11

Am nächsten Tag wurde Nicci, beladen mit einem Korb voll Brot, gemeinsam mit einer schnatternden Schar ihrer Glaubensgenossen aus der Kutsche entlassen, um auszuschwärmen und Brot an die Bedürftigen zu verteilen. Zu diesem besonderen Anlass hatte ihre Mutter sie mit ihrem roten Rüschenkleid herausgeputzt. Ihre kurzen weißen Söckchen wiesen mit rotem Faden gestickte Muster auf. Erfüllt vom Stolz, endlich Gutes zu tun, marschierte Nicci mit ihrem Brotkorb bewaffnet die abfallübersäte Straße entlang und dachte an den Tag, da man allen die Hoffnung auf eine neue Ordnung überbringen würde, damit sie sich endlich aus bitterer Not und Verzweiflung erheben konnten.

Einige Menschen bedankten sich lächelnd für das Brot, manche nahmen das Brot wortlos und ohne Lächeln entgegen, die meisten jedoch reagierten mürrisch und beschwerten sich, das Brot komme zu spät, außerdem seien die Laibe zu klein oder von der falschen Sorte. Nicci ließ sich nicht entmutigen, sie erklärte ihnen, was ihre Mutter gesagt hatte, dass dies die Schuld des Bäckers sei, weil er zuerst das Brot für seinen eigenen Gewinn backe und erst dann das für die Mildtätigkeit, da er dafür einen geringeren Preis erhalte. Nicci erklärte ihnen, dass die verderbten Leute sie als Menschen zweiter Klasse behandelten und dass die Bruderschaft der Ordnung eines Tages in diesem Land Einzug halten und dafür sorgen werde, dass alle gleich behandelt würden.

Als Nicci so die Straße entlang ging und das Brot verteilte, packte ein Mann sie am Arm und zerrte sie in den Gestank einer engen, dunklen Gasse. Sie bot ihm einen Brotlaib an, er jedoch riss ihr den Korb aus den Händen und verlangte Silber oder Gold. Nicci erklärte ihm, sie habe kein Geld. Ihr stockte vor Schreck der Atem, als er sie an sich riss. Nach einem Geldbeutel suchend, betatschte er sie von Kopf bis Fuß mit seinen schmutzigen, forschenden Fingern, nicht einmal ihre intimsten Stellen verschonte er, konnte aber nichts bei ihr finden. Er zog ihr die Schuhe aus und warf sie fort, als er sah, dass keine Münzen in ihnen versteckt waren.

Zwei wuchtige Fausthiebe trafen sie in den Magen. Nicci brach auf dem Boden zusammen. Einen deftigen Fluch in ihre Richtung speiend, stahl er sich im Schatten der Müllberge davon.

Auf ihre zitternden Arme gestützt, erbrach sich Nicci in das ölige Wasser, das unter den Abfallbergen hervorsickerte. An der Gasse vorüberkommende Passanten warfen einen Blick hinein und sahen sie würgend auf dem Erdboden liegen, schauten jedoch schnell wieder auf die Straße und gingen eilig ihres Weges. Einige sprangen kurz in die Gasse, bückten sich und sammelten das Brot aus dem umgestürzten Korb auf, bevor sie sich hastig aus dem Staub machten. Nicci keuchte, die Tränen brannten ihr in den Augen, während sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Ihre Knie bluteten, ihr Kleid war über und über mit Kot bespritzt.

Als sie in Tränen aufgelöst nach Hause kam, fing ihre Mutter bei ihrem Anblick an zu lächeln. »Das Elend der Menschen rührt auch mich manchmal zu Tränen.«

Nicci schüttelte den Kopf, dass ihre goldenen Locken von einer Seite auf die andere flogen, und erklärte ihrer Mutter, ein Mann habe sie gepackt, geschlagen und Geld verlangt. Bitterlich weinend streckte Nicci die Arme nach ihrer Mutter aus und beklagte sich, was für ein schlechter Mensch er gewesen sei.

Ihre Mutter schlug sie auf den Mund. »Wage nicht, die Menschen zu verurteilen. Du bist noch ein Kind. Wie kannst du dich erdreisten, andere zu richten?«

Nicci reagierte mit Verblüffung auf den Schlag, der eher überraschend war als schmerzhaft. Die Zurückweisung traf sie viel härter. »Aber, Mutter, er war grausam zu mir – erst hat er mich überall angefasst und dann geschlagen.«

Abermals gab ihre Mutter ihr eins auf den Mund, das zweite Mal noch härter. »Ich lasse nicht zu, dass du mir mit derart unsinnigem Geschwätz vor Bruder Narev und meinen Freunden Schande machst. Hast du verstanden? Du weißt nicht, was ihn dazu verleitet hat. Vielleicht liegen seine Kinder krank zu Hause und er braucht Geld, um Medizin zu kaufen. Da sieht er plötzlich ein verwöhntes, reiches Kind und wird schwach, weil er weiß, dass sein Kind von deinesgleichen – mit all deinen schönen, eleganten Sachen – um sein Leben betrogen wurde. Du weißt nicht, welche schweren Lasten das Leben diesem Mann aufgebürdet hat. Wage nicht, die Menschen aufgrund ihres Tuns zu verurteilen, nur weil du zu gleichgültig und unempfindsam bist, dir die Zeit zu nehmen, sie zu verstehen.«

»Aber ich denke…«

Ihre Mutter schlug sie ein drittes Mal auf den Mund, so fest, dass sie ins Wanken geriet. »Du denkst? Das Denken ist eine widerwärtige Säure, die den Glauben zerfrisst! Deine Pflicht ist es, zu glauben, nicht zu denken. Der Geist des Menschen ist dem des Schöpfers unterlegen. Deine Gedanken – die Gedanken aller – sind wertlos, so wie die gesamte Menschheit wertlos ist. Du musst fest daran glauben, dass der Schöpfer diesen unglücklichen Seelen seine Güte mitgegeben hat. Von Gefühlen, nicht Gedanken, musst du dich leiten lassen. Der Glaube muss dein einziger Pfad sein, nicht das Denken.«

Nicci unterdrückte ihre Tränen. »Was soll ich also tun?«

»Schämen sollst du dich, weil die Welt diese armen Seelen so grausam misshandelt, dass sie in ihrer Verwirrung so erbarmungswürdig um sich schlagen! In Zukunft solltest du einen Weg finden, solchen Menschen zu helfen, denn du bist dazu fähig, sie nicht – es ist deine Pflicht.«

Als ihr Vater an jenem Abend nach Hause kam und auf Zehenspitzen in ihr Schlafzimmer schlich, um nachzusehen, ob sie behaglich zugedeckt war, nahm sie zwei seiner Finger und drückte sie fest an ihre Wange. Obgleich ihre Mutter erklärt hatte, er sei ein schlechter Mann, fühlte es sich besser an als alles andere auf der Welt, als er neben ihrem Bett niederkniete und ihr wortlos über die Stirn strich.

Ihre Arbeit auf der Straße versetzte Nicci schließlich in die Lage, die Bedürfnisse vieler Menschen zu begreifen. Ihre Probleme schienen unüberwindbar. Was immer sie auch tat, nie schien sich dadurch ein Problem zu lösen. Bruder Narev sagte, das sei lediglich ein Beweis für ihren zu geringen Einsatz. Nach jedem Scheitern verdoppelte Nicci ihre Bemühungen auf Bruder Narevs oder ihrer Mutter Drängen.

Eines Abends nach dem Essen, sie war bereits mehrere Jahre in der Bruderschaft, sagte sie: »Vater, es gibt da einen Mann, dem ich zu helfen versucht habe. Er hat zehn Kinder und ist arbeitslos. Würdest du ihn bitte einstellen?«

Niccis Vater sah von seiner Suppe auf. »Warum sollte ich?«

»Ich sagte es bereits. Er hat zehn Kinder.«

»Aber welche Art von Arbeit kann er übernehmen? Warum sollte ich ihn einstellen wollen?«

»Weil er eine Arbeit braucht.«

Niccis Vater legte seinen Löffel fort. »Nicci, Liebes, ich stelle ausgebildete Arbeitskräfte ein. Dass er zehn Kinder hat, wird den Stahl wohl schwerlich formen, oder? Was kann denn dieser Mann überhaupt? Welche Ausbildung hat er?«

»Wenn er eine Ausbildung hätte, Vater, könnte er auch eine Arbeit finden. Ist es vielleicht gerecht, dass seine Kinder hungern, nur weil die Menschen ihm keine Chance geben wollen?«

Ihr Vater schaute sie an, als mustere er eine Wagenladung eines wundersamen, neuen Metalls. Der schmale Mund ihrer Mutter verzog sich zu einem verhaltenen Lächeln, sie sagte aber nichts.

»Eine Chance? Eine Chance wozu? Er kann doch nichts.«

»In einem Betrieb so groß wie deinem kannst du ihm doch bestimmt eine Arbeit geben.«

Mit einem Finger auf den Stiel seines Löffels tippend, betrachtete er ihren entschlossenen Gesichtsausdruck. Er räusperte sich. »Nun, vielleicht könnte ich jemanden für das Beladen der Karren gebrauchen.«

»Er kann keine Karren beladen. Er hat einen schlimmen Rücken.

Er hat schon seit Jahren nicht mehr arbeiten können, weil ihm sein Rücken so zu schaffen macht.«

Ihr Vater senkte die Stirn. »Offenbar hat ihn sein schlimmer Rücken nicht daran gehindert, zehn Kinder zu zeugen.«

Nicci wollte unbedingt ein gutes Werk tun, daher erwiderte sie sein Starren mit einem ebenso festen Blick. »Musst du wirklich so intolerant sein, Vater? Du hast Stellen zu vergeben, und dieser Mann benötigt dringend eine. Seine Kinder hungern, sie müssen ernährt und mit Kleidung versorgt werden. Willst du ihm einen Broterwerb verwehren, nur weil er nie im Leben eine faire Chance hatte? Haben all dein Reichtum und dein Gold dich für die Bedürfnisse einfacher Menschen blind gemacht?«

»Aber ich brauche…«

»Musst du immer alles in Begriffen ausdrücken, die deine Bedürfnisse beschreiben, statt die anderer? Muss alles dir zum Wohl gereichen?«

»Es ist ein Geschäft…«

»Und welchen Zweck hat ein Geschäft? Besteht er nicht darin, denen Arbeit zu geben, die sie dringend brauchen? Wäre es nicht besser, der Mann hätte Arbeit, anstatt sich mit Betteln erniedrigen zu müssen? Willst du das? Willst du, dass er betteln muss, statt zu arbeiten? Bist du es nicht, der ständig selbst in höchsten Tönen von harter Arbeit spricht?«

Nicci feuerte die Fragen ab wie Pfeile, in so rascher Folge, dass er mit keinem Wort durch ihr Sperrfeuer drang. Ihre Mutter lächelte, als Nicci Formulierungen herunterbetete, die sie selbst auswendig kannte.

»Warum musst du dir die größten Grausamkeiten für die Unglücklichsten unter uns aufheben? Warum kannst du nicht ein einziges Mal darüber nachdenken, wie du helfen könntest, statt immer nur an Geld, Geld und nochmals Geld zu denken? Würde es dir wehtun, einen Mann einzustellen, der dringend eine Arbeit braucht? Würde es das, Vater? Würde es deinem Geschäft ein Ende machen? Würde es dich ruinieren?«

Das Zimmer hallte wider von ihren edelmütigen Fragen. Er starrte sie an, als sehe er sie zum ersten Mal. Er sah aus, als hätten echte Pfeile ihn getroffen. Sein Kinn bewegte sich, trotzdem brachte er kein Wort hervor. Er schien sich nicht bewegen zu können und vermochte sie bloß offenen Mundes anzustarren.

Niccis Mutter strahlte.

»Nun…«, meinte er schließlich, »vermutlich schon…«. Er nahm seinen Löffel auf und starrte in die Suppe. »Schick ihn vorbei, ich werde ihm Arbeit geben.«

Eine neue Art von Stolz – und Macht – erfüllte Nicci. Sie hatte bislang nicht geahnt, dass es so einfach sein würde, ihren Vater umzustimmen. Mit nichts anderem als ihrer Güte hatte sie über seine selbstsüchtige Natur gesiegt.

Vater stieß sich vom Tisch ab. »Ich … ich muss zurück in die Werkstatt.« Seine Augen wanderten suchend über den Tisch, er vermied es aber, Nicci oder ihre Mutter anzusehen. »Mir fällt gerade ein … ich habe noch Arbeit, um die ich mich kümmern muss.«

Nachdem er gegangen war, sagte Niccis Mutter: »Es freut mich zu sehen, dass du, statt seinen üblen Machenschaften nachzueifern, den Weg der Rechtschaffenheit eingeschlagen hast, Nicci. Du wirst es nie bereuen, dich in deinen Gefühlen von der Liebe zu Menschen leiten zu lassen. Der Schöpfer wird auf dich herablächeln.«

Nicci wusste, dass sie das Richtige, das Tugendhafte, getan hatte, dennoch trübte ein Gedanke ihren Sieg, der Gedanke an jene Nacht, als ihr Vater in ihr Zimmer gekommen war und ihr wortlos die Stirn gestreichelt hatte, während sie zwei seiner Finger an ihre Wange drückte.

Der Mann trat seine Stelle bei ihrem Vater an. Ihr Vater verlor nie eine Bemerkung darüber, wegen seiner Arbeit hatte er viel zu tun und war selten zu Hause, auch Niccis Arbeit nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Sie vermisste es, besagten Blick in seinen Augen zu sehen; vermutlich wurde sie langsam erwachsen.

Im nächsten Frühling, als Nicci dreizehn war, kam sie eines Tages von ihrer Arbeit in der Bruderschaft nach Hause, als sie eine Frau bei ihrer Mutter im Wohnzimmer sitzen sah. Irgendetwas im Verhalten dieser Frau bewirkte, dass sich Niccis Nackenhaare aufstellten. Die beiden Frauen erhoben sich, als Nicci ihre Liste mit den Namen der Bedürftigen beiseite legte.

»Nicci, Liebes, das ist Schwester Alessandra. Sie ist aus dem Palast der Propheten in Tanimura hierher gereist.«

Die Frau war älter als ihre Mutter. Sie trug einen langen Zopf aus feinem, braunem Haar, den sie zu einem Knoten geschlungen und am Hinterkopf festgesteckt hatte wie einen Laib Zopfbrot. Ihre Nase war ein wenig zu groß für ihr Gesicht, und sie war unscheinbar, wenn auch alles andere als hässlich. Ihre Augen konzentrierten sich mit einer beunruhigenden Intensität auf Nicci und wanderten nicht unentwegt ruhelos umher wie die ihrer Mutter.

»War es eine lange Reise, Schwester Alessandra?«, erkundigte sich Nicci, nachdem sie einen Knicks gemacht hatte. »Den ganzen weiten Weg von Tanimura, meine ich?«

»Nur drei Tage, mehr nicht«, erwiderte Schwester Alessandra. Das Lächeln auf ihrem Gesicht wurde breiter, als sie Niccis knochigen Körperbau gewahrte. »Sieh an, noch so klein, und schon diese Erwachsenenarbeit.« Sie deutete mit ausgestreckter Hand auf einen Stuhl. »Möchtest du dich nicht zu uns setzen, Kleines?«

»Seid Ihr eine Schwester der Bruderschaft?«, fragte Nicci, die nicht recht begriff, wer diese Frau war.

»Der was?«

»Nicci«, erklärte ihre Mutter, »Schwester Alessandra ist eine Schwester des Lichts.«

Nicci ließ sich erstaunt auf einen Stuhl fallen.

Schwestern des Lichts besaßen die Gabe, genau wie sie selbst und ihre Mutter. Viel wusste Nicci nicht über die Schwestern, außer dass sie dem Schöpfer dienten. Das beruhigte ihren Magen dennoch nicht. Eine solche Frau leibhaftig bei sich zu Hause zu haben, hatte etwas Einschüchterndes – wie wenn sie vor Bruder Narev stand. Ein unerklärliches Gefühl von Schicksalhaftigkeit beschlich sie.

Nicci war auch deshalb ungeduldig, weil Verpflichtungen ihrer harrten. Es gab Spenden, die gesammelt werden mussten. Zu manchen dieser Orte begleiteten sie ein paar ältere Förderer. Andernorts, so behaupteten sie, könne ein junges Mädchen allein, indem es die Menschen beschämte, die mehr besaßen, als ihnen zustand, bessere Ergebnisse erzielen. Diese Menschen, Inhaber von Geschäften, wussten alle, wer sie war, gewöhnlich erkundigten sie sich stammelnd nach dem Wohlbefinden ihres Vaters. Wie man ihr aufgetragen hatte, erzählte Nicci ihnen, wie erfreut ihr Vater sei zu hören, dass sie den Bedürftigen ihre Aufmerksamkeit entgegenbrachten. Am Ende waren die meisten überaus zuvorkommend.

Dann waren da die Heilmittel, die Nicci Müttern mit kranken Kindern bringen musste, auch gab es nicht genügend Kleidung für die Kinder. Manche Menschen hatten kein Dach über dem Kopf, andere hausten eng zusammengepfercht in winzigen Löchern. Sie versuchte, einige Reiche zu bewegen, ein Gebäude zu spenden. Darüber hinaus war Nicci damit beauftragt worden, Krüge für die Frauen aufzutreiben, damit sie am Brunnen Wasser holen konnten. Sie musste dem Töpfer einen Besuch abstatten. Einige der älteren Kinder waren beim Stehlen erwischt worden, andere hatten sich geprügelt, und ein paar von ihnen schlugen kleinere Kinder blutig. Nicci hatte sich für sie eingesetzt und erklärt, sie hätten keine faire Chance und ihr Verhalten sei nur eine Reaktion auf ihre brutalen Lebensumstände. Sie hoffte ihren Vater überzeugen zu können, wenigstens ein paar von ihnen einzustellen, damit sie Arbeit hätten.

Die Probleme nahmen einfach immer mehr zu, ohne dass ein Ende in Sicht war. Je mehr Menschen die Bruderschaft half, so schien es, desto mehr Menschen gab es, die ihre Hilfe benötigten. Nicci hatte geglaubt, die Probleme dieser Welt zu lösen; mittlerweile kam sie sich hoffnungslos unzulänglich vor. Die Schuld für dieses Scheitern lag bei ihr, davon war sie überzeugt. Sie musste härter arbeiten.

»Kannst du lesen und schreiben, Kleines?«, erkundigte sich die Schwester.

»Nicht sehr gut, Schwester, meist nur Namen. Ich muss zu viel für diejenigen arbeiten, die weniger glücklich sind als ich. Ihre Bedürfnisse stehen über meinen eigenen selbstsüchtigen Wünschen.«

Nickend lächelte ihre Mutter bei sich.

»Praktisch eine Fleisch gewordene Gute Seele.« Die Schwester bekam feuchte Augen. »Ich habe von deinen guten Taten gehört.«

»Ja, wirklich?« Nicci verspürte ein Aufblitzen von Stolz, doch dann musste sie daran denken, dass trotz all ihrer Mühen nichts jemals wirklich besser zu werden schien, und das Gefühl, versagt zu haben, kehrte zurück. Außerdem hatte ihre Mutter gesagt, Stolz sei etwas Schlechtes. »Ich verstehe nicht, wieso an dem, was ich tue, etwas Besonderes sein soll. Die Menschen auf den Straßen sind es, die ihr Leiden unter den entsetzlichen Bedingungen zu etwas Besonderem macht. Sie sind die wahre Inspiration.«

Niccis Mutter lächelte zufrieden. Schwester Alessandra beugte sich vor, und ihre Stimme wurde ernst. »Hast du gelernt, von deiner Gabe Gebrauch zu machen, Kind?«

»Mutter bringt mir Kleinigkeiten bei, zum Beispiel geringfügige Sorgen zu kurieren, aber ich weiß, es wäre ungerecht, damit vor denen anzugeben, die weniger gesegnet sind als ich, daher gebe ich mir Mühe, es mir nicht anmerken zu lassen.«

Die Schwester faltete die Hände in ihrem Schoß. »Während du fort warst, habe ich mit deiner Mutter gesprochen, sie hat gute Arbeit geleistet und dir auf den rechten Weg verholfen. Dennoch können wir uns des Eindrucks nicht erwehren, dass du sehr viel mehr zu bieten hättest, wenn du einer höheren Berufung dienen würdest.«

Nicci seufzte. »Also gut, vielleicht kann ich noch ein bisschen früher aufstehen. Aber ich habe schon meine Pflichten gegenüber den Bedürftigen und werde diese zusätzlichen so gut es eben geht dazwischenschieben müssen. Ich hoffe, das versteht Ihr, Schwester. Ich möchte kein unverdientes Mitgefühl, ganz ehrlich nicht, nur hoffe ich, Ihr müsst das mit dieser Berufung nicht zu bald erledigt haben, ich bin nämlich schon ziemlich beschäftigt.«

Schwester Alessandra setzte ein langmütiges Lächeln auf. »Du verstehst nicht, Nicci. Wir möchten, dass du deine guten Taten bei uns im Palast der Propheten weiterführst. Anfangs wärst du natürlich eine Novizin, eines Tages aber wirst du eine Schwester des Lichts werden und als solche das fortsetzen, was du begonnen hast.«

Panik überkam Nicci wie eine steigende Flutwelle. Es gab so viele Menschen, deren Leben nur an einem seidenen Faden hing, den sie in Händen hielt und sorgsam beobachtete. Sie hatte Freunde in der Bruderschaft, die sie liebgewonnen hatte. Sie hatte so viel zu tun und wollte ihre Mutter nicht verlassen, nicht einmal ihren Vater. Er war böse, das wusste sie, aber nicht zu ihr. Er war eigensüchtig und habgierig, auch das wusste sie, trotzdem deckte er sie noch immer manchmal abends zu und tätschelte ihr die Schulter. Bestimmt würde sie in seinen blauen Augen wieder etwas entdecken, wenn sie sich nur ein wenig Zeit ließe. Sie wollte ihn nicht verlassen. Aus irgendeinem Grund musste sie dieses Funkeln in seinen Augen unbedingt noch einmal sehen. Sie war sich bewusst, dass sie sich eigensüchtig benahm.

»Ich habe Bedürftige hier, Schwester Alessandra.« Nicci erschrak über ihre Tränen. »Ich bin für sie verantwortlich. Tut mir Leid, aber ich kann sie nicht im Stich lassen.«

In diesem Augenblick kam ihr Vater zur Tür herein. Linkisch blieb er stehen, die Beine mitten im Schritt erstarrt, die Hand auf dem Türgriff, und schaute die Schwester an.

»Was geht hier vor?«

Niccis Mutter erhob sich. »Howard, das ist Alessandra, sie ist eine Schwester des Lichts. Sie ist gekommen, um…«

»Nein! Das lasse ich nicht zu, hörst du! Nicci ist unsere Tochter, die Schwestern können sie nicht bekommen.«

Schwester Alessandra erhob sich und warf Niccis Mutter einen heimlichen Seitenblick zu. »Bittet Euren Mann zu gehen. Diese Angelegenheit betrifft ihn nicht.«

»Betrifft mich nicht? Sie ist meine Tochter! Ihr werdet sie nicht mitnehmen!«

Er machte einen Satz nach vorn, um Niccis ausgestreckte Hand zu packen. Die Schwester hob einen Finger, woraufhin er, zu Niccis Überraschung, inmitten eines funkensprühenden Lichtblitzes zurückgeschleudert wurde. Ihr Vater krachte mit dem Rücken gegen die Wand, rutschte nach unten, fasste sich an die Brust und rang nach Atem. Nicci brach in Tränen aus und wollte zu ihm laufen, doch Schwester Alessandra packte ihren Arm und hielt sie zurück.

»Howard«, presste Niccis Mutter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, »die Erziehung des Kindes ist allein meine Angelegenheit. Ich bin es, die die Gabe des Schöpfers in sich trägt. Als unsere Vermählung ausgehandelt wurde, hast du mir dein Wort gegeben, dass es, falls wir ein Mädchen bekommen und es die Gabe hat, ganz allein mir überlassen sein würde, sie nach meinem Gutdünken zu erziehen. Ich bin überzeugt, dies ist genau das Richtige für sie – und entspricht dem Wunsch des Schöpfers. Bei den Schwestern wird sie Gelegenheit haben, das Lesen zu lernen. Sie wird Gelegenheit haben, zu lernen, ihre Gabe zum Wohl der Menschen einzusetzen, wie dies nur Schwestern können. Du wirst dein Wort halten, dafür werde ich schon sorgen. Im Übrigen bin ich sicher, dass du noch zu tun hast und unverzüglich wieder an die Arbeit musst.«

Er rieb sich mit der flachen Hand die Brust, und gesenkten Hauptes schlurfte er zur Tür. Bevor er die Tür hinter sich zuzog, kreuzte sich sein Blick mit Niccis. Durch ihre Tränen sah sie ein Funkeln in seinen Augen, so als habe er ihr noch etwas mitzuteilen, doch dann war es erloschen, und er zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Schwester Alessandra meinte, es sei wohl das Beste, wenn sie sofort aufbrächen und Nicci ihn eine Weile nicht sähe. Sie versprach, Nicci werde ihn Wiedersehen – vorausgesetzt, sie hielt sich an die Anweisungen und lernte erst einmal Lesen und ihre Gabe zu gebrauchen.

Nicci lernte sowohl das eine wie das andere und meisterte auch all die anderen Dinge, die man von ihr erwartete. Sie erfüllte sämtliche Anforderungen und tat, was man von ihr verlangte. Ihr Leben als Novizin, aus der einmal eine Schwester des Lichts werden sollte, war selbstlos bis zur Stumpfsinnigkeit. Schwester Alessandra vergaß ihr Versprechen. Als sie daran erinnert wurde, war sie alles andere als erfreut und fand noch mehr Arbeit, die Nicci zu erledigen hatte.

Mehrere Jahre, nachdem sie in den Palast gebracht worden war, sah Nicci Bruder Narev wieder. Sie begegnete ihm ganz zufällig; er arbeitete als Stallbursche im Palast der Propheten. Die Augen fest auf sie geheftet, lächelte er sein bedächtiges Lächeln und sagte, ihr Beispiel habe ihn auf den Gedanken gebracht, den Palast der Propheten aufzusuchen. Er wolle, so erzählte er, noch miterleben, wie die Ordnung in der Welt Einzug hielt.

Sie fand, für jemanden wie ihn war dies eine seltsame Beschäftigung. Er habe erkannt, entgegnete er, dass es sittlich höher stehend sei, für die Schwestern zu arbeiten, als seine Arbeitsleistung in den Dienst gottlosen Profits zu stellen, und fügte hinzu, es spiele keine Rolle, falls sie beschließen sollte, jemandem im Palast von ihm oder seiner Arbeit für die Bruderschaft zu erzählen. Trotzdem bat er sie, den Schwestern nicht zu verraten, dass er die Gabe besaß, denn wenn sie davon erführen, würden sie ihm nicht erlauben, zu bleiben und in den Stallungen zu arbeiten, und falls sie seine Gabe entdeckten, müsste er es ablehnen, ihnen zu dienen, da er dem Schöpfer auf seine eigene stille Weise dienen wolle.

Nicci respektierte sein Geheimnis, nicht so sehr aus Loyalität, sondern hauptsächlich, weil sie viel zu sehr von ihren Studien und ihrer Arbeit in Anspruch genommen war, um sich mit Bruder Narev und seiner Bruderschaft zu befassen. Sie hatte selten Gelegenheit ihn zu sehen, wenn er die Pferdeställe ausmistete, und da seine Bedeutung während ihrer Kindheit allmählich mit ihrer Vergangenheit verschmolz, verschwendete sie keinen Gedanken mehr an ihn. Im Palast gab es Arbeit, der sie, so wünschte man, ihre Aufmerksamkeit widmen sollte – im Wesentlichen die gleiche Art von Arbeit, die auch Bruder Narev gutgeheißen hätte. Erst viele Jahre später sollte sie hinter die wahren Gründe für seinen Aufenthalt im Palast kommen.

Schwester Alessandra sorgte dafür, dass Nicci stets beschäftigt war. Für so eigensüchtige Schwächen wie einen Besuch zu Hause gewährte man ihr keine Zeit. Siebenundzwanzig Jahre, nachdem man sie verschleppt hatte, um eine Schwester des Lichts zu werden, und immer noch als Novizin, sah Nicci ihren Vater wieder. Es war bei seinem Begräbnis.

Niccis Mutter hatte sie benachrichtigt, sie möge heimkommen und ihren Vater besuchen, da es um seine Gesundheit nicht zum Besten stehe. Nicci eilte in Begleitung von Schwester Alessandra unverzüglich nach Hause, doch bei ihrem Eintreffen war ihr Vater bereits tot.

Ihre Mutter erzählte, er habe sie mehrere Wochen lang angefleht, nach seiner Tochter zu schicken. Seufzend gestand sie, sie habe es in dem Glauben hinausgezögert, er werde sich schon wieder erholen. Außerdem, so fügte sie hinzu, habe sie Niccis wichtige Arbeit nicht behindern wollen – nicht wegen einer so unbedeutenden Angelegenheit. Angeblich sei es das Einzige gewesen, um das er sie gebeten hatte: Nicci wiederzusehen. Ihre Mutter fand das albern, schließlich machte er sich nichts aus Menschen. Warum sollte er das Bedürfnis haben, jemanden wiederzusehen? Er starb allein, während ihre Mutter unterwegs war, um den Opfern einer gleichgültigen Welt beizustehen.

Zu dieser Zeit war Nicci vierzig. Ihre Mutter aber, die Nicci immer noch als junges Mädchen sah, weil sie unter dem Bann im Palast gerade so weit gealtert war, dass sie wie fünfzehn oder sechzehn wirkte, befahl ihr, ein hübsches Kleid in leuchtenden Farben anzuziehen, denn schließlich handele es sich nicht um einen wirklich traurigen Anlass.

Lange stand Nicci vor dem Leichnam und betrachtete ihn. Die Gelegenheit, noch einmal seine blauen Augen zu sehen, war für immer dahin. Zum ersten Mal seit Jahren ließ der Schmerz sie tief in ihrem Innern etwas fühlen. Es tat gut, endlich wieder etwas zu fühlen, selbst wenn es ein Schmerz war.

Während Nicci das eingefallene Gesicht ihres Vaters betrachtete, erklärte Schwester Alessandra, es tue ihr Leid, dass sie sie fortbringen müsse, aber in ihrem ganzen Leben sei sie keiner Frau begegnet, bei der die Gabe so stark ausgeprägt gewesen sei wie bei Nicci, und ein solches Geschenk des Schöpfers dürfte man nicht ungenutzt lassen.

Nicci sagte, sie verstehe. Da sie ein Talent besitze, sei es nur rechtens, dass sie es benutzte, um den Bedürftigen zu helfen.

Im Palast der Propheten galt Nicci als uneigennützigste, fürsorglichste Novizin im gesamten Haus. Alle zeigten sie mit dem Finger auf sie und befahlen den jüngeren Novizinnen, sich an Nicci ein Beispiel zu nehmen. Selbst die Prälatin hatte sie bereits lobend erwähnt.

Das Lob war in ihren Ohren nichts weiter als Gerede, es kam einer Ungerechtigkeit gleich, besser zu sein als andere. So sehr sie sich auch bemühte, Nicci konnte dem Vermächtnis ihres Vaters, besser sein zu wollen als andere, nicht entkommen. Sein verderblicher Einfluss floss durch ihre Adern, drang aus jeder Pore und verpestete alles, was sie tat. Je selbstloser sie wurde, desto mehr bestätigte dies ihre Überlegenheit und damit ihre Schlechtigkeit.

Sie war sich darüber im Klaren, dass dies nur eins bedeuten konnte: Sie war böse.

»Versuche, ihn nicht so in Erinnerung zu behalten«, sagte Schwester Alessandra nach einer langen Schweigepause, als sie vor dem Leichnam standen. »Versuche dich zu erinnern, wie er war, als er noch lebte.«

»Ich kann nicht«, erwiderte Nicci. »Als er noch lebte, habe ich ihn nicht gekannt.«

Ihre Mutter übernahm das Geschäft gemeinsam mit ihren Freunden aus der Bruderschaft. Sie schrieb Nicci freudige Briefe, in denen sie berichtete, sie habe zahlreichen Bedürftigen in der Waffenschmiede Arbeit gegeben; bei all dem Reichtum, der sich dort angehäuft habe, könne sich der Betrieb das leisten. Ihre Mutter war stolz, dass dieser Reichtum jetzt einem wohltätigen Zweck zugeführt werden konnte. Sie schrieb, insgeheim sei der Tod des Vaters ein Segen, denn er bedeute endlich Hilfe für die, die sie am meisten verdienten. Alles sei Teil des Planes des Schöpfers, schrieb sie.

Um all den Menschen, denen sie Arbeit gegeben hatte, ihre Löhne auszahlen zu können, war ihre Mutter gezwungen, die Preise zu erhöhen. Viele der älteren Arbeiter kündigten. Niccis Mutter behauptete, sie sei froh, dass sie fort waren, denn sie hätten eine unkooperative Einstellung.

Die Aufträge gingen zurück. Immer mehr Zulieferer bestanden darauf, vor Auslieferung der Waren bezahlt zu werden. Niccis Mutter setzte die Prüfung der Waren aus, weil die neuen Arbeiter sich beklagten, es sei ungerecht, einen solchen Standard aufrechtzuerhalten. Sie sagten, sie täten ihr Bestes, und das allein zähle. Niccis Mutter zeigte Verständnis. Die Schlagmühle musste verkauft werden. Einige der Kunden zogen ihre Bestellungen für Waffen und Rüstungen zurück. Niccis Mutter behauptete, ohne diese intoleranten Menschen ginge es ihnen finanziell besser. Sie ersuchte den Herzog um neue Gesetze und verlangte, die Arbeit müsse gleichmäßig verteilt werden, aber diese Gesetze ließen auf sich warten. Die wenigen verbliebenen Kunden hatten eine Zeit lang ihre Rechnungen nicht beglichen, versprachen aber, dies nachzuholen. In der Zwischenzeit wurden ihre Waren ausgeliefert, wenn auch mit Verspätung.

Innerhalb von sechs Monaten nach dem Tod von Niccis Vater ging der Betrieb bankrott; das ungeheure Vermögen, das er ein Leben lang angehäuft hatte, war zerronnen.

Einige der ausgebildeten Arbeiter, die einst von Niccis Vater eingestellt worden waren, zogen weiter, in der Hoffnung, an entlegenen Orten Arbeit in einer Waffenschmiede zu finden. Die meisten Männer, die blieben, fanden nur niedere Arbeit; und selbst dann konnten sie noch von Glück reden. Viele der neuen Arbeiter verlangten, Niccis Mutter müsse etwas unternehmen, woraufhin sie und die Bruderschaft bei anderen Betrieben nachsuchten, sie zu übernehmen. Einige Betriebe versuchten zu helfen, die meisten waren jedoch nicht in der Lage, zusätzliche Arbeiter einzustellen.

Die Waffenschmiede war der größte Arbeitgeber der Region gewesen; andere Betriebe, darunter Handelsbetriebe, kleinere Zulieferer und Transportunternehmen, die von der Waffenschmiede abhängig gewesen waren, gingen aus Mangel an Aufträgen Pleite. Geschäfte in der Stadt, vom Bäcker bis hin zum Schlachter, verloren Kunden und waren gezwungen, Arbeiter zu entlassen.

Niccis Mutter bat den Herzog, mit dem König zu sprechen. Der Herzog erwiderte, der König denke bereits über das Problem nach.

Als die Menschen die Stadt verließen, um woanders in aufstrebenden Städten Arbeit zu finden, mussten neben der Waffenschmiede von Niccis Vater auch andere Gebäude aufgegeben werden. Auf Drängen der Bruderschaft übernahmen Hausbesetzer viele der leer stehenden Häuser. Die verlassenen Gebäude wurden zum Schauplatz von Raubüberfällen und sogar Morden, und manch eine Frau, die sich in die Nähe dieser Orte wagte, sollte dies bedauern. Niccis Mutter konnte die Waffen aus der geschlossenen Waffenschmiede nicht verkaufen, daher verteilte sie sie an die Bedürftigen, damit diese sich selbst schützen konnten. All ihren Bemühungen zum Trotz stieg die Kriminalität nur noch weiter an.

Als Anerkennung für ihre guten Werke und die Dienste, die ihr Vater für die Regierung geleistet hatte, bewilligte der König Niccis Mutter eine Pension, die es ihr erlaubte, bei eingeschränktem Personal in ihrem Haus wohnen zu bleiben. Sie setzte ihre Arbeit für die Bruderschaft fort und versuchte all die Ungerechtigkeiten auszuräumen, die ihrer Ansicht nach für das Scheitern des Betriebs verantwortlich waren. Sie hoffte, das Geschäft eines Tages wieder zu eröffnen und Leute einzustellen. Der König belohnte sie für ihre rechtschaffene Arbeit mit einer silbernen Medaille. Niccis Mutter schrieb, der König habe öffentlich erklärt, noch nie einen Menschen gesehen zu haben, der einer Fleisch gewordenen Guten Seele so nahe gekommen sei; Nicci erhielt des Öfteren Nachricht von irgendwelchen Auszeichnungen, die ihre Mutter für ihr uneigennütziges Werk verliehen bekam.

Als ihre Mutter achtzehn Jahre später starb, sah Nicci immer noch aus wie eine junge Frau von vielleicht siebzehn Jahren. Sie wünschte sich ein elegantes schwarzes Kleid, um es zu ihrer Beerdigung zu tragen – das eleganteste, das man bekommen konnte. Der Palast befand, eine solche Bitte stehe einer Novizin nicht gut zu Gesicht und komme nicht in Frage. Es hieß, man werde ihr nur schlichte, bescheidene Kleidung zur Verfügung stellen.

Als Nicci zu Hause eintraf, suchte sie den Schneider des Königs auf und erklärte ihm, sie benötige für das Begräbnis ihrer Mutter das eleganteste schwarze Kleid, das er je angefertigt habe. Er nannte ihr den Preis. Sie teilte ihm mit, dass sie kein Geld besäße, das Kleid aber trotzdem brauche.

Der Schneider, ein Mann mit Dreifachkinn, schmalzigem, aus den Ohren wucherndem Flaum, unnatürlich langen, gelblichen Fingernägeln und einem unmissverständlich lüsternen Feixen, erwiderte, auch er brauche gelegentlich gewisse Dinge. Er beugte sich zu ihr, ihren weichen Arm in seinen knotigen Fingern, und ließ durchblicken, er werde, wenn sie sich seiner Bedürfnisse annehme, bei ihr das Gleiche tun.

Bei der Beerdigung ihrer Mutter trug Nicci das eleganteste schwarze Kleid, das jemals angefertigt worden war.

Ihre Mutter hatte ihr ganzes Leben den Bedürfnissen anderer gewidmet. Nie wieder würde Nicci sich darauf freuen können, in ihre kakerlakenbraunen Augen zu blicken. Anders als bei der Beerdigung ihres Vaters verspürte Nicci keinen Schmerz, der sich in ihren Körper hineinbohrte, um jene unergründliche Stelle in ihrem Innern zu berühren. Nicci war sich im Klaren, dass sie ein fürchterlicher Mensch war.

Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass es sie aus irgendeinem Grund nicht länger scherte.

Von jenem Tag an trug Nicci keine andere Farbe mehr als Schwarz.

Einhundertundzwanzig Jahre später sah Nicci – am Geländer stehend, das den großen Saal umrahmte – in ein Augenpaar, aus dem ihr ein Gespür für innere, lieb gewonnene Werte entgegenschaute, und war überwältigt. Doch was in den Augen ihres Vaters nur ein unsicheres Glimmen gewesen war, loderte in Richards Augen wie ein gewaltiges Feuer. Was es war, wusste sie noch immer nicht.

Sie wusste nur, dass es den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachte und dass sie diesen Mann vernichten musste.

Jetzt, endlich, wusste sie auch, wie.

Hätte doch nur jemand, als sie noch klein war, ihrem Vater diese Gnade erwiesen.

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