Richard stand auf und zog sein Schwert. Als dessen charakteristisches Geräusch diesmal in die Nacht hinaushallte, lag Kahlan wach. Instinktiv war ihr erster Gedanke, sich aufzusetzen. Noch bevor sie Zeit fand, es sich eines Besseren zu überlegen, war Richard bereits in die Hocke gegangen und hatte sie mit sanfter Hand zurückgehalten. Sie hob gerade weit genug ihren Kopf, um zu erkennen, dass es Cara war, die einen Mann in den grellen, flackernden Schein des Lagerfeuers führte. Richard schob sein Schwert zurück in die Scheide, als er sah, wen Cara bei sich hatte: Captain Meiffert, den d’Haranischen Offizier, der sie bereits in Anderith begleitet hatte.
Noch bevor es zu einer anderen Form der Begrüßung kam, ließ der Mann sich auf die Knie fallen und beugte sich vor, bis er mit der Stirn den weichen, mit Fichtennadeln übersäten Untergrund berührte.
»Herrscher Rahl, führe uns. Herrscher Rahl, lehre uns. Herrscher Rahl, beschütze uns. In deinem Licht gedeihen wir. In deiner Gnade finden wir Schutz. Deine Weisheit erfüllt uns mit Demut. Wir leben nur, um zu dienen. Unser Leben gehört dir.«
Als er auf die Knie sank, um die Andacht, wie sie genannt wurde, zu sprechen, beobachtete Kahlan, wie Cara beinahe reflexartig mit ihm auf die Knie ging, so eingefleischt war dieses Ritual. Alle D’Haraner sprachen dieses Bittgebet an ihren Lord Rahl. An der Front wurde es gewöhnlich einmal, zu bestimmten Anlässen auch dreimal aufgesagt. Im Palast des Volkes in D’Hara versammelte sich der größte Teil der Bevölkerung zweimal täglich, um die Andacht ausgiebig zu psalmodieren.
Während seiner Zeit als Gefangener Darken Rahls war auch Richard von einer Mord-Sith auf die Knie gezwungen worden und hatte diese Andacht, oft in fast demselben Zustand wie Tommy Lancaster unmittelbar vor seinem Tod, stundenlang hintereinander aufsagen müssen. Jetzt huldigten die Mord-Sith, wie alle D’Haraner, in dieser Weise Richard. Wenn die Mord-Sith diese Wendung der Ereignisse als unwahrscheinlich erachteten oder darin eine Ironie sahen, so sprachen sie es zumindest niemals offen aus. Viel unwahrscheinlicher fanden viele von ihnen den Umstand, dass Richard sie nicht allesamt hatte hinrichten lassen, nachdem er ihr Lord Rahl geworden war.
Dabei war es Richard gewesen, der herausgefunden hatte, dass die Andacht an den Lord Rahl tatsächlich das überlebende Zeugnis der Bande war, einer uralten Magie, ins Leben gerufen von einem seiner Vorfahren, um das Volk der D’Haraner vor den Traumwandlern zu schützen. Lange Zeit hatte man geglaubt, die Traumwandler – von Zauberern als Waffe während jenes nahezu vergessenen Krieges in grauer Vorzeit geschaffen – seien vom Angesicht der Welt verschwunden. Das Heraufbeschwören merkwürdiger und vielfältiger Fähigkeiten – das Versehen der Menschen mit unnatürlichen Eigenschaften, gegen ihren Willen oder nicht – war einst eine geheimnisvolle Kunst gewesen, deren Resultate stets zumindest unvorhersehbar, oft ungewiss und manchmal auf gefährliche Weise instabil waren. Irgendwie war ein Funken dieser bösartigen Manipulationen, die dreitausend Jahre im Verborgenen auf der Lauer gelegen hatten, von Generation zu Generation weitergegeben worden, bis er sich in der Person Kaiser Jagangs schließlich aufs Neue entzündet hatte.
Kahlan wusste so manches über die Umwandlung lebender Wesen zu einem bestimmten Zweck – Konfessoren gehörten ebenso zu diesen Menschen wie einst die Traumwandler. Sie sah in Jagang ein von Magie geschaffenes Ungeheuer und wusste, dass viele Menschen in ihr dasselbe sahen. Manche Menschen hatten blondes Haar oder braune Augen, sie war dazu geboren, groß zu werden, mit Haar von einer warmen, braunen Farbe, mit grünen Augen und den Fähigkeiten einer Konfessor, dabei hatte sie ebenso Freude an den Dingen, lachte sie ebenso gerne und hatte sie die gleichen Wünsche wie jene, die mit blondem Haar oder braunen Augen, aber ohne die speziellen Fähigkeiten einer Konfessor geboren wurden.
Kahlan machte aus triftigen moralischen Gründen von ihrer Kraft Gebrauch. Zweifellos glaubte Jagang dasselbe von sich, und selbst wenn nicht, so glaubten dies ganz sicher die meisten seiner Anhänger.
Auch Richard war mit einer verborgenen Kraft geboren worden. Der uralte, mit seiner Person verbundene Schutzmechanismus der Bande wurde an jeden mit der Gabe gesegneten Rahl weitervererbt. Ohne den Schutz der Bande zu Richard – dem Lord Rahl – ob förmlich ausgesprochen oder als tiefe, stillschweigende Verwandtschaft empfunden – war jedermann Jagangs Macht als Traumwandler ausgeliefert.
Im Gegensatz zu den meisten anderen Veränderungen, die Zauberer bei lebenden Menschen bewirken, war die Fähigkeit einer Konfessor stets lebendig geblieben; zumindest galt dies bis zur Ermordung aller anderen Konfessoren auf Befehl Darken Rahls. Jetzt, da es solche Zauberer mit ihren ganz besonders ausgebildeten Zauberkünsten nicht mehr gab, würde die Konfessor-Magie nur weiterexistieren, wenn Kahlan Kinder bekam.
Gewöhnlich brachten Konfessoren Mädchen zur Welt, aber nicht immer. Ursprünglich war die Kraft einer Konfessor ausschließlich dafür geschaffen und bestimmt gewesen, von Frauen eingesetzt zu werden. Wie alle anderen Zaubermittel, die den Menschen von der Natur nicht vorgesehene Fähigkeiten eröffneten, hatte auch dieses unvorhergesehene Folgen: Es stellte sich heraus, dass auch die männlichen Kinder einer Konfessor diese Kraft besaßen. Nachdem man hatte erfahren müssen, wie tückisch sich diese Kraft bei Männern auswirken konnte, sonderte man alle männlichen Kinder bedenkenlos als minderwertig aus.
Dass Kahlan ein männliches Kind zur Welt bringen könnte, entsprach exakt den Befürchtungen der Hexe Shota. Shota war sich sehr wohl bewusst, dass Richard niemals wegen früherer Schandtaten männlicher Konfessoren der Tötung seines und Kahlans Sohn zustimmen würde. Auch Kahlan würde niemals zulassen, dass Richards Sohn getötet wurde. Die Unfähigkeit einer Konfessor, aus Liebe zu heiraten, hatte früher stets als eine der Begründungen dafür herhalten müssen, dass sie die Praxis der Kindestötung gefühlsmäßig ertrug. Indem er herausfand, wie er und Kahlan sich vereinigen konnten, hatte Richard auch diese Gleichung verändert.
Aber Shota hatte nicht einfach nur Angst, Kahlan könnte einen männlichen Konfessor gebären, ihre Befürchtungen bezogen sich auf etwas von möglicherweise weitaus größerem Gewicht – sie konnte einen männlichen Konfessor zur Welt bringen, der Richards Gabe besaß. Shota hatte geweissagt, Kahlan und Richard würden ein männliches Kind zeugen; ein solches Kind galt in Shotas Augen als bösartiges Ungeheuer, dessen Gefährlichkeit jedes Begriffsvermögen sprengte, daher hatte sie geschworen, ihren Nachwuchs zu beseitigen. Um es gar nicht erst so weit kommen zu lassen, hatte sie ihnen jene Halskette geschenkt, die verhindern sollte, dass Kahlan schwanger wurde…
Kahlan fiel auf, dass Captain Meiffert die Andacht ein drittes Mal sprach, während Caras Lippen sich synchron zu seinen bewegten. Das leise Psalmodieren ließ Kahlan schläfrig werden.
Für Kahlan war es ein Luxus, unten im geschützten Lager bei Richard und Cara neben dem warmen Feuer liegen zu können, statt im Wagen bleiben zu müssen, zumal die Nacht kalt und feucht geworden war. Dank der Trage fiel es ihnen leichter, sie zu transportieren, ohne ihr übermäßig wehzutun.
Sie befanden sich weit abseits der schmalen, einsamen Straße, auf einer kleinen, in einem Spalt einer steilen Felswand verborgenen Lichtung hinter einem dichten, ausgedehnten, mit Kiefern und Fichten bestandenen Waldstück. Eine kleine Wiese nahebei diente als versteckte Koppel für die Pferde. Richard und Cara hatten den Wagen von der Straße herunter und hinter ein Gewirr aus abgestorbenem Holz gezogen und unter Fichten und Balsamzweigen versteckt. Niemand außer einem seinem Lord Rahl über die Bande verbundenen D’Haraner hatte mehr als eine geringfügige Chance, sie in dem ebenso end- wie weglosen Wald jemals aufzuspüren.
Der geschützte Flecken besaß eine Feuergrube, die Richard bei einem früheren Aufenthalt vor fast einem Jahr ausgehoben und mit einem Ring aus Steinen versehen hatte; seitdem war sie nicht mehr benutzt worden. Eine vorstehende Felsplatte ungefähr sechs oder sieben Fuß über ihnen verhinderte, dass der Schein des Lagerfeuers die Felswand hinaufleuchtete, und trug dazu bei, dass das Lager versteckt blieb. Dank ihrer Schräge blieben sie trotz des leichten Nieselregens, der mittlerweile eingesetzt hatte, geborgen und trocken. Da obendrein noch Nebel aufkam, war der Ort der geschützteste und sicherste Lagerplatz, den Kahlan je gesehen hatte. Richard hatte also Wort gehalten.
Es hatte eher sechs als vier Stunden gedauert, den Lagerplatz zu erreichen. Kahlan zuliebe hatte Richard nur ein langsames Tempo angeschlagen. Es war spät, und der lange Reisetag hatte sie alle ermüdet, von dem Überfall ganz zu schweigen. Richard hatte ihr erklärt, dass es so aussah, als könnte es ein oder zwei Tage lang regnen, und dass sie im Lager bleiben und sich ausruhen würden, bis das Wetter aufklarte. Sie hatten es nicht eilig, an ihr Ziel zu gelangen.
Nach der dritten Andacht erhob sich Captain Meiffert wankend. Er klopfte sich mit seiner rechten Faust zum Gruß auf das Leder über seinem Herzen. Richard lächelte, woraufhin sich die beiden zu einer weniger förmlichen Begrüßung an den Unterarmen fassten.
»Wie geht es Euch, Captain?« Richard ergriff den Ellbogen des Mannes. »Was ist passiert? Seid Ihr etwa von Eurem Pferd gestürzt?«
Der Captain warf einen Blick auf Cara, die neben ihm stand. »Aber nein, mir geht es gut, Lord Rahl. Wirklich.«
»Ihr seht aus, als wärt Ihr verletzt.«
»Ich habe mir von Eurer Mord-Sith nur ein wenig … die Rippen kitzeln lassen, das ist alles.«
»Aber nicht so fest, dass sie hätten brechen können«, spottete Cara.
»Tut mir aufrichtig Leid, Captain. Wir hatten heute früh ein wenig Ärger. Zweifellos war Cara um unsere Sicherheit besorgt, als sie Euch im Dunkeln näherkommen sah.« Richards Blick schwenkte hinüber zu Cara. »Trotzdem hätte sie ein wenig vorsichtiger sein sollen, sonst läuft sie noch Gefahr, jemanden zu verletzen. Ich bin sicher, es tut ihr Leid, und sie möchte sich entschuldigen.«
Cara zog ein sauertöpfisches Gesicht. »Es war dunkel. Ich bin nicht bereit, unsinnige Risiken einzugehen, wenn das Leben des Lord Rahl auf dem Spiel steht…«
»Das will ich auch nicht hoffen«, warf Captain Meiffert ein, bevor Richard ihr einen Verweis erteilen konnte. Er sah Cara lächelnd an. »Einmal wurde ich von einem kräftigen Schlachtross getreten. Wie Ihr mich niedergeschlagen habt, das war gekonnter, Herrin Cara. Es freut mich zu sehen, dass sich Lord Rahls Leben in fähigen Händen befindet. Wenn ein paar schmerzende Rippen der Preis dafür sind, so bin ich gern bereit, ihn zu bezahlen.«
Caras Gesicht hellte sich auf. Das unkomplizierte Entgegenkommen des Captains nahm der möglicherweise brenzligen Situation jegliche Schärfe.
»Falls Euch die Rippen plagen, so lasst es mich wissen«, erwiderte Cara trocken. »Ich werde mir etwas ausdenken, damit Ihr Euch wieder besser fühlt.« Richard funkelte sie in der darauf folgenden Stille zornig an, woraufhin sie, sich verlegen am Ohr kratzend, schließlich hinzufügte: »Wie auch immer, es tut mir Leid. Aber ich wollte kein Risiko eingehen.«
»Wie ich bereits sagte, einen solchen Preis bin ich gerne bereit zu zahlen. Ich möchte Euch für Eure Umsicht danken.«
»Was führt Euch her, Captain?«, fragte Richard. »Hat General Reibisch Euch geschickt, um nachzusehen, ob Lord Rahl verrückt geworden ist?«
Obwohl man es im Schein des Feuers unmöglich erkennen konnte, war Kahlan sicher, dass der Mann tiefrot anlief. »Nein, selbstverständlich nicht, Lord Rahl. Der General wollte nur, dass Ihr einen umfassenden Bericht erhaltet.«
»Verstehe.« Richards Blick streifte den Topf mit ihrem Abendessen. »Wann habt Ihr das letzte Mal gegessen, Captain? Ihr wirkt ein wenig mitgenommen, von den schmerzenden Rippen mal abgesehen.«
»Nun, äh, ich bin scharf geritten, Lord Rahl. Ich glaube, gestern habe ich etwas gegessen, aber es geht mir ausgezeichnet. Ich kann etwas bekommen, sobald ich…«
»So setzt Euch doch.« Richard machte eine einladende Handbewegung. »Erlaubt, dass ich Euch etwas Warmes zu essen hole. Das wird Euch gut tun.«
Während der Mann sich zögernd auf dem moosbewachsenen Boden neben Kahlan und Cara niederließ, löffelte Richard etwas Reis mit Bohnen in einen Napf und schnitt ein großes Stück Hafermehlkuchen von dem Laib ab, den er zum Abkühlen auf den Rost neben das Feuer gelegt hatte, anschließend reichte er dem Mann den Napf. Captain Meiffert sah keine Möglichkeit, sich dem zu entziehen; plötzlich befand er sich in der Situation, von keinem Geringeren als dem Lord Rahl persönlich bedient zu werden, und fühlte sich zutiefst gepeinigt.
Richard war gezwungen, ihm das Essen ein zweites Mal anzubieten, bevor er es entgegennahm. »Nur etwas Reis mit Bohnen, Captain. Es ist schließlich nicht so, als würde ich Euch Caras Hand anbieten.«
Cara brach in schallendes Gelächter aus. »Mord-Sith heiraten nicht. Sie nehmen sich einen Gatten, wenn es sie nach ihm verlangt – er hat darauf keinerlei Einfluss.«
Richard sah zu ihr hoch. Richards Tonfall entnahm Kahlan, dass er mit der Bemerkung keine besondere Absicht verfolgt hatte – trotzdem schloss er sich Caras Gelächter nicht an. Er wusste nur zu gut, wie zutreffend ihre Bemerkung war. Der Vorgang hatte mit Liebe nichts zu tun, ganz im Gegenteil. Während alles verlegen schwieg, wurde Cara bewusst, was sie gesagt hatte, und sie beschloss, ein paar Zweige klein zu brechen und damit das Feuer zu füttern.
Kahlan wusste, dass Denna, jene Mord-Sith, die Richard gefangen genommen hatte, ihn zu ihrem Gatten gemacht hatte, und das wusste auch Cara. Manchmal, wenn Richard erschrocken aus dem Schlaf hochfuhr und sich an sie klammerte, fragte sich Kahlan, ob seine Albträume von Dingen in seiner Fantasie oder von der Wirklichkeit handelten. Wenn sie ihm dann einen Kuss auf seine schweißnasse Stirn gab und sich nach seinen Träumen erkundigte, konnte er sich nie daran erinnern; wenigstens dafür war sie dankbar.
Richard zog einen langen Stock aus dem Feuer, der an einem der Steine aus dem Ring gelehnt hatte. Mit dem Finger schob er mehrere brutzelnde Speckscheiben vom Stock in den Napf des Captains, anschließend legte er das Stück Brotfladen obenauf. Sie hatten eine Menge verschiedenartiger Nahrungsmittel dabei, so dass Kahlan gezwungen war, sich den Wagen mit all den Vorräten zu teilen, die Richard auf ihrem Weg nach Norden, nach Kernland, zusammengestellt hatte.
»Danke«, stammelte Captain Meiffert. Er strich sich seine blonde Mähne aus dem Gesicht. »Es sieht köstlich aus.«
»Das ist es auch«, bestätigte Richard. »Ihr habt Glück. Heute Abend habe ich das Essen zubereitet, und nicht Cara.«
Cara, stolz darauf, eine schlechte Köchin zu sein, lächelte, als sei dies ein besonderer Vorzug.
Kahlan war sicher, dass diese Episode immer wieder vor weit aufgerissenen Augen und ungläubig staunenden Mienen erzählt werden würde: Lord Rahl setzte einem seiner Soldaten persönlich das Essen vor. Aus der Art, wie der Captain das Essen hinunterschlang, schloss Kahlan, dass er wahrscheinlich länger als nur einen Tag nichts gegessen hatte.
Er schluckte einen Bissen hinunter und sah auf. »Mein Pferd.« Er machte Anstalten aufzustehen. »Als Herrin Cara … ich habe mein Pferd vergessen. Ich muss…«
»Esst Ihr mal ruhig weiter.« Richard erhob sich und versetzte Captain Meiffert einen Schulterklaps, damit er Platz behielt. »Ich wollte ohnehin nach unseren Pferden sehen, also kann ich mich auch um das Eure kümmern. Bestimmt möchte es ebenfalls einen Schluck Wasser und etwas Hafer.«
»Aber Lord Rahl, ich kann unmöglich zulassen, dass Ihr…«
»Esst. Das spart uns Zeit. Wenn ich zurückkomme, habt ihr aufgegessen, dann könnt Ihr mir Euren Bericht geben.« Richards Umrisse verschmolzen mit den Schatten, bis man nur noch seine Stimme hörte. »Ich fürchte allerdings, ich habe noch immer keine Befehle für General Reibisch.«
In der Stille nahmen die Grillen ihr rhythmisches Gezirpe wieder auf. In einiger Entfernung hörte Kahlan den Ruf eines Nachtvogels. Jenseits der nahen Bäume wieherten die Pferde zufrieden, vermutlich, als Richard sie begrüßte. Ab und zu verirrte sich eine feine Nebelschwade unter den Felsvorsprung und benetzte ihr die Wange. Sie wünschte sich, sie könnte sich auf die Seite drehen und die Augen schließen. Richard hatte ihr ein wenig Kräutertee eingeflößt, der sie schläfrig zu machen begann. Wenigstens betäubte er auch die Schmerzen.
»Wie geht es Euch, Mutter Konfessor?«, erkundigte sich Captain Meiffert. »Alle sind furchtbar in Sorge wegen Euch.«
Es geschah nicht oft, dass eine Konfessor solch aufrichtiger und herzlicher Anteilnahme begegnete. Die einfache Frage des jungen Mannes war so ehrlich, dass sie Kahlan fast zu Tränen rührte.
»Ich befinde mich auf dem Weg der Besserung, Captain. Erzählt allen, sobald ich ein wenig Zeit gefunden habe, mich zu kurieren, werde ich wieder ganz gesund sein. Wir sind unterwegs zu einem ruhigen Ort, wo ich die frische Luft des kommenden Sommers genießen und ein wenig Ruhe und Erholung finden kann. Noch vor dem Herbst wird es mir wieder besser gehen, da bin ich ganz sicher. Lord Rahl wird dann hoffentlich auch nicht mehr so … besorgt um mich sein und sich wieder den Kriegsgeschäften widmen können.«
Der Captain lächelte. »Alle werden erleichtert sein zu hören, dass Ihr im Begriff seid, wieder gesund zu werden. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie viele Menschen mich darauf angesprochen haben, ich solle ihnen bei meiner Rückkehr berichten, wie es Euch geht.«
»Richtet ihnen aus, ich würde wieder ganz gesund und möchte sie bitten, sich nicht mehr um mich zu sorgen, sondern auf sich selber aufzupassen.«
Er aß einen weiteren Löffel. Kahlan sah ihm an den Augen an, dass seine Besorgnis noch einen anderen Grund hatte. Es dauerte eine Weile, bevor er darauf zu sprechen kam.
»Wir machen uns auch Sorgen, Ihr und Lord Rahl könntet Schutz benötigen.«
Cara, die ohnehin schon aufrecht saß, gelang es, ihren Rücken noch mehr durchzudrücken und dieser kaum merklichen Veränderung der Körperhaltung etwas Bedrohliches zu verleihen. »Lord Rahl und die Mutter Konfessor sind keinesfalls schutzlos, Captain, sie haben mich. Alles, was über eine Mord-Sith hinausgeht, wäre nichts weiter als ein bisschen bunter Flitter auf der Uniform eines Offiziers.«
Diesmal gab er nicht klein bei. Seine Stimme war erfüllt vom unmissverständlichen Ton der Autorität. »Dies ist weder eine Frage mangelnden Respekts, Herrin Cara, noch habe ich irgend etwas unterstellen wollen. Ich habe, wie Ihr, gelobt, für ihre Sicherheit zu sorgen, und das ist meine eigentliche Sorge. Diese mit Flitter besetzte Uniform ist dem Feind schon einmal zur Verteidigung von Lord Rahl entgegengetreten, und ich vermag mir nicht recht vorzustellen, dass eine Mord-Sith mich aus keinem anderen Grund als primitivem Stolz von dieser Pflicht abhalten will.«
»Wir befinden uns auf dem Weg an einen entlegenen und abgeschiedenen Ort«, warf Kahlan ein, bevor Cara etwas erwidern konnte. »Ich denke, unsere Einsamkeit und Cara werden uns ausreichend Schutz bieten. Sollte Lord Rahl etwas anderes wünschen, so wird er es bestimmt sagen.«
Er akzeptierte die Antwort mit einem zögernden Nicken; der letzte Teil entschied die Angelegenheit ohnehin.
Als Richard Kahlan nach Norden gebracht hatte, hatte er ihre Gardetruppen zurückgelassen. Wie sie wusste, war dies in voller Absicht geschehen und gehörte vermutlich zu den Dingen, die er überzeugt war tun zu müssen. Richard stand der Idee von Schutz keineswegs ablehnend gegenüber, auch früher schon hatte er akzeptiert, dass Truppen sie begleiteten. Cara hatte ebenfalls hartnäckig auf die Sicherheit bestanden, die der Begleitschutz dieser Truppen bot. Etwas anderes war es jedoch, wenn Cara dies gegenüber Captain Meiffert eingestehen sollte.
In Anderith hatten sie eine Menge Zeit mit dem Captain und seinen Elitetruppen verbracht. Kahlan kannte ihn als hervorragenden Offizier, ihrer Einschätzung nach ging er auf Mitte zwanzig zu – wahrscheinlich war er schon seit einem Jahrzehnt Soldat und hatte bereits eine Reihe von Feldzügen mitgemacht, von kleinen Aufständen bis hin zur offenen Feldschlacht. Die klaren, gesunden Züge seines Gesichts waren gerade erst im Begriff, einen erwachsenen Ausdruck anzunehmen.
Über die Jahrtausende hatten sich andere Kulturen durch Krieg, Völkerwanderung und Besatzung mit der D’Haranischen vermengt und ein Völkergemisch hervorgebracht. Groß gewachsen und breitschultrig, wiesen die blonden Haare und blauen Augen Captain Meiffert als D’Haraner aus, das Gleiche galt für Cara. Bei reinblütigen D’Haranern waren die Bande am stärksten ausgeprägt.
Nachdem er etwa die Hälfte seines Reisgerichts gegessen hatte, schaute er über seine Schulter in die Dunkelheit, wo Richard verschwunden war. Er erfasste sowohl Cara als auch Kahlan mit einem Blick aus seinen ernsten, blauen Augen.
»Ich möchte nicht, dass es abwertend oder persönlich klingt, und ich hoffe nicht, dass ich damit einen Fauxpas begehe, aber dürfte ich Euch eine heikle Frage stellen?«
»Dürft Ihr, Captain«, erwiderte Kahlan. »Aber ich kann nicht versprechen, dass wir sie beantworten.«
Die letzte Bemerkung gab ihm einen Augenblick zu denken, doch dann fuhr er fort. »General Reibisch und einige der anderen Offiziere … nun, es hat besorgte Diskussionen über Lord Rahl gegeben, wir vertrauen ihm natürlich«, beeilte er sich hinzuzufügen. »Das tun wir wirklich. Es ist nur so, dass…«
»Was macht Euch denn so besorgt, Captain?«, warf Cara ein, deren Stirn zusehends faltiger wurde. »Wo Ihr ihm doch so vertraut.«
Er rührte mit seinem Holzlöffel im Napf. »Ich war während der ganzen Geschichte in Anderith dabei. Ich weiß, wie hart er gearbeitet hat – und Ihr ebenfalls, Mutter Konfessor. Kein Lord Rahl vor ihm war jemals so um die Wünsche der Menschen besorgt. In der Vergangenheit zählten allein die Wünsche des Lord Rahl. Dann plötzlich, nach alledem, lehnen die Menschen sein Angebot ab – und damit auch ihn als Person. Er schickt uns zur Hauptstreitmacht zurück und verlässt uns einfach, um« – er deutete um sich – »hierher zu kommen. Mitten ins Nirgendwo. Um ein Eremit zu werden oder so was Ähnliches.« Er hielt inne und suchte nach den passenden Worten. »Wir können das … nicht so recht verstehen.«
Er schaute vom Feuer auf und sah ihnen wieder in die Augen, während er fortfuhr. »Wir sind besorgt, Lord Rahl könnte seinen Kampfeswillen verloren haben – und dass ihn das einfach alles nicht mehr interessiert. Oder hat er … vielleicht Angst, zu kämpfen?«
Der Ausdruck auf seinem Gesicht verriet Kahlan, dass er Repressalien befürchtete, weil er diese Dinge ansprach und diese Fragen stellte, doch offenbar war das Bedürfnis nach einer Antwort so groß, dass er bereit war, dieses Risiko einzugehen. Aus demselben Grund war er vermutlich selbst gekommen, um Bericht zu erstatten, statt einfach einen Boten zu schicken.
»Ungefähr sechs Stunden, bevor er diesen netten Eintopf aus Reis mit Bohnen fürs Abendessen kochte«, erwiderte Cara in beiläufigem Ton, »tötete er mehrere Dutzend Männer. Ganz allein. Hackte sie in Stücke, wie ich es noch nie gesehen habe. Die Grausamkeit hat sogar mich schockiert. Nur einen einzigen Mann ließ er für mich übrig, was ziemlich unfair von ihm war, wie ich finde.«
»Diese Neuigkeiten wird man gerne hören. Vielen Dank, dass Ihr mir davon erzählt, Herrin Cara.«
»Er kann keine Befehle erteilen«, sagte Kahlan, »weil er felsenfest davon überzeugt ist, dass seine Beteiligung an der Truppenführung im Kampf gegen die Armee der Imperialen Ordnung derzeit zu einer Niederlage unsererseits führen würde. Er glaubt, wenn er sich vorzeitig in den Kampf einmischt, haben wir keine Aussicht, jemals zu gewinnen. Er glaubt, den richtigen Augenblick abwarten zu müssen, das ist alles. Mehr steckt nicht dahinter.«
Kahlan fühlte sich ein wenig zerrissen, dass sie dazu beitrug, Richards Verhalten zu rechtfertigen, wo sie doch selbst nicht völlig damit einverstanden war. Im Moment hielt sie es für erforderlich, die Vorhut der Armee der Imperialen Ordnung im Auge zu behalten und ihr keine Gelegenheit zu geben, die Völker der Neuen Welt nach Belieben auszuplündern und abzuschlachten.
Der Captain ließ sich das durch den Kopf gehen, während er ein Stück Fladenbrot verspeiste. Die Stirn in Falten gelegt, gestikulierte er mit dem Stück, das übrig blieb. »Es existiert eine Schlachttheorie für diese Art von Strategie. Solange man noch Einfluss darauf hat, greift man nur an, wenn man selbst die Bedingungen bestimmt und nicht der Feind.« Er dachte einen Augenblick darüber nach und wurde immer lebhafter. »Trotz der Schäden, die der Feind in der Zwischenzeit anrichten kann, ist es besser, für einen Angriff den rechten Zeitpunkt abzuwarten, als zur Unzeit in die Schlacht zu ziehen. Ein solches Vorgehen wäre ein Zeichen von Unbeherrschtheit.«
»Das ist wohl wahr.« Kahlan zog ihren Arm zurück und drückte das rechte Handgelenk gegen die Stirn. »Vielleicht könnt Ihr es den anderen Offizieren in ebendiesen Worten erklären – dass es noch nicht an der Zeit ist, Befehle auszugeben, und er erst den richtigen Augenblick abwarten will. Ich denke, das unterscheidet sich nicht wirklich von der Erklärung, die Richard uns gegeben hat, aber vielleicht stößt eine solche Formulierung auf größeres Verständnis.«
Der Captain verspeiste seinen Fladenbrotrest und schien darüber nachzudenken. »Ich vertraue Lord Rahl mein Leben an und weiß, die anderen tun das auch, aber ich denke, eine solche Erklärung für seine Zurückhaltung bei der Befehlsausgabe wird alle beruhigen. Jetzt verstehe ich, warum er uns verlassen musste – er wollte damit der Versuchung widerstehen, sich in den Kampf zu stürzen, bevor die Zeit gekommen ist.«
Gerne wäre Kahlan von der Begründung ebenso überzeugt gewesen wie der Captain. Sie musste an Caras Frage denken, die hatte wissen wollen, wie sich das Volk Richard gegenüber beweisen konnte. Sie wusste, dass eine zweite Abstimmung für ihn nicht in Frage kam, andererseits sah sie keine andere Möglichkeit.
»Ich würde Lord Rahl gegenüber nichts davon erwähnen«, sagte sie. »Es fällt ihm schwer – keine Befehle erteilen zu können. Er versucht zu tun, was er für richtig hält, aber es ist nicht einfach, dieser Linie treu zu bleiben.«
»Verstehe, Mutter Konfessor. ›Seine Weisheit erfüllt uns mit Demut. Wir leben nur um zu dienen. Unser Leben gehört ihm.‹«
Kahlan betrachtete die glatten Züge und den schlichten Schnitt seines jungen, vom tanzenden Schein des Feuers beleuchteten Gesichts. Sie erkannte in diesem Gesicht etwas von dem, was Richard ihr vorhin hatte erklären wollen. »Richard ist nicht der Ansicht, dass Euer Leben ihm gehört, Captain, vielmehr glaubt er, dass es jedem Einzelnen selbst gehört und von unschätzbarem Wert ist. Dafür kämpft er.«
Er wählte seine Worte mit Bedacht. Auch wenn der Umstand, dass sie die Mutter Konfessor war, ihn nicht beunruhigte, da er nicht in Angst vor der Kraft und der Herrschaft einer solchen Frau aufgewachsen war, so war sie doch immer noch die Gemahlin des Lord Rahl.
»Die meisten von uns sehen durchaus, wie sehr er sich vom vorherigen Lord Rahl unterscheidet. Ich will nicht behaupten, dass wir ihn voll und ganz verstehen, aber wir wissen, dass er kämpft, um etwas zu verteidigen, und nicht um der Eroberung willen. Als Soldat weiß ich, welchen Unterschied es ausmacht, ob man daran glaubt, wofür man kämpft, denn…«
Der Captain wich ihrem harten Blick aus. Er nahm einen kleinen Zweig aus dem Feuerholz und tippte damit eine Weile auf den Boden. Seine Stimme bekam etwas Gequältes. »… denn man verliert etwas sehr Kostbares, wenn man Menschen tötet, die einem niemals etwas angetan haben.«
Das Feuer knackte und zischte, als er langsam in der Glut stocherte. Funken stoben wirbelnd in die Höhe und wallten zu allen Seiten unter dem Felsvorsprung hervor.
Cara betrachtete ihren Strafer, während sie ihn zwischen ihren Fingern rollte. »Und Ihr … empfindet ebenso?«
Captain Meiffert sah Cara in die Augen. »Mir war zuvor nie recht bewusst, was das in mir anrichtet. Ich hatte keine Ahnung. Dank Lord Rahl bin ich stolz darauf, D’Haraner zu sein. Es ist sein Verdienst, dass das für etwas steht, was richtig ist … das war früher nie der Fall. Ich dachte immer, die Dinge sind so, wie sie sind, und werden sich niemals ändern.«
Caras Blick löste sich, als sie ihm insgeheim mit einem Nicken Recht gab. Kahlan vermochte sich bestenfalls vorzustellen, wie das Leben unter dieser Art von Herrschaft ausgesehen hatte, und was sie den Menschen antat.
»Ich bin froh, dass Ihr versteht, Captain«, sagte Kahlan leise. »Deswegen ist er so sehr um Euch alle besorgt. Er möchte, dass Ihr ein Leben führt, auf das Ihr stolz sein könnt. Ein Leben, das Euch gehört.«
Er ließ den Zweig ins Feuer fallen. »Er wollte, dass das gesamte Volk Anderiths sein Schicksal in die eigenen Hände nimmt, und möchte, dass wir unser Leben schätzen lernen. Die Abstimmung galt eigentlich nicht ihm, sondern ihnen. War ihm diese Abstimmung deswegen so wichtig?«
»So ist es«, bestätigte Kahlan knapp, aus Angst, ihre Stimme über Gebühr zu strapazieren.
Er rührte mit dem Löffel in seinem Abendessen, um es abzukühlen. Das war längst nicht mehr nötig, dessen war sie sicher. Vermutlich waren seine Gedanken aufgewühlter als alles, was sich auf seinem Teller befand.
»Wisst Ihr«, sagte er, »ich habe die Menschen unten in Anderith erzählen hören, Richard Rahl sei ebenso böse wie Darken Rahl, weil der sein Vater war. Es hieß, sein Vater habe Böses getan, und deshalb könne Richard vielleicht gelegentlich Gutes tun, doch ein guter Mensch sein könne er niemals.«
»Das habe ich auch gehört«, sagte Cara. »Nicht nur in Anderith, sondern an vielen Orten.«
»Aber das ist nicht wahr. Wie kommen die Menschen darauf, diese Verbrechen könnten auf jemanden übergehen, der sie niemals begangen hat, nur weil ein Elternteil grausam war? Und dass dieser Mensch sein Leben lang Wiedergutmachung zu leisten hat? Die Vorstellung, meine Kinder, sollte ich jemals das Glück haben, welche zu bekommen, müssten ewig für all das Unrecht leiden, das ich in Darken Rahls Diensten begangen habe, behagt mir ganz und gar nicht.« Er sah zu Kahlan und Cara hinüber. »Diese Art von Voreingenommenheit ist ungerecht.«
Als niemand darauf antwortete, starrte Cara in die Flammen.
»Ich habe unter Darken Rahl gedient. Ich kenne den Unterschied zwischen den beiden Männern.« Seine schäumende Wut ließ ihn die Stimme senken. »Es ist verkehrt, dass die Menschen die Schuld für Darken Rahls Verbrechen seinem Sohn zuschieben.«
»Da habt Ihr Recht«, murmelte Cara. »Die beiden mögen sich ein wenig ähnlich sehen, aber keiner, der beiden Männern in die Augen gesehen hat, so wie ich, könnte auch nur auf den Gedanken kommen, es handele sich um dieselbe Art von Mensch.«