58

Richard konnte Neals Atem im Nacken spüren. Der junge Ordensbruder schaute Richard über die Schulter, während er mit leichten, rhythmischen Schlägen den Kopf des Meißels bearbeitete, um den weit aufgerissenen Mund eines gequält aufschreienden Sünders zu modellieren, dessen Leib soeben vom Hüter der Unterwelt in Stücke gerissen wurde.

»Das ist ziemlich gut«, murmelte Neal, übermannt von der Freude über das, was er sah.

Sich mit seiner Meißelhand auf dem Steinquader abstützend, stemmte Richard sich hoch. »Danke, Bruder Neal.«

Neal starrte ihn hochmütig und herausfordernd aus seinen braunen Augen an, die von derselben Farbe waren wie sein graubraunes, freudloses Gewand. Richard tat nichts, um diese Provokation zu erwidern.

»Du weißt, dass ich dich nicht mag, Richard.«

»Niemand ist es wert, gemocht zu werden, Bruder Neal.«

»Du weißt auf alles eine Antwort, was, Richard?« Daraufhin lächelte der junge Zauberer, langte unter seine Kapuze und kratzte sich sein kurz geschorenes graubraunes Haar. »Weißt du, warum du diese Arbeit bekommen hast?«

»Weil mir der Orden Gelegenheit geben wollte, dazu beizutragen…«

»Nein, nein«, unterbrach Neal, plötzlich voller Ungeduld. »Ich meinte, ob du weißt, weshalb die Stelle überhaupt frei war? Weißt du, warum wir Bildhauer benötigten, wodurch sich dir die ausgezeichnete Möglichkeit auf eine Anstellung bot?«

Richard wusste nur zu gut, warum sie Bildhauer gebraucht hatten.

»Nein, Bruder Neal. Ich war damals noch ein einfacher Arbeiter.«

»Viele von ihnen wurden hingerichtet.«

»Dann müssen sie Verrat an unserer Sache begangen haben. Ich bin froh, dass der Orden sie gefasst hat.«

Neals verschlagenes Lächeln kehrte zurück, und er zuckte mit den Achseln. »Mag sein. Ich habe gleich gesehen, dass ihre Einstellung mangelhaft war. Sie dachten viel zu sehr an sich selbst, an das, was sie in ihrem Eigensinn … für ihre Begabung hielten. Eine recht altmodische Vorstellung, findest du nicht auch, Richard?«

»Davon weiß ich nichts, Bruder Neal. Ich weiß nur, dass ich bildhauern kann und dankbar bin für die Gelegenheit, meine Pflicht gegenüber meinen Mitmenschen zu erfüllen, indem ich mein Bemühen in ihren Dienst stelle.«

Neal trat einen Schritt zurück und bedachte Richard mit einem abschätzenden Blick, so als wollte er ergründen, ob seine Bemerkung spöttisch gewesen war oder nicht. Richard weigerte sich, Neal die gewünschte Eröffnung zu liefern, also sagte er einfach rundheraus, was er meinte.

»Ich hatte den Eindruck, einige von ihnen hatten es womöglich darauf abgesehen, den Orden durch ihre Arbeit zu verhöhnen. Ich dachte, möglicherweise benutzen sie ihre Bildhauerei dazu, unsere gute Sache zu verspotten und der Lächerlichkeit preiszugeben.«

»Tatsächlich, Bruder Neal? Auf den Gedanken wäre ich nie gekommen.«

»Deswegen bist du auch ein Niemand und wirst immer ein Niemand bleiben. Du bist ein Nichts. Genau wie all diese anderen Bildhauer.«

»Ich weiß durchaus, dass ich nicht wichtig bin, Bruder Neal. Es wäre falsch zu glauben, ich hätte einen anderen Wert als den meiner Arbeit für das allgemeine Wohl. Ich habe kein anderes Ziel, als hart im Dienste des Schöpfers zu arbeiten, um mir meinen Lohn im nächsten Leben zu verdienen.«

Das Lächeln war erloschen und wich einem leidenschaftlich finsteren Blick. »Ich befahl, sie hinzurichten – nachdem ich aus jedem von ihnen ein Geständnis herausgefoltert hatte.«

Richards Faust ballte sich fester um den Meißel. Obwohl er äußerlich ruhig war, spielte er mit dem Gedanken, Neal den Meißel durch den Schädel zu treiben. Er wusste, dass er es schaffen konnte, bevor der Mann Gelegenheit hatte zu reagieren. Aber was wäre damit gewonnen? Nichts.

»Ich bin froh, dass Ihr die Verräter unter uns aufgespürt habt, Bruder Neal.«

Einen kurzen Augenblick lang kniff Neal argwöhnisch die Augen zusammen. Schließlich schürzte er die Lippen, ließ den Gedanken fallen und wandte sich unvermittelt wehenden Gewandes herum.

»Komm mit«, befahl der Glaubensbruder mit ernster Stimme, während er davonmarschierte.

Richard folgte ihm über das von den kreuz und quer laufenden Arbeitern und dem Material, das auf die Baustelle geschleppt, getragen oder gerollt wurde, zu Morast zerwühlte Feld. Sie schritten an der scheinbar endlosen Fassade des Palastes entlang. Die steinernen Mauern mit ihren unzähligen Fensterreihen wuchsen immer mehr in den Himmel, ihre Anordnung schien endlich Gestalt anzunehmen. Viele der Balken für das zweite Stockwerk waren bereits in die Wandhalterungen eingelassen worden. Das Labyrinth aus Innenmauern wuchs, Innenräume und Gänge festlegend, ebenfalls in die Höhe. Die Gänge im Palast würden sich über Meilen erstrecken, und es gab Dutzende von Treppenhäusern in den unterschiedlichsten Phasen ihrer Entstehung.

Nicht mehr lange, und einige der Räume im Kellergeschoss würden mit Eichendielen abgedeckt und damit verschlossen werden. Zuvor allerdings musste das Dach über diesen Abschnitten fertig gestellt werden, damit der Regen die Fußböden nicht ruinierte. Für einige der weiter außen gelegenen Räumlichkeiten waren Dächer vorgesehen, die niedriger waren als das sich zu schwindelnder Höhe aufschwingende Hauptgebäude. Richard erwartete, dass man diese niedrigeren Gebäudeteile noch vor den winterlichen Regenfällen mit Schiefer- und Bleidächern versehen würde. Er hielt sich dicht hinter Bruder Neal, während sie auf den Haupteingang des Palastes zuschritten. Dort waren die Mauern höher; sie befanden sich in einem weiter fortgeschrittenen Stadium ihrer Entstehung, und viele der Verzierungen waren bereits angebracht worden. Neal sprang, zwei Stufen auf einmal nehmend, die halbkreisförmige, auf den Vorplatz führende Marmortreppe hinauf. Die weißen Marmorsäulen bildeten einen eindrucksvollen Bogen; auf ihren Kapitellen waren bereits zahlreiche Statuen aufgestellt worden. Es war, dank der zahllosen gequälten, zu Stein erstarrten Gestalten, ein einschüchternder Anblick, genau wie beabsichtigt.

Der Boden des Platzes bestand aus grau geädertem Cavaturamarmor. Wenn die Sonne auf den Marmor schien, erstrahlte der von einem Halbkreis aus hoch aufragenden Säulen umstandene Vorplatz in prächtigem Glanz. Die gebrochenen, in Stein gehauenen Gestalten, die den Vorplatz säumten, schienen beim Anblick des Lichts gequält aufzuschreien – was exakt dem von Bruder Narev gewünschten Effekt entsprach.

Neal machte eine ausladende Armbewegung. »Hier wird die große Statue stehen – die Statue, die den Eingang zum Ruhesitz des Kaisers schmücken wird.« Er drehte sich mit erhobenen Armen einmal ganz im Kreis. »An dieser Stelle werden die Menschen in den prunkvollen Palast eintreten. Hier werden die Menschen sich auf dem Weg zu den Beamten des Ordens einfinden. Hier werden sie dem Schöpfer näher sein.«

Richard sagte nichts. Neal betrachtete ihn einen Augenblick lang, dann baute er sich in der Platzmitte auf und reckte die Arme der Sonne entgegen.

»Hier, genau an dieser Stelle, wird die Statue zum Ruhm des Schöpfers stehen und Sein Licht in einer Sonnenuhr verwenden. Das Licht wird die Verabscheuungswürdigkeit der Geschöpfe in den Statuen – der Menschheit – offenbaren. Es wird ein Denkmal der boshaften Natur des Menschen werden, der, zu seiner jämmerlichen Existenz in dieser Welt verdammt, von Natur aus sündig ist und sich in Demut niederwirft, sobald das Licht des Schöpfers seinen hassenswerten Körper und seine hassenswerte Seele als das offenbart, was sie sind – hoffnungslos verdorben.«

Richard überlegte. Wenn der Wahnsinn seinen Meister gefunden hatte, dann im Orden der Imperialen Ordnung und in den Menschen, die ebenso dachten wie sie.

Neal senkte seine Arme wieder, ein Dirigent, der einen triumphalen Auftritt beendet.

»Und du, Richard, wirst diese Statue in Stein meißeln.«

Richard war sich des Hammers in seiner angespannten Faust überdeutlich bewusst. »Jawohl, Bruder Neal.«

Neal fuchtelte mit einem Finger dicht vor seiner Nase und grinste in teuflischem Entzücken. »Ich glaube, du begreifst nicht ganz, Richard.« Gebieterisch hob er seine Hand. »Warte. Warte genau hier.«

Er entfernte sich mit großen Schritten, wobei sein braunes Gewand hinter ihm wirbelte wie schlammiges Wasser in einer gewaltigen Flut. Neal holte einen Gegenstand, der hinter den Marmorsäulen stand, und kam, ihn in einer Hand tragend, zurück.

Es war eine kleine Statue. Er stellte sie an der Stelle ab, wo die strahlenförmigen Linien im Marmorboden in einem Punkt der Platzmitte zusammenliefen. Es war ein Gipsmodell dessen, was Bruder Neal Richard soeben enthüllt hatte. Wenn überhaupt, so war sie eher noch scheußlicher, als Neal sie ihm beschrieben hatte. Am liebsten hätte Richard sie auf der Stelle mit seinem Hammer in Stücke geschlagen. Die Vernichtung einer solchen Widerwärtigkeit wäre es fast wert gewesen, dafür zu sterben.

Fast.

»Das ist sie«, erklärte Neal. »Bruder Narev hat einen Bildhauermeister ein Modell der Sonnenuhr nach seinen Anweisungen anfertigen lassen. Bruder Narevs Vision ist wahrlich bemerkenswert. Sie ist vollkommen, findest du nicht?«

»Sie ist exakt so Grauen erregend, wie Ihr sie beschrieben habt, Bruder Neal.«

»Und du wirst sie in Stein hauen. Vergrößere sie einfach maßstabgetreu zu einer großen Statue aus weißem Marmor.«

Richard nickte benommen. »Jawohl, Bruder Narev.«

Abermals wedelte er geradezu entzückt mit seinem Finger. »Nein, nein, du verstehst noch immer nicht ganz, Richard.« Er grinste wie ein Waschweib, das mit einem ganzen Korb voll schmutzigen Tratsches am Gartenzaun steht. »Ich habe ein paar Nachforschungen über dich angestellt, musst du wissen. Bruder Narev und ich haben dir nie über den Weg getraut, Richard Cypher. Keine Minute. Jetzt wissen wir alles über dich. Ich bin hinter dein Geheimnis gekommen.«

Ein kalter Schauer überlief Richard. Seine Muskeln wurden hart wie Stein. Er machte sich bereit, sich in den Kampf zu stürzen. Jetzt schien es keinen anderen Ausweg mehr zu geben, als zu kämpfen. Neal war kurz davor zu sterben.

»Ich habe mit Volksprotektor Muksin gesprochen, musst du wissen.«

Richard war bestürzt. »Mit wem?«

Neal zeigte ihm ein siegessicheres Lächeln. »Dem Mann, der dich dazu verurteilt hat, als Bildhauer zu arbeiten. Er wusste deinen Namen noch. Er zeigte mir die deinen Fall betreffende Verfügung; du hast einen Verstoß gegen das Bürgerrecht gestanden. Auch die Strafe nannte er mir – zweiundzwanzig Goldtaler. Ein ansehnlicher Betrag.« Neal drohte abermals mit seinem Finger. »Das war ein Fehlurteil, Richard, und das weißt du. Niemand kann durch einen bloßen Verstoß gegen das Bürgerrecht in den Besitz eines solchen Vermögens gelangen. Ein solcher Gewinn kann nur unrechtmäßig erworben sein.«

Richards Anspannung löste sich ein wenig. Seine Finger schmerzten, weil er den Hammer so fest umklammert hielt.

»Nein«, fuhr Neal fort, »um ein Vermögen von zweiundzwanzig Goldtalern anzuhäufen, musst du eine sehr viel schwerwiegendere Tat begangen haben. Offensichtlich hast du dich eines sehr schwerwiegenden Verbrechens schuldig gemacht.«

Neal breitete die Hände aus wie der Schöpfer über eines seiner Schafe. »Ich werde mich deiner erbarmen, Richard.«

»Ist Bruder Narev denn einverstanden, dass Ihr Euch meiner erbarmt?«

»Aber gewiss. Siehst du, die Statue wird deine Buße an den Orden sein – deine Art der Wiedergutmachung für deine verruchte Tat. Du wirst diese Statue erschaffen, wenn du nicht gerade deinen anderen Arbeiten als Bildhauer für den Palast nachgehst. Du wirst keinerlei Bezahlung für sie erhalten. Gemäß Verfügung darfst du keinen Marmor aus den Beständen entwenden, die der Orden für den Ruhesitz des Kaisers angeschafft hat, sondern musst dir den Marmor aus deinen eigenen Mitteln beschaffen. Und wenn du ein Jahrzehnt arbeiten musst, um diese Summe zu verdienen, umso besser.«

»Soll das heißen, ich soll tagsüber hier auf meiner Arbeitsstelle als Bildhauer arbeiten und die Statue des Nachts, in meiner freien Zeit herstellen?«

»In deiner freien Zeit? Was für ein unredlicher Begriff.«

»Aber wann soll ich denn schlafen?«

»Schlaf interessiert den Orden nicht – wohl aber Gerechtigkeit.«

Richard atmete tief durch, um sich zu beruhigen. Er deutete mit dem Hammer auf das auf dem Boden stehende Ding.

»Und das hier soll ich in Stein meißeln?«

»So ist es. Den Stein wirst du dir auf eigene Kosten besorgen, und deine Arbeit wird dein Beitrag zum Wohl deiner Mitmenschen sein. Das Ganze wird dein Geschenk an die Menschen des Ordens sein, als Buße für deine ruchlosen Taten. Männer wie du, die über eine gewisse Begabung verfügen, müssen frohen Herzens mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zur Unterstützung des Ordens beitragen.«

Bruder Neal machte eine ausladende Armbewegung. »In diesem Winter soll eine Weihung des Palastes stattfinden. Die Menschen benötigen einen greifbaren Beweis dafür, dass der Orden im Stande ist, ein so anspruchsvolles Vorhaben wie diesen herrlichen Palast in die Tat umzusetzen. Sie haben die Lektionen, die ihnen der Palast erteilen wird, dringend nötig.

Bruder Narev kann es kaum erwarten, den Palast zu weihen. Er wünscht noch diesen Winter eine gewaltige Zeremonie abzuhalten, an der zahlreiche Würdenträger des Ordens teilnehmen werden. Der Krieg schreitet voran; die Menschen müssen sehen, dass auch ihr Palast Fortschritte macht. Sie müssen die Ergebnisse ihrer Opfer sehen.«

»Ich fühle mich geehrt, Bruder Neal.«

Neal feixte. »Das solltest du auch.«

»Was, wenn ich … der Aufgabe nicht gewachsen bin?«

Neals Feixen weitete sich zu einem breiten Grinsen. »Dann wirst du wieder in Gewahrsam genommen und den Inquisitoren des Protektors Muksin übergeben werden, bis du gestehst. Hast du dann endlich gestanden, wird man dich an einem Pfahl aufhängen, und die Vögel werden sich an deinem Fleische gütlich tun.«

Bruder Neal deutete hinunter auf das groteske, lächerliche Modell.

»Heb es auf. Ihm wirst du dein gesamtes Leben widmen.«


Nicci sah auf, als sie Richards Stimme hörte; er sprach mit Kamil und Nabbi. Sie hörte ihn sagen, er sei müde und könne sich ihre Schnitzerei nicht ansehen, werde es aber morgen nachholen. Nicci wusste, dass sie enttäuscht sein würden. Das sah Richard überhaupt nicht ähnlich.

Sie löffelte Buchweizenbrei und Erbsen aus einem zerbeulten Topf in eine Schale, die sie zusammen mit einem Holzlöffel auf den Tisch stellte. Brot gab es keins.

Gerne hätte sie ihm etwas Besseres gekocht, doch nach Abzug ihrer freiwilligen Spende blieb ihnen kein Geld mehr übrig. Wäre der Garten nicht gewesen, den die Frauen des Hauses hinter dem Gebäude angelegt hatten, sie wären ernsthaft in Schwierigkeiten gewesen. Nicci hatte gelernt, Gemüse anzubauen, um ihm etwas zu essen kochen zu können.

Seine Schultern waren gebeugt, sein Blick leer. Er hielt etwas in der Hand.

»Dein Abendessen ist fertig. Komm und iss.«

Richard stellte den Gegenstand auf den Tisch, neben die Öllampe. Es war eine kleine, äußerst fein gearbeitete Statue aus lauter vor Entsetzen gebückten Figuren; zum Teil waren sie von einer ringförmigen Konstruktion umgeben. Ein riesiger Blitz, der mehrere offenkundig gottlose Männer und Frauen durchbohrte, spießte sie im Erdboden fest. Es war eine erschütternde Darstellung der boshaften Natur des Menschen und von des Schöpfers Zorn ob ihrer Zügellosigkeit.

»Was ist das?«, fragte sie.

Richard ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er vergrub sein Gesicht in den Händen, fuhr sich mit den Fingern ins Haar. Nach einer Weile hob er den Kopf.

»Was du immer wolltest«, erwiderte er ruhig.

»Was ich immer wollte?«

»Meine Strafe.«

»Strafe?«

Richard nickte. »Bruder Narev hat von der Geldstrafe über zweiundzwanzig Goldtaler erfahren. Er sagte, ich müsse ein Verbrechen begangen haben, um an so viel Geld zu kommen, und verurteilte mich dazu, eine Statue für den Haupteingang des Kaiserpalastes zu schaffen.«

Niccis Blick fiel auf das kleine Ding auf dem Tisch. »Was ist das?«

»Eine Sonnenuhr. Dies ist der Ring, auf dem die Stundenangaben eingeätzt werden. Der Blitz wirft einen Schatten des Lichts des Schöpfers auf den Ring, damit man die Tageszeit ablesen kann.«

»Ich verstehe noch immer nicht. Wieso ist das eine Strafe? Du bist Bildhauer, das ist doch deine Arbeit.«

Richard schüttelte den Kopf. »Ich soll den Stein von meinem eigenen Geld kaufen, und ich soll diese Statue nachts, in meiner freien Zeit, bildhauern, als mein Geschenk an den Orden.«

»Und wieso siehst du darin eine Erfüllung dessen, was ich mir gewünscht habe?«

Richard ließ seinen Finger an dem Blitz hinabgleiten, während er die Statue genau betrachtete. »Du hast mich hierher, in die Alte Welt verschleppt, weil du wolltest, dass ich meinen Irrweg erkenne. Das habe ich getan. Ich hätte mich irgendeines Verbrechens für schuldig bekennen und es denen überlassen sollen, allem ein Ende zu machen.«

Ohne nachzudenken, langte Nicci über den Tisch und ergriff seine Hand. »Nein, Richard, das war es nicht, was ich wollte.«

Er zog seine Hand fort.

Nicci schob die Schale näher zu ihm hin. »Iss, Richard. Du musst bei Kräften bleiben.«

Klaglos tat er, was sie von ihm verlangte, ein Gefangener, der auf Befehl gehorchte. Sie ertrug es nicht, ihn so zu sehen.

Das Funkeln in seinen Augen war erloschen, genauso wie damals in den Augen ihres Vaters.

Seine Augen wirkten leblos, als er die Statue auf dem Tisch anschaute. Es war, als wäre alle Lebendigkeit, alle Kraft und Hoffnung von ihm gewichen. Nachdem er zu Ende gegessen hatte, ging er wortlos zu seinem Bett, legte sich nieder und kehrte ihr den Rücken zu.

Nicci saß am Tisch, lauschte auf das leise Knistern der Flamme in der Lampe und schaute zu, wie Richard gleichmäßig atmend allmählich in den Schlaf hinüberglitt.

Es war, als wäre seine Seele zerschmettert worden. Lange Zeit hatte sie fest daran geglaubt, sie könnte eine wertvolle Erfahrung machen, wenn er zum Äußersten getrieben wurde. Doch offenbar hatte sie sich getäuscht, und schließlich hatte er aufgegeben. Jetzt konnte sie nichts mehr von ihm lernen.

Viel blieb ihr nicht mehr zu tun. Es hatte wenig Sinn, das Unternehmen fortzusetzen. Für einen kurzen Augenblick schien das Gewicht ihrer Enttäuschung sie zu erdrücken, dann war sogar das vorbei.

Innerlich leer und bar jeden Gefühls nahm Nicci Schale und Löffel und trug beides hinüber zu dem Eimer mit Spülwasser. Sie arbeitete leise, um ihn nicht aufzuwecken, und fand sich damit ab, zu Jagang zurückkehren zu müssen.

Es war nicht Richards Schuld, dass sie nichts von ihm lernen konnte, das Leben hatte keine weiteren Erkenntnisse zu bieten. Das war alles, mehr gab es nicht. Ihre Mutter hatte Recht behalten.

Nicci holte das Metzgermesser hervor und legte es leise auf den Tisch.

Richard hatte genug gelitten.

Es wäre nur zum Besten so.

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