin ich überzeugt.« Lässig deutete er mit dem Finger auf die dicht gedrängte Menschenmenge neben ihnen. »Stell dich hinten an und warte, bis du an der Reihe bist.«

Nicci und Kamil blieb nichts anderes übrig, als zu warten. Nicci waren diese niedrigen Chargen vertraut genug, um zu wissen, dass es wenig Sinn hatte, eine Szene zu machen. Sie lebten geradezu für die Augenblicke, wenn jemand eine Szene machte, also lehnte sie sich mit der Schulter an die verputzte, von den fettigen Flecken unzähliger anderer Schultern übersäte Wand. Kamil nahm seinen Platz hinter ihr ein.

Die Schlange kam nicht voran, weil die Beamten niemanden empfingen. Nicci wusste nicht, ob nur zu bestimmten Zeiten Bürger vorgelassen wurden. Sie hatten keine andere Wahl, als ihren Platz in der Schlange zu behaupten. Der Vormittag schleppte sich dahin, ohne dass sich in der Schlange vor ihr irgendwas bewegte. Hinter ihnen nahm das Geschiebe immer mehr zu.

»Kamil«, sagte sie mit leiser Stimme mehrere Stunden später, »du brauchst nicht mit mir zu warten. Geh wieder nach Hause.«

Seine Augen waren rot und geschwollen. »Ich will aber warten.« Er klang überraschend misstrauisch. »Ich mache mir Sorgen um Richard«, fügte er mit leicht vorwurfsvollem Unterton hinzu.

»Ich mache mir auch Sorgen um ihn. Was meinst du wohl, warum ich hier bin?«

»Ich bin Euch bloß holen gekommen, weil ich solche Angst um Richard hatte und nicht wusste, was ich sonst hätte tun sollen. Alle anderen waren fort, entweder bei der Arbeit oder um Brot zu kaufen.« Kamil wandte sich ab und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. »Ich glaube nicht, dass Ihr Euch um ihn sorgt, aber ich wusste nicht, was ich sonst hätte tun sollen.«

Nicci strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus dem Gesicht. »Du kannst mich nicht leiden, stimmt’s?«

Er sah sie noch immer nicht an. »Nein.«

»Dürfte ich vielleicht erfahren, warum?«

Kamil blickte sich rasch verstohlen um, um zu sehen, ob jemand sie belauschte, doch jeder schien mit seinen eigenen Problemen beschäftigt.

»Ihr seid Richards Frau, und trotzdem hintergeht Ihr ihn. Ihr habt Gadi mit auf Euer Zimmer genommen. Ihr seid eine Hure.«

Seine Worte ließen Nicci überrascht blinzeln. Kamil sah sich abermals um, bevor er weiterredete.

»Uns allen ist schleierhaft, warum ein Mann wie Richard sich mit Euch abgibt. Alle Frauen ohne Ehemann in unserem Haus und auch im Haus nebenan haben mir gesagt, sie wären gerne seine Ehefrau und würden ihr Lebtag nicht mit einem anderen ins Bett gehen. Sie alle meinten, sie verstehen nicht, wie Ihr das Richard antun könnt. Alle waren traurig wegen ihm, aber als wir ihm das sagen wollten, wollte er nichts davon hören.«

Nicci wandte sich ab. Die Schande, einem jungen Mann ins Gesicht zu sehen, der sie soeben übel beschimpft hatte, und das auch noch zu Recht, war für sie auf einmal unerträglich geworden.

»Du verstehst doch gar nicht, wie das damals war«, erwiderte sie leise.

Sie sah Kamil aus den Augenwinkeln mit den Achseln zucken. »Da habt Ihr allerdings Recht. Ich verstehe es nicht. Ich verstehe nicht, wie eine Frau einem Ehemann wie Richard etwas so Schlimmes antun kann, einem Mann, der schwer arbeitet und gut für Euch sorgt. Um so etwas zu tun, müsst Ihr eine schlechte Frau sein, die sich kein bisschen um ihren Ehemann schert.«

Sie spürte, wie sich Tränen unter den Schweiß auf ihrem Gesicht mischten. »Ich bin Richard mehr zugetan, als du jemals begreifen wirst.«

Er antwortete nicht. Sie wandte sich um und sah ihn an. Sachte federnd drückte er sich ein ums andere Mal von der Wand ab. Offenbar schämte er sich zu sehr für sie, oder aber er war zu wütend auf sie, um ihr in die Augen zu blicken.

»Kamil, erinnerst du dich noch, wie wir in das Zimmer in deinem Haus eingezogen sind?«

Er nickte, noch immer, ohne sie anzusehen.

»Weißt du noch, wie grausam du und Nabbi zu Richard gewesen seid, all die gemeinen Dinge, die ihr zu ihm gesagt, all die kränkenden Schimpfworte, die ihr ihm nachgerufen habt? Und wie ihr ihn mit euren Messern bedroht habt?«

»Ich habe einen Fehler gemacht«, erwiderte er, und es klang, als meinte er es ernst.

»Kamil, auch ich habe einen Fehler begangen.« Sie machte sich nicht die Mühe, ihre Tränen zu verbergen – die Hälfte aller Frauen im Raum weinte. »Ich kann es dir nicht erklären, aber Richard und ich hatten Streit. Ich war wütend auf ihn und wollte ihn verletzen. Das war verkehrt; es war töricht, so etwas zu tun. Ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«

Schniefend tupfte sie ihre Nase mit einem kleinen Taschentuch ab. Kamil beobachtete sie aus den Augenwinkeln.

»Ich gebe zu, es war nicht dieselbe Art von Fehler wie damals von dir und Nabbi, als ihr euch bei eurer ersten Begegnung mit Richard so schlimm aufgeführt habt, aber ein Fehler war es trotzdem. Ich habe mich auch schlimm benommen.«

»Ihr wolltet gar nichts von Gadi?«

»Mir wird schlecht, wenn ich Gadi nur sehe. Ich habe ihn nur benutzt, weil ich wütend auf Richard war.«

»Und tut es Euch Leid?«

Niccis Kinn bebte. »Natürlich tut es mir Leid.«

»Ihr werdet nicht noch einmal wütend werden und es wieder tun? Mit einem anderen Mann?«

»Nein. Ich habe Richard gestanden, dass ich einen Fehler gemacht habe, dass es mir Leid tut und ich ihm so etwas nie wieder antun werde. Und das war mein voller Ernst.«

Kamil ließ sich das durch den Kopf gehen, während er beobachtete, wie eine Frau ein Kind am Arm rüttelte. Das Kind hörte nicht auf zu weinen, weil es auf den Arm genommen werden wollte. Sie flüsterte ihm etwas zu, woraufhin das Kind sich schmollend an ihr Bein schmiegte, aber wenigstens das Geheul einstellte.

»Wenn Richard Euch verzeihen kann, sollte ich auch nicht auf Euch wütend sein. Schließlich ist er Euer Mann. Das müsst Ihr beide unter Euch ausmachen, damit habe ich nichts zu tun.« Er berührte sie am Arm. »Ihr habt einen dummen Fehler gemacht, aber das ist jetzt vorbei. Weint nicht mehr deswegen, im Augenblick gibt es wichtigere Dinge.«

Nicci lächelte verheult und nickte.

Er gestattete sich ein kleines Schmunzeln. »Nabbi und ich haben Gadi erklärt, wir würden ihm seinen – wir würden ihm für das, was er Richard angetan hat, ein Messer in den Leib stoßen. Daraufhin zeigte Gadi uns sein Messer, damit wir ihn durchlassen. Der Bursche ist ganz vernarrt in das Ding, er hat schon früher Männer damit verletzt, und zwar ziemlich übel. Er meinte, wir sollten ihn durchlassen, damit er sich zur Armee melden kann; dort wollte er sein Messer benutzen, um den Feinden die Eingeweide aus dem Leib zu schneiden, damit er ein Kriegsheld wird und viele Frauen kriegt, die besser sind als Richards Ehefrau.«

»Ich werde ganz sicher nicht die einzige Frau sein, die es bedauert, jemals Gadis Bekanntschaft gemacht zu haben.«

Am späten Nachmittag begann Volksprotektor Muksin Leute zu empfangen. Niccis Rücken schmerzte, doch das war nichts, verglichen mit ihrer Angst um Richard. Die Leute wurden einer nach dem anderen von zwei Gardisten gepackt und dem Protektor Muksin vorgeführt.

Die Schlange bewegte sich jetzt ziemlich rasch vorwärts, weil der Protektor keine langen Diskussionen duldete. Äußerstenfalls schob er einige seiner Dokumente durcheinander, bevor er dem Bittsteller irgendeine Auskunft erteilte. Wegen all des Jammerns und Weinens im Raum bekam Nicci von alldem nichts mit.

Als sie an der Reihe war, stieß einer der Gardisten Kamil zurück. »Den Protektor darf immer nur ein Bürger sprechen.«

Nicci bedeutete ihm, zurückzubleiben und keine Szene zu machen. Die Gardisten packten je einen ihrer Arme und trugen sie mühelos zu der Stelle vor dem Platz des Protektors. Nicci war über eine dermaßen grobe Behandlung empört – so als wäre sie irgendeine beliebige, gewöhnliche Bürgerin.

Stets hatte sie sich einer gewissen, manchmal ausgesprochenen, manchmal unausgesprochenen Machtbefugnis erfreut, ohne jemals wirklich viel darüber nachzudenken. Sie hatte Richard zwingen wollen, zu erkennen, wie es sich als gewöhnlicher Arbeiter lebte, doch Richard schien geradezu aufzublühen.

Die beiden Gardisten blieben – für den Fall, dass sie Ärger machen sollte – unmittelbar rechts und links hinter ihr stehen; offenbar hatten sie das schon oft genug erlebt. Sie spürte, wie ihr das Blut ob dieser Behandlung ins Gesicht schoss.

»Protektor Muksin, mein Ehemann wurde…«

»Name.« Mit dem Blick seiner dunklen Augen zählte er die Leute, die noch in der Schlange warteten, zweifellos, um abzuschätzen, wie lange es noch bis zum Abendessen dauern würde.

»Richard.«

Er hob abrupt den Kopf. »Den vollen Namen.«

»Sein voller Name lautet Richard Cypher. Er wurde gestern Abend eingeliefert.«

Aus Angst, einer ernsthaften Beschuldigung zusätzliches Gewicht zu verleihen, vermied Nicci den Begriff ›verhaftet‹.

Suchend schob er seine Papiere hin und her, wobei er ganz offensichtlich nicht das geringste Interesse an den Tag legte, sie auch nur eines Blicks zu würdigen. Nicci empfand es als ein wenig verwirrend, dass der Mann sie nicht auf die berechnende Art anschaute, die allen Männern eigen war, wenn sie in Gedanken ihre Maße abschätzten und sich vorzustellen versuchten, was ihren Augen verborgen blieb – ganz so, als wüssten sie nicht, was sie taten. Die beiden Gardisten dagegen ließen ihre Blicke an der nicht minder verlockenden Rückseite ihres Kleides entlangwandern.

»Aha.« Protektor Muksin schwenkte ein Blatt Papier. »Ihr habt Glück.«

»Dann wurde er bereits freigelassen?«

Er sah auf, als wäre sie nicht ganz bei Trost. »Wir haben ihn hier; seine Name steht auf diesem Dokument. Es gibt eine Vielzahl von Orten, wohin die Leute verbracht werden. Kein Mensch kann von den Volksprotektoren erwarten, dass sie den Aufenthaltsort eines jedes Einzelnen von ihnen kennen.«

»Vielen Dank«, sagte Nicci, ohne recht zu wissen, wofür sie sich bei ihm bedankte. »Warum wird er festgehalten? Wie lautet die Anklage?«

Der Mann runzelte die Stirn. »Woher sollen wir wissen, wie die Anklage lautet, schließlich hat er noch nicht gestanden.«

Nicci wurde schwindelig; mehrere andere Frauen waren bereits während ihres jeweiligen Gesprächs mit dem Protektor in Ohnmacht gefallen. Die Hände der Gardisten an ihren Armen packten fester zu, und der Protektor wollte bereits die Hand zum Zeichen heben, man möge sie fortschaffen, als Nicci ihm zuvorkam und ihm, mit so ruhiger Stimme wie nur eben möglich, zuredete.

»Bitte, Protektor Muksin, mein Ehemann ist kein Unruhestifter. Er arbeitet von früh bis spät und verliert nie ein schlechtes Wort über jemanden. Er ist ein unbescholtener Mann, der immer tut, was man ihm sagt.«

Während sie beobachtete, wie ein Schweißtropfen über seine Wange rollte, schien er den Bruchteil einer Sekunde lang über etwas nachzudenken.

»Versteht er sich auf irgendein Handwerk?«

»Er ist ein guter Arbeiter, der dem Orden dient. Er belädt Wagen.«

Noch ehe sie ganz ausgesprochen hatte, wusste sie, dass ihre Antwort ein Fehler war. Die Hand ging hoch, zuckte kurz und scheuchte sie fort wie eine lästige Mücke. Mit einem mächtigen Ruck hoben die Gardisten sie von den Füßen und entfernten sie aus der Gegenwart dieses wichtigen Mannes.

»Aber mein Ehemann ist ein rechtschaffener Bürger! Ich flehe Euch an, Protektor Muksin, Richard war an keiner dieser Unruhen beteiligt! Er war zu Hause!«

Ihre Worte waren aufrichtig und größtenteils die gleichen wie die der Frauen vor ihr. Sie war außer sich, weil sie ihn nicht davon überzeugen konnte, dass sie anders war – und Richard ebenfalls. Die anderen, das wusste sie jetzt, hatten alle dasselbe versucht.

Kamil lief den Gardisten hinterher, als sie sie durch einen kurzen, dunklen Flur zu einem Seitenausgang der Festung schleppten. Abendliches Licht stahl sich herein, als sie die Tür öffneten. Sie versetzten ihr einen Stoß, und Nicci stolperte die Stufen hinunter. Kamil wurde unmittelbar hinter ihr hinausgestoßen. Er landete mit dem Gesicht voran im Staub. Nicci ließ sich auf die Knie sinken, um ihm aufzuhelfen.

Kniend schaute sie hinauf zur Türöffnung. »Was ist mit meinem Ehemann?«, presste sie hervor.

»Du kannst an einem anderen Tag noch einmal wiederkommen«, meinte ein Gardist. »Sobald er gesteht, kann dir der Protektor sämtliche Anklagepunkte nennen.«

Nicci wusste, dass er niemals gestehen würde. Eher würde er sterben.

Doch das war, so weit es diese Männer anbelangte, kein Problem.

»Kann ich ihn sehen?« Nicci faltete flehend die Hände, während sie neben Kamil kniete. »Bitte, kann ich ihn wenigstens besuchen?«

Der eine Gardist raunte dem anderen etwas zu.

»Hast du Geld?«, fragte er sie.

»Nein«, entfuhr es ihr mit einem traurigen Schluchzer.

Sie machten Anstalten, ins Gebäude zurückzugehen.

»Wartet!«, rief Kamil.

Als sie daraufhin innehielten, rannte er die Stufen hinauf, schob sein Hosenbein hoch und zog einen Stiefel aus. Diesen drehte er herum, bis eine Silbermünze in seine Hand fiel, die er ohne großes Aufhebens dem Gardisten überreichte.

Der Mann machte ein unzufriedenes Gesicht, als er die Münze betrachtete. »Das ist nicht genug für einen Besuch.«

Als er sich daraufhin abwenden wollte, hielt Kamil den Mann am Handgelenk fest. »Zu Hause habe ich noch eine. Bitte, lasst sie mich holen gehen. Wenn ich renne, kann ich in einer Stunde wieder hier sein.«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Heute Abend nicht mehr. Die Besuchszeit für diejenigen, die die Gebühr entrichten können, ist übermorgen bei Sonnenuntergang. Aber es ist nur ein Besucher erlaubt.«

Kamil deutete auf Nicci. »Seine Ehefrau. Sie wird ihn besuchen.«

Der Gardist musterte Nicci feixend von Kopf bis Fuß, so als dächte er darüber nach, was sie sonst noch dafür bieten könnte, um ihren Mann zu sehen.

»Und bring ja das Geld mit.«

Die Tür fiel krachend ins Schloss.

Kamil rannte, Tränen in den Augen, die Stufen hinunter und ergriff ihren Arm. »Was sollen wir bloß tun? Sie werden ihn noch zwei weitere Tage dort behalten! Zwei Tage!«

Seine Panik drohte ihn zu ersticken. Er hatte es nicht ausgesprochen, trotzdem wusste sie, was er meinte. Dies bedeutete zwei weitere Tage, um ein Geständnis aus ihm herauszufoltern. Anschließend würden sie Richard im Himmel begraben.

Nicci packte den Arm des Jungen mit festem Griff und zog ihn fort. »Hör zu, Kamil. Richard ist stark. Ich bin sicher, er steht das durch. Er hat schon früher allerhand durchgemacht. Er ist stark, das weißt du doch?«

Nickend biss Kamil sich auf die Unterlippe und begann hemmungslos zu weinen; die Angst um seinen Freund hatte ihn wieder in ein kleines Kind verwandelt.


Nicci lag die ganze Nacht wach und starrte an die Decke. Am nächsten Tag stand sie für Brot an. Als sie dort inmitten all der anderen Frauen wartete, wurde ihr klar, dass sie den gleichen hohlwangigen Gesichtsausdruck haben musste wie sie.

Sie fühlte sich verwirrt und gelähmt und wusste nicht mehr, was sie noch tun sollte; alles schien auseinander zu brechen.

In jener Nacht schlief sie nur wenige Stunden; sie befand sich in einem Zustand ruheloser Sorge und zählte die Minuten bis zum Sonnenaufgang. Als es endlich so weit war, saß sie am Tisch, den Laib Brot, den sie Richard mitbringen würde, fest umklammert, und wartete darauf, dass der sich ewig dahinschleppende Tag verstrich. Die Nachbarin, Mrs. Sha’Rim, brachte Nicci eine Schale Kohlsuppe. Verständnisvoll lächelnd ließ sie Nicci nicht aus den Augen, bis sie die Suppe aufgegessen hatte. Nicci bedankte sich bei Mrs. Sha’Rim und sagte, die Suppe sei köstlich, dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, wie sie geschmeckt hatte.

Am frühen Nachmittag beschloss Nicci, vor der Festung zu warten, bis sie eingelassen wurde. Sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen; Kamil hockte auf der Treppe und erwartete sie bereits. Eine kleine Menschenmenge lief unruhig auf und ab.

Kamil sprang sofort auf. »Ich habe den Silbertaler dabei.«

Nicci hätte ihm am liebsten erklärt, dass er ihn nicht zu bezahlen brauchte, dass sie das übernehmen würde, doch sie hatte keinen Silbertaler; alles, was sie besaß, waren ein paar Silberpfennige.

»Danke, Kamil. Irgendwie werde ich das Geld auftreiben und es dir zurückzahlen.«

»Ich will es nicht wiederhaben; es ist doch für Richard. Es ist mein Entschluss, es für Richard zu tun. Das ist er mir wert.«

Nicci nickte. Sie wusste, sie konnte schwarz werden, bevor jemand ihr einen Pfennig schenkte, dabei hatte sie ihr ganzes Leben aufgeopfert, um anderen zu helfen. Ihre Mutter hatte ihr einmal erklärt, es sei falsch, auf Dank zu hoffen; sie sei diesen Menschen allein deshalb ihre Hilfe schuldig, weil sie dazu im Stande war.

Als Nicci die Stufen hinunterstieg, gingen Leute auf sie zu und wünschten ihr Glück. Sie baten sie, Richard auszurichten, er solle stark sein und auf keinen Fall nachgeben, und boten ihr an, sich an sie zu wenden, falls sie irgendetwas für sie tun konnten oder sie Geld benötigte.

Der wortlose Weg bis zur Gefängnisfestung war ein einziger Alptraum, denn sie fürchtete, herausfinden zu müssen, dass man ihn hingerichtet hatte, oder ihn zu sehen und zu wissen, dass er im Anschluss an sein Verhör eines langsamen, qualvollen Todes sterben würde. Nicci wusste nur zu gut, wie geschickt sich der Orden auf das Verhören von Personen verstand.

Am Seiteneingang warteten ein halbes Dutzend anderer Frauen sowie ein paar ältere Männer in der drückend heißen Sonne. Sämtliche Frauen hatten beutelweise Lebensmittel dabei. Niemand sprach. Auf allen lastete das Gewicht derselben Angst.

Nicci ließ die Tür nicht aus den Augen, bis die Sonne schließlich unterging. In der aufziehenden Dämmerung hängte ihr Kamil seinen Wasserschlauch über die Schulter.

»Wahrscheinlich möchte Richard zu seinem Brot einen Schluck trinken.«

»Danke«, erwiderte sie leise.

Die eisenbeschlagene Tür öffnete sich kreischend. Alles schaute hoch zu dem Gardisten, der in der Tür erschien und alle zu sich winkte. Er warf einen flüchtigen Blick auf ein Stück Papier. Als die erste Frau die Stufen hinaufhastete, hielt er sie an und fragte sie nach ihrem Namen. Sie nannte ihn, woraufhin er ihn mit seiner Liste verglich und sie passieren ließ. Die zweite Frau wies er ab; sich heftig beklagend rief sie, sie habe für den Besuch bezahlt, woraufhin er ihr mitteilte, ihr Mann habe das Verbrechen des Verrats gestanden und dürfe keinen Besuch bekommen.

Wimmernd brach sie unter den entsetzten Blicken der anderen zusammen, die das gleiche Schicksal fürchteten. Die nächste Frau gab ihren Namen an und wurde eingelassen, ihr folgte eine weitere. Der nächsten wurde mitgeteilt, ihr Mann sei verschieden.

Benommen machte Nicci Anstalten, die Stufen hinaufzusteigen. Kamil hielt sie am Arm fest und drückte ihr eine Münze in die Hand.

»Danke, Kamil.«

Er nickte. »Richtet Richard aus, ich hätte gesagt … Sagt ihm einfach, er soll wieder nach Hause kommen.«

»Richard Cypher«, antwortete sie dem Gardisten klopfenden Herzens.

Er schaute kurz auf das Papier, dann winkte er sie herein. »Dieser Mann hier wird dich zu ihm bringen.«

Ein Woge der Erleichterung durchflutete sie: Er lebte noch.

Im Innern des dunklen Korridors wartete ein anderer Soldat. Gebieterisch legte er den Kopf leicht schräg. »Folge mir.« Eine Laterne in jeder Hand, tauchte er in die Dunkelheit ein. Sie folgte ihm dicht auf den Fersen, als er über zwei lange, schmale Treppenfluchten in die feuchte, dunkle unterirdische Welt hinunterstieg.

In einer winzigen Kammer mit einer zischenden Fackel saß Volksprotektor Muksin schwitzend auf einer Bank und redete auf zwei Männer ein – untergeordnete Beamte, nach der Unterwürfigkeit zu urteilen, die sie gegenüber dem fetten Protektor an den Tag legten.

Nach einem kurzen Blick in die Papiere, die ihm der Gardist reichte, erhob sich der Protektor. »Ihr habt die Gebühr bei Euch?«

»Ja, Protektor Muksin.« Nicci gab ihm das Geld.

Nach einem kurzen prüfenden Blick ließ er das Silberstück in seine Tasche gleiten. »Die Strafen für bürgerlichen Ungehorsam sind überaus streng«, erklärte er gebieterisch, während seine düsteren Augen kurz innehielten, um zu sehen, wie sie darauf reagierte.

Nicci benetzte ihre Lippen; plötzlich hatte ihre Hoffnung Auftrieb bekommen. Mit dem Zahlen der Gebühr hatte sie die erste Hürde genommen; jetzt verlangte der geldgierige Bastard Geld für Richards Leben.

Nicci antwortete behutsam, aus Angst, sie könnte einen Fehler machen. »Wenn ich die Strafe wüsste, Protektor, könnte ich die Summe, glaube ich, zusammenbringen.«

Der Protektor betrachtete sie mit einem durchdringenden Blick, der ihr den Schweiß auf die Stirn treten ließ. »Ein Mann muss beweisen, dass er Reue empfindet. Die sicherste Methode, seine Reue über einen Bruch des Bürgerrechtes nachzuweisen, ist eine überaus empfindliche Geldstrafe; alles Geringere wäre lediglich ein Beweis für die Unaufrichtigkeit seiner Reumut. Übermorgen um dieselbe Tageszeit werden mir alle, die sich derartiger Übertretungen für schuldig bekannt haben und die jemanden haben, der für ihre Strafe aufkommen kann, zur Entscheidung vorgeführt werden.«

Er hatte den Preis genannt: alles. Er hatte ihr zu verstehen gegeben, was Richard tun musste. Am liebsten hätte sie dem Kerl die feiste Kehle herausgerissen.

»Ich danke Euch für Euer freundliches Verständnis für die Verfehlungen meines Ehemannes. Wenn ich ihn sehen könnte, würde ich dafür Sorge tragen, dass ihn die Reue bis ins Mark trifft.«

Er lächelte ein dünnes, verschwitztes Lächeln. »Tut das, junge Frau. Wer hier unten zu lange mit seiner Schuld allein gelassen wird, gesteht am Ende die entsetzlichsten Verbrechen.«

Nicci musste schlucken. »Verstehe, Protektor Muksin.«

Die Folter würde erst ein Ende haben, wenn der Mann sein Geld bekommen hatte.

Unvermittelt packte sie der Gardist am Arm und zerrte sie, die beiden Laternen in der anderen Hand, in einen völlig dunklen Korridor. Abermals ging es eine Treppenflucht hinab, bis in den untersten Bereich der Festung. Der enge Gang bohrte sich einen gewundenen Weg durch den Fels des Fundaments, vorbei an eigens für die Verwahrung von Verbrechern gebauten Kammern. Wegen seiner Lage unweit des Flusses war Wasser in das Gebäude hineingesickert und hatte es auf Dauer in ein schleimiges, feuchtes, nach Verwesung stinkendes Gemäuer verwandelt. Sie erblickte irgendwelches Getier, das vor ihr in die Dunkelheit huschte.

Der Klang ihrer durch das knöcheltiefe Wasser patschenden Schritte hallte aus der Ferne wider. Dieser Ort erinnerte Nicci an ihre Albträume von der Unterwelt aus ihrer Kindheit, ein Schicksal, das, so hatte ihre Mutter ihr versichert, all jene erwartete, die in ihrer Pflicht ihren Mitmenschen gegenüber versagt hatten.

Die niedrigen Türen zu beiden Seiten wiesen eine winzige, etwa handgroße Öffnung auf – vermutlich damit die Gardisten hineinspähen konnten. Es gab kein Licht außer dem, das die Gardisten mitbrachten, daher hatten die Insassen auch nichts, auf das sie draußen hätten schauen können. In mehreren dieser Türen hatten sich Finger in den Rand der Öffnungen gekrallt. Im Vorübergehen konnte Nicci im Schein der Lampe weit aufgerissene Augen erkennen, die aus den schwarzen Löchern hervorlugten. Aus etlichen der Öffnungen drang ein angst- oder schmerzerfülltes Wimmern.

Der Gardist blieb stehen. »Hier ist es.«

Nicci wartete mit heftig klopfendem Herzen. Statt die Tür zu öffnen, drehte sich der Gardist zu ihr herum und begrabschte ihre Brüste. Aus Angst, sich zu bewegen, verharrte sie völlig regungslos. Er betatschte sie, als ob er Melonen auf dem Markt prüfte. Sie war viel zu verängstigt, um ein Wort hervorzubringen, da er sie sonst womöglich nicht zu Richard hineinlassen würde. Sie immer mehr bedrängend, schob er ihr seine fleischige Hand in den Ausschnitt ihres Kleides und begann ihre Brustwarzen zu befingern.

Nicci wusste natürlich, dass Männer wie er nötig waren, wenn der Orden alle in seinen Lehren unterweisen wollte. Man musste akzeptieren, dass die Menschheit von Natur aus böse war. Es mussten Opfer gebracht werden. Rohlinge waren nötig, um den Massen sittliches Verhalten einzuschärfen. Sie unterdrückte einen Aufschrei, als er sie in ihr zartes Fleisch kniff.

Der Gardist, zufrieden mit seinem Gegrabsche, lachte amüsiert in sich hinein und wandte sich zur Tür um. Nach anfänglichen Schwierigkeiten mit dem verrosteten Schloss gelang es ihm endlich, den Schlüssel herumzudrehen; er packte die Tür am Guckloch und zog einmal kräftig daran.

Knirschend öffnete sich die Tür gerade weit genug, dass man sich hindurchzwängen konnte. Unmittelbar hinter der Tür hängte er eine Laterne an die Wand.

»Ich komme zurück, sobald ich mich um ein paar andere Dinge gekümmert habe; dann ist dein Besuch vorbei.« Wieder lachte er frohlockend. »Verschwende also keine Zeit, wenn du den Rock für ihn hebst – falls sein Zustand das überhaupt zulässt.«

Er stieß sie in die Zelle. »Hier, Cypher. Ich hab sie schon ganz ordentlich für dich aufgegeilt.« Die Tür fiel mit einem metallischen Scheppern ins Schloss, das nach beiden Seiten durch den krummen Gang hallte. Nicci hörte, wie sich der Schlüssel drehte, anschließend die platschenden Schritte des sich entfernenden Gardisten.

Der quadratische Raum war so winzig, dass sie mit ausgestreckten Armen beide Seitenwände gleichzeitig hätte berühren können. Ihr Kopf stieß an die Decke. Die entsetzliche Enge drohte sie unter sich zu begraben. Sie wollte nichts als raus hier.

Sie hatte Angst, der Körper zu ihren Füßen könnte tot sein.

»Richard?«

Sie vernahm ein leises Ächzen. Er hatte die Arme auf dem Rücken; man hatte sie mit einer Art hölzernem Bindeblock gefesselt. Sie hatte Angst, er könnte ertrinken.

Tränen brannten ihr in den Augen. Sie ließ sich auf die Knie sinken. Das schleimige Wasser, das in ihre Stiefel geschwappt war, wurde jetzt von ihrem Kleid aufgesogen.

»Richard?«

Sie zerrte an seiner Schulter, um ihn herumzudrehen. Er stieß einen Schrei aus und schreckte vor ihrer Hand zurück.

Als sie ihn sah, schlug sie beide Hände vor dem Mund zusammen, um ihren Aufschrei zu unterdrücken. Sie spürte, wie ihr die Tränen übers Gesicht strömten, während sie keuchend wieder zu Atem zu kommen versuchte.

»Oh, Richard.«

Nicci stand auf und riss einen Streifen von ihrem Unterhemd ab, das sie unter ihrem Kleid trug. Abermals neben ihm niederkniend, wischte sie ihm das Blut mit dem Stofffetzen behutsam aus dem Gesicht.

»Kannst du mich hören, Richard? Ich bin es, Nicci.«

Er nickte. »Nicci.«

Ein Auge war völlig zugeschwollen. Sein Haar war verfilzt von dem Morast und dem Schlamm aus der fauligen Lache, in der er lag, seine Kleider völlig zerrissen. Im grellen Schein der kleinen Lampe sah sie, dass seine Haut mit roten, geschwollenen Striemen übersät war.

Er merkte, dass sie auf seine Wunden starrte. »Ich fürchte, das Hemd wirst du nicht mehr flicken können.«

Angesichts seines bitteren Humors zeigte sie ihm ein mattes Lächeln. Sie wusste nicht, warum sie so reagierte; sie hatte schon Schlimmeres gesehen.

Richard zog den Kopf zurück, als sie versuchte, ihm zu helfen.

»Tue ich dir weh?«

»Ja.«

»Entschuldige. Ich habe Wasser mitgebracht.«

Er nickte ungeduldig. Nicci goss ihm Wasser aus dem Schlauch in den Mund. Er trank gierig.

Während er verschnaufte, sagte sie: »Kamil hat das Geld für die Gebühr beigebracht, damit ich kommen und dich besuchen kann.«

Richard lächelte bloß.

»Kamil möchte, dass du hier rauskommst.«

»Ich möchte selber hier raus.« Er klang nicht wie er selbst; seine Stimme war heiser und kaum noch zu verstehen.

»Richard, der Protektor…«

»Wer?«

»Der Beamte, der für dieses Gefängnis hier verantwortlich ist. Er meinte zu mir, es gäbe einen Weg, dich freizubekommen. Er sagte, du müsstest dich eines Verstoßes gegen das Bürgerrecht für schuldig bekennen und eine Geldstrafe bezahlen.«

Richard hörte nickend zu. »Darauf war ich auch schon gekommen. Er fragte mich, ob ich Geld hätte. Ich antwortete, ja, hätte ich.«

»Wirklich? Du hast etwas gespart?«

Er nickte. »Ich besitze etwas Geld.«

Verzweifelt packte Nicci seinen Kragen mit einer Hand. »Ich kann die Strafe, um dich hier rauszuholen, frühestens in zwei Tagen bezahlen. Schaffst du das? Hältst du bis dahin durch?«

Er grinste im matten Schein der Lampe. »Ich habe nicht die Absicht, woanders hinzugehen.«

In diesem Augenblick fiel es Nicci ein, und sie nahm das Brot aus dem Beutel. »Ich habe dir etwas zu essen mitgebracht. Brot und etwas Brathuhn.«

»Huhn. Brot hält kaum vor. Ich bekomme hier nichts zu essen.«

Sie riss das Huhn mit den Fingern auseinander und hielt ihm ein Stück vor den Mund. Sie ertrug es nicht, Richard so hilflos zu sehen; es machte sie wütend. Ganz schlecht wurde ihr davon.

»Iss, Richard«, drängte sie ihn, als sein Kinn auf die Brust sackte. Er schüttelte den Kopf, so als wollte er den Schlaf vertreiben. »Hier, nimm noch etwas.«

Sie sah ihm beim Kauen zu. »Kannst du in diesem Wasser überhaupt schlafen?«

»Sie lassen einen hier nicht schlafen. Sie…«

Sie stopfte ihm ein großes Stück Hühnerfleisch in den Mund. Die Methoden des Ordens waren ihr bis ins Detail vertraut, deshalb wollte sie gar nicht wissen, welche man für ihn ausgewählt hatte.

»Ich hole dich hier raus. Gib nicht auf. Ich hole dich raus.«

Er zuckte mit den Achseln, so als wollte er sagen, es spiele ohnehin keine Rolle.

»Warum? Vermisst du deinen Gefangenen? Bist du eifersüchtig, weil andere mich an deiner Stelle misshandeln? Hast du Angst, sie könnten mich brechen, bevor es dir gelingt?«

»Richard, das ist nicht…«

»Ich bin nur ein einzelner Mann. Das Einzige, was zählt, ist das allgemeine Wohl. Dass ich unschuldig bin, ist nebensächlich, weil das Leben eines einzelnen Mannes wertlos ist. Wenn ich auf diese Weise leiden und sterben muss, um dazu beizutragen, andere auf den rechten Weg des Schöpfers und deines Ordens zu führen, wie kannst du es dann wagen, ihnen die Tugendhaftigkeit ihrer Ziele abzusprechen? Was zählen deine Wünsche? Wie kannst du dein Leben oder meines über das Wohl von anderen stellen?«

Wie oft hatte sie ihm über ebendiese Lehren Vorträge gehalten – und wie verächtlich, wie gehässig und wie trügerisch klangen sie aus seinem Mund.

In diesem Augenblick empfand sie nichts als Hass auf sich selbst. Irgendwie gelang es ihm, alles, wofür der Orden stand, alles, wofür sie ihr Leben aufgeopfert hatte, Lügen zu strafen. Irgendwie gelang es ihm, Wohltätigkeit als … böse erscheinen zu lassen. Deswegen war er so gefährlich. Schon die Tatsache seiner Existenz bedrohte alles, wofür der Orden stand.

Sie war so dicht davor, so dicht davor, zu erfahren, was sie unbedingt wissen musste. Bereits die Tatsache, dass ihr die Tränen über die Wangen strömten, sagte ihr, dass es tatsächlich etwas gab, dass diese Qual all die Mühen wert war – sie geradezu unverzichtbar machte. Der unerklärliche Funke, den sie vom ersten Moment an in seinen Augen gesehen hatte, war echt.

Wenn sie nur jenes kleine bisschen mehr begreifen könnte, dann endlich könnte sie tun, was am besten war. Es wäre besser für ihn. Was für ein Leben erwartete ihn denn noch? Wie viel konnte er ertragen? Dazu verdammt zu sein, dem Schöpfer auf diese Weise zu dienen, erfüllte sie mit Hass.

»Sieh dich um, Nicci. Du wolltest mir die überlegene Lebensweise des Ordens vor Augen führen. Sieh dich um. Ist es nicht eine Pracht?«

Sie konnte es nicht ertragen, eines seiner wunderschönen Augen zugeschwollen zu sehen.

»Ich brauche das Geld, das du gespart hast, Richard, und zwar alles, wenn ich dich hier herausholen soll. Der Beamte meinte zu mir, es müsse alles sein, was du besitzt.«

Er brachte nicht mehr als ein heiseres Flüstern zu Stande. »Es befindet sich in unserem Zimmer.«

»In unserem Zimmer? Wo? Sag mir, wo genau.«

Er schüttelte den Kopf. »Du würdest nie dahinter kommen. Man muss den Trick kennen, um das Versteck zu öffnen. Geh zu Ishaq.«

»Ishaq? In dem Fuhrunternehmen? Warum?«

»Es war früher einmal sein Wohnzimmer. Im Fußboden gibt es ein Geheimfach. Erkläre ihm, wozu du das Geld brauchst. Er wird es für dich öffnen.«

Sie hielt ihm den nächsten Brocken Hühnerfleisch vor den Mund. »Also gut, ich werde zu Ishaq gehen.« Sie zögerte, als sie ihm beim Kauen zusah. »Tut mir Leid, dass du dein Erspartes hergeben musst. Ich weiß, wie hart du arbeitest. Es ist nicht richtig, dass man es dir wegnimmt.«

Er zuckte abermals mit den Schultern. »Es ist nur Geld. Mein Leben ist mir wichtiger.«

Nicci lächelte und wischte sich die Tränen von den Wangen. Eine bessere Antwort hätte sie sich nicht erhoffen können.

Die Tür ging auf. »Zieh deinen Rock runter. Die Zeit ist um.«

Er war bereits dabei, sie am Arm nach draußen zu zerren, als sie Richard noch schnell das letzte Stück Huhn in den Mund stopfte.

»Verstoß gegen das Bürgerrecht!«, rief sie ihm zu. »Vergiss das nicht.«

Sie streckte den Arm nach hinten zu ihm aus, während sie aus der Zelle gezerrt wurde. »Ich komme dich holen, Richard! Ich schwöre es!«

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