68

Richard wusste nicht, was ihn mehr verblüffte: seine Statue in Trümmern zu sehen oder die Menge, die die Stufen heraufstürmte, nachdem Victor sich zum freien Mann erklärt hatte.

Unaufhaltsam wälzte sich der Mob über die bewaffneten Gardisten hinweg, die die Stufen hinunterstiegen, um sich ihnen in den Weg zu stellen. Etliche Menschen stürzten verwundet oder tot zu Boden, ihre Körper wurden unter dem Ansturm der Massen zertrampelt. Wer vorne lief, konnte nicht mehr stehen bleiben, selbst wenn er gewollt hätte; der Druck der zehntausende in seinem Rücken trieb ihn unaufhaltsam weiter. Ohnehin hätte niemand stehen bleiben wollen. Es herrschte ein markerschütterndes Gebrüll.

Die Ordensbrüder wurden von Panik ergriffen, ebenso wie die Beamten auf dem rückwärtigen Teil des Platzes und auch die paar tausend bewaffneten Gardisten.

Richard hatte es auf Bruder Narev abgesehen. Stattdessen sah er, wie bewaffnete Soldaten in seine Richtung gestürmt kamen. Richard holte aus und versenkte den Kopf des Vorschlaghammers in der Brust eines Mannes, der sich mit erhobenem Schwert auf ihn stürzen wollte. Als der Mann, den Griff des Vorschlaghammers in der Brust, vorübersegelte, riss Richard ihm das Schwert aus der Faust und gab, die Klinge in der Hand, jegliche Zurückhaltung auf.

Eine kleine Gruppe von Gardisten hielt es für angebracht, die Ordensbrüder zu beschützen. Richard warf sich mitten unter sie und traf mit jedem Hieb. Jeder Hieb oder Stoß ließ einen Soldaten niedersinken.

Aber es waren nicht die Gardisten, denen Richards Hauptinteresse galt. Wenn er schon alles verlieren würde, dann wollte er zum Ausgleich wenigstens Bruder Narevs Kopf. Als er sich durch das Chaos der auf den Platz stürmenden Menschen wühlte, war Bruder Narev nirgends zu entdecken.

Victor löste sich aus dem Handgemenge, einen Ordensbruder an den Haaren zerrend. Der stämmige Schmied hatte eine so finstere Miene aufgesetzt, dass man Eisen damit hätte biegen können. Der Ordensbruder verdrehte die Augen, als wäre er auf den Kopf geschlagen worden und hätte Mühe, wieder zur Besinnung zu kommen.

»Richard!«, brüllte Victor.

Die Männer, von denen einige noch immer das braune Gewand des Bruders gepackt hielten, stürzten jetzt von allen Seiten auf Richard zu, einen zehn oder fünfzehn Mann starken Schutzring um ihn herum bildend.

»Was sollen wir mit ihm machen?«, wollte einer von ihnen wissen.

Richard erfasste die Menschen um ihn herum mit einem schnellen Blick. Er sah Arbeiter, die er von der Baustelle her kannte: Priska war unter ihnen, auch Ishaq.

»Wieso fragt ihr mich? Das ist eure Revolte.« Er blickte den Männern herausfordernd in die Augen. »Was meint ihr, solltet ihr mit ihm machen?«

»Sag du es uns, Richard«, rief einer der Bildhauer.

Richard schüttelte den Kopf. »Nein. Ihr werdet mir jetzt sagen, was ihr mit ihm zu tun beabsichtigt. Aber eins solltet ihr wissen: Dieser Mann ist ein Zauberer. Wenn er wieder zu sich kommt, wird er anfangen, Menschen umzubringen. Dies ist eine Frage auf Leben und Tod, und er weiß das. Wisst Ihr es auch? Ist euch das wirklich vollkommen klar? Hier geht es um euer Leben. Ihr müsst entscheiden, was ihr tun wollt, nicht ich.«

»Diesmal wollen wir dich auf unserer Seite haben, Richard«, rief Priska. »Aber wenn du dich uns immer noch nicht anschließen möchtest, dann werden wir uns unser Leben zurückholen und diese Revolte durchführen – auch ohne dich. Genau so wird es geschehen!«

Mit den geballten Fäusten drohend, pflichteten ihm die Männer lautstark bei.

Victor zog den benommenen Ordensbruder an seine Brust und verdrehte ihm mit einem Ruck den Kopf, bis sein Genick brach. Der erschlaffte Körper glitt zu Boden.

»Und das ist es, was wir mit denen hier zu tun beabsichtigen«, erklärte Victor.

Richard reichte ihm lächelnd die Hand. »Ich bin stets erfreut, einem freien Mann zu begegnen.« Sie fassten sich bei den Unterarmen, und Richard sah Victor in die Augen. »Ich bin Richard Rahl.«

Erst blinzelte Victor fassungslos, dann folgte sein dröhnendes, aus dem Bauch kommendes Lachen. Mit seiner freien Hand versetzte er Richard einen Klaps gegen die Schulter.

»Aber klar doch! Wir alle sind er. Einen Augenblick hattest du mich fast reingelegt, Richard. Ehrlich.«

Das Geschiebe der Menge drängte sie zurück, hinüber zu den Säulen. Richard langte nach unten, packte das Gewand des toten Ordensbruders und schleifte die Leiche mit. Die Ansammlung aus sich hoch auftürmenden Mauern und Marmorsäulen bot einen gewissen Schutz vor dem Ansturm der tobenden Masse.

Der Boden erzitterte. Eine Explosion aus dem Inneren des Palastes sprengte ein Loch in die Mauer, ein Lichtblitz zerriss die Dunkelheit, Steinsplitter segelten pfeifend durch die Luft. Dutzende blutüberströmter Menschen wurden zurückgeschleudert.

»Was war das?«, rief Victor über den Lärm aus Schreien und Gebrüll und dem Getöse der Explosion hinweg.

Die Gefahr ignorierend, setzte die Menge ihren Ansturm gegen die Männer fort, die sie zu Sklaven gemacht hatten. Scharen von Menschen drängten sich um die Stelle, wo die Statue gestanden hatte, und sammelten Marmortrümmer auf. Erst legten sie ihre Finger an die Lippen, dann ihre Finger auf die Worte auf der Rückseite des umgestürzten Bronzerings. Sie trafen damit eine Entscheidung für das Leben.

Horden von Menschen hatten mehrere Ordensbrüder und Beamte gefangen genommen und waren dabei, sie mit weißen Marmorbrocken aus den Trümmern der Statue zu lynchen.

»Bruder Narev ist ein Hexenmeister«, gab Richard zu bedenken. »Du musst einige dieser Männer organisieren und diesen Mob unter Kontrolle bringen. Narev ist im Stande, mächtige Magie einzusetzen. Ich finde es lobenswert, dass die Menschen ihrem Drang nach Freiheit nachgeben, aber wenn wir das hier nicht unter Kontrolle bekommen, werden wir mit ansehen müssen, wie eine große Zahl von ihnen verwundet oder getötet wird.«

»Verstehe«, sagte Victor, der Mühe hatte, nicht fortgerissen zu werden.

Eine Anzahl von Männern, die sich um Richard geschart hatten, um ihn zu beschützen, bekam seine Worte mit und pflichtete ihm nickend bei. Kommandos, sich zu organisieren, gingen durch die Menge. Die Menschen wollten mit aller Macht den Erfolg. Sie waren bereit, alles für das Erreichen ihres Zieles zu geben, und sahen den Sinn der Befehle ein, die jetzt immer häufiger laut wurden. Viele dieser Männer waren den Umgang mit großen Gruppen von Arbeitern gewohnt und wussten, wie man Menschen organisierte.

Richard begann dem toten Ordensbruder das Gewand auszuziehen. »Ihr Männer müsst verhindern, dass die Leute bis in den Palast vordringen. Narev hockt dort drinnen. Wer dort eindringt, kann leicht getötet werden. Ihr müsst dafür sorgen, dass die Leute draußen bleiben. Solange die Brüder sich dort drinnen befinden, ist das eine tödliche Falle.«

»Verstehe«, sagte Victor.

»Wir werden sie zurückhalten«, riefen ein paar Männer Richard zu.

Als Richard sich das Gewand des toten Bruders über den Kopf streifte, fasste Victor ihn am Arm. »Was tust du?«

Richard steckte den Kopf durch die Halsöffnung. »Ich werde hineingehen. Narev wird mich im Dunkeln für einen Ordensbruder halten, ich werde also ganz nahe an ihn herankommen können.« Er stieß das beschlagnahmte Schwert durch das Gewand, um die Klinge zu verstecken; das Heft verbarg er unter seinem Handgelenk. »Haltet die Leute draußen – Narev gebietet über mächtige Magie. Ich muss ihn aufhalten.«

»Gib auf dich Acht«, sagte Victor.

Die Männer, die das Kommando übernommen hatten, begannen auszuschwärmen und bedrängten die Menschen, ihren Befehlen Folge zu leisten. Die Ersten taten es, und als sie es taten, folgten andere ihrem Beispiel. Da sämtliche Beamte, die sie gefangen genommen hatten, mittlerweile tot waren, ließ sich der Mob allmählich in die Pflicht nehmen, und das keinen Augenblick zu früh. Der ungeheure Druck der auf den Vorplatz strömenden Massen war eine Gefahr für alle.

Weinende Menschen hoben im Vorübergehen Marmorbrocken von der Statue auf und drückten diese Zeichen der Freiheit und Schönheit an ihre Brust, während sie weitergingen, damit andere es ihnen gleichtun konnten. Dies waren Menschen, denen sich eine Chance auf das Leben geboten hatte, und sie hatten zugegriffen, sie hatten sich bewiesen.

Victor sah, was sie taten. »Es tut mir so Leid, Richard…«

Eine gewaltige Feuerexplosion fegte über den Platz hinweg und streckte weit über hundert Menschen nieder. Sie war so heftig, dass die Körper zerrissen wurden. Eine riesige Steinsäule kippte um und zerschmetterte die Menschen, die wegen des Geschiebes in der Menge nicht hatten ausweichen können.

»Später!«, brüllte Richard über den Höllenlärm hinweg. »Ich muss Narev aufhalten! Haltet diese Leute aus dem Palast fern – dort drinnen kommen sie bloß um!«

Victor nickte, dann eilte er zusammen mit den anderen Männern, die er kannte, davon, um die Lage in den Griff zu bekommen.

Richard ließ Tumult und Verwirrung hinter sich und trat durch einen weit offenen Durchgang zwischen den Säulen … in die Dunkelheit.


Es gab Meilen unvollendeter Korridore, manche davon verstopft mit Leichen. Während des ersten Ansturms, als die Menschen den Vorplatz stürmten, hatten sie Ordensbrüder und Beamte in das Labyrinth des Palastes hineingetrieben. Viele dieser Menschen hatten das Pech gehabt, dabei auf Bruder Narev zu stoßen. Der Gestank verbrannten Fleisches stieg Richard in die Nase, als er lautlos durch die Dunkelheit schlich.

Lange bevor er zum Sucher wurde, lange bevor er Lord Rahl wurde, war Richard – wie wir alle wissen – Waldführer gewesen; in der Dunkelheit war er in seinem Element. Im Geiste hüllte er sich in dieses Gewand aus Dunkelheit.

Zwischen den massiven Steinmauern, unter den schweren Deckenbalken, den teilweise fertig gestellten Holzfußböden und den Schieferdächern über seinem Kopf war der Tumult der Menge nur ein fernes, hallendes Gemurmel. Durch die klaffenden Öffnungen der unverkleideten Türen waren Räumlichkeiten ohne Dach oder Fußboden über ihnen zu erkennen, in die das Mondlicht schien. Dies alles erzeugte ein ineinander verschlungenes Durcheinander aus Schatten und fahlem Licht, das Gefahr in jeder Form verhieß.

Richard stieß auf eine ältere Frau, die, vor Schmerzen wimmernd, blutend in der Eingangshalle lag. Er ließ sich auf ein Knie herunter und legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter, ohne die Augen von dem dunklen Korridor und den tiefschwarzen Höhlungen zu beiden Seiten zu lösen.

Er spürte, wie die Frau unter seinen Fingern zitterte. »Wo seid Ihr verletzt?«, erkundigte er sich leise. Er schob die Kapuze seines Gewandes zurück, sodass sie im durch das unfertige Deckengebälk hereinfallenden Mondlicht sein Gesicht erkennen konnte. »Ich heiße Richard.«

Ein Lächeln des Wiedererkennens ging über ihr Gesicht. »Mein Bein«, stieß sie hervor.

Sie schob ihr Kleid hoch. Im schwachen Licht erkannte er eine dunkle Wunde, unmittelbar oberhalb des Knies. Mit dem Schwert trennte er den Saum ihres Kleides ab, um ihn als Verband zu benutzen und die Wunde zu schließen.

»Ich will leben. Ich wollte helfen.« Sie nahm den Stoffstreifen und schob seine Hände zurück. »Danke, dass Ihr mir den Streifen herausgeschnitten habt. Jetzt komme ich allein zurecht.« Sie krallte eine Hand in sein Gewand und zog ihn näher heran. »Ihr habt uns mit Eurer Statue das Leben gezeigt; dafür möchte ich Euch danken.«

Lächelnd drückte Richard ihre Schulter.

»Ich habe versucht, diese Kakerlake zu erwischen. Werdet Ihr es für mich tun?«

Richard legte den Finger an die Lippen und drückte ihn ihr anschließend auf die Stirn. »Das werde ich. Verbindet Euer Bein und bleibt still liegen, bis wir die Lage unter Kontrolle haben. Dann schicken wir jemanden herein, der Euch hilft.«

Richard machte sich wieder auf den Weg und huschte weiter. Aus der Ferne drangen wutentbrannte, schmerzerfüllte Schreie. Gardisten, die in das Labyrinth des unvollendeten Palastes hatten fliehen können, prügelten auf Menschen ein, die ihnen nach drinnen gefolgt waren.

Hinter einer Ecke erblickte Richard einen zitternden Ordensbruder. Narev war es nicht, denn er trug eine Kapuze, keine Kappe. Die Rolle eines Ordensbruders spielend, zog Richard seine Kapuze wieder über und ging auf den Mann zu. Der Bruder schien erleichtert, auf einen seiner Kumpane zu stoßen.

»Wer bist du?«, flüsterte er in Richards Richtung und hob seine Hand, um mit Hilfe seiner Magie eine kleine Flamme über seiner Handfläche zu entzünden.

»Bruder Justizium«, antwortete Richard den weit aufgerissenen Augen, als er dem Mann das Schwert durchs Herz bohrte.

Richard zog sein Schwert wieder heraus und verbarg es wie zuvor unter seinem Gewand!

Nicci würde sich ganz sicher rächen; er schien nichts tun zu können, um das zu verhindern. Oft genug hatte sie ihm seine Entscheidungen abgenommen. Er war fest entschlossen, wenigstens den Orden zu vernichten. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, Nicci zur Vernunft zu bringen, sie dazu zu bringen, ihm zu helfen. Manchmal, so schien es, kam der Ausdruck ihrer Augen dem Begreifen aufreizend nahe; er wusste, dass Nicci etwas für ihn empfand. Er wünschte nur, er könnte diese Gefühle dazu verwenden, sie zur Vernunft zu bringen, ihm zu helfen, ihre Fesseln abzuwerfen, nur wusste er nicht wie.

Als er Gardisten in seine Richtung laufen hörte, zog Richard sich in die völlige Dunkelheit eines Raumes zurück. Als sie in den Korridor einbogen, zog Richard abermals sein Schwert, und als sie schließlich ganz nahe waren, sprang er aus der Türöffnung hervor und schlug dem ersten Gardisten den Kopf ab. Der zweite holte mit seinem Schwert aus und verfehlte ihn, bevor er zu einem zweiten Hieb ansetzte; Richard bohrte dem Mann sein Schwert in den Bauch. Der verwundete Gardist wich zurück und rutschte von der Klinge ab. Bevor Richard ihm den Rest geben konnte, kamen weitere Gardisten in den Korridor gestürmt; Richard zog sich in die dunkle Türöffnung zurück, wodurch er die Männer dazu verleitete, ihm zu folgen. Vollkommen reglos stand er in der Dunkelheit; als sie schließlich keuchend hereingestürzt kamen und der Schutt beim Herumdrehen unter ihren Fußballen knirschte, ortete Richard sie allem aufgrund des Geräusches und streckte sie nieder. Ein halbes Dutzend Männer starb in dem vollkommen finsteren Raum, bevor die übrigen die Flucht ergriffen.

Richard rannte weiter in die Richtung, aus der die Geräusche der Explosionen kamen. Jedes Mal, wenn ein Feuerstoß durch das verwirrende Geflecht aus Gängen und Korridoren schoss, hielt er sich die Hand vor Augen, um sich seine Sehfähigkeit im Dunkeln zu bewahren. Waren die gleißend hellen Lichtblitze verblasst, lief er rasch weiter in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Es gab Meilen über Meilen von Fluren im Palast. Einige führten hinaus in offenes, noch unbebautes Gelände, andere verliefen zwischen oben offenen Mauern, wieder andere bohrten sich, abgedeckt durch darüber liegende Stockwerke oder Dächer, durch völlige Dunkelheit. Dem Tosen der durch Zauberei erzeugten Flammen folgend, stieg Richard über Treppen in völlige Finsternis hinunter in den unterirdisch gelegenen Teil des Palastes.

Unterhalb des Hauptgeschosses befanden sich ganze Systeme weit verzweigter und miteinander verbundener Räumlichkeiten, die aus einem verwirrenden Netzwerk von Kammern und engen Gängen bestanden. Durch dieses Labyrinth aus dunklen Räumen stürzte er, er stieg durch Löcher in nicht fertig gestellten Wänden und leere Türöffnungen, als er plötzlich auf einen mit einem Überwurf bekleideten Mann mit einem Schwert stieß. Er hielt es für äußerst unwahrscheinlich, dass jemand von der Bevölkerung bewaffnet war.

Der Mann wirbelte, das Schwert voran, herum, aber da Richard sich mit einem Ordensgewand verkleidet hatte, wusste er, dass der Mann nicht unbedingt ein Feind sein musste.

In einem Aufblitzen des Mondlichts erblickte Richard zu seiner völligen Verblüffung das Schwert der Wahrheit hinter der Schulter dieser Person. Es war Kahlan.

Vor lauter Schreck konnte er sich nicht rühren.

Sie dagegen sah nur eine Gestalt in einem braunen Gewand – einen Ordensbruder – in einem Strahl des Mondlichts stehen, da die Kapuze sein Gesicht im Schatten ließ.

Im selben Augenblick, noch bevor er ihren Namen rufen konnte, sah er über Kahlans Schulter, wie jemand auf sie zugelaufen kam – Nicci.

In diesem einen entsetzlichen, schwer fassbaren Augenblick erkannte Richard, was er tun musste. Es war seine – und Kahlans – einzige Chance freizukommen.

In diesem kristallklaren Augenblick des Begreifens durchfuhr ihn ein Gefühl entsetzlicher Angst. Er wusste nicht, ob es ihm gelingen würde.

Es musste.

Richard zog sein Schwert und wehrte Kahlans Stoß ab.

Und dann attackierte er.

Er trieb sie mit kontrollierter Gewalt vor sich her, sorgfältig darauf bedacht, sie nicht zu verletzen. Wie sie kämpfte, wusste er; er wusste es, weil er es ihr selbst beigebracht hatte. Er spielte die Rolle eines ungeschickten, aber vom Glück begünstigten Widersachers.

Nicci kam näher.

Richard konnte es unmöglich länger hinausziehen; er musste genau den richtigen Augenblick erwischen. Er wartete, bis Kahlan ein wenig aus dem Gleichgewicht geriet, um ihr Schwert dann mit einem wuchtigen Schlag in der Nähe des Handschutzes zu treffen. Erschrocken schrie sie auf, als ihr das Schwert aus der Hand flog und der Hieb sie, genau wie von ihm beabsichtigt, herumwirbeln ließ.

Sie zögerte keinen Moment. Ohne innezuhalten und noch in der Drehung langte sie mit der Hand nach oben und zog das Schwert der Wahrheit blank. Die Luft hallte wider von dem ihm so vertrauten, einzigartigen Klirren des Stahls.

Die Klinge voran, wirbelte Kahlan herum. Für den Bruchteil einer Sekunde gewahrte er den entsetzlichen, unbändigen Zorn in ihren Augen. Es schmerzte ihn, ihn in Kahlans wunderschönen Augen zu sehen, wusste er doch, was der Zorn aus einem Menschen machen konnte.

Richard trat ein in eine ganz eigene Welt der Empfindungslosigkeit; er wusste, was er zu tun hatte, spürte keinerlei Regung. Hoch abwehrend kontrollierte er ihren Angriff und bestimmte, wohin sie die Klinge richten sollte. Er musste sie dazu bringen, genau dorthin zu zielen, wo er es beabsichtigte, wenn er eine Chance haben wollte.

Mit zusammengebissenen Zähnen stieß Kahlan ihr Schwert in die Bresche, die er ihr absichtlich gelassen hatte.

Kahlan befand sich in einem Zustand unbeherrschbaren Zorns. Im selben Augenblick, da sie das Heft ergriff, durchflutete das Schwert der Wahrheit sie mit blinder Raserei. Nichts auf der Welt war süßer als die Gewissheit, dass sie mit ihm töten würde; auch die Waffe verlangte Blut.

Diese Leute hatten Richard in ihrer Gewalt. Diese Ordensbrüder hatten ihr Leben verdorben; sie hatten Mörder in ihre Heimat entsandt. Und sie hatten Meuchelmörder geschickt, um Warren niederzustechen.

Jetzt hatte sie einen von ihnen vor sich.

Mit einem Aufschrei wirbelte sie herum, sie schrie vor Zorn, schrie in ihrer Gier nach Blut. Es war ein herrliches Gefühl, das Opfer des eigenen vollkommenen Zorns so greifbar nahe vor sich zu haben.

Ihm unterlief ein Fehler – weil er sich eine Blöße gab. Ohne Zögern hielt sie, Klinge voran, in ihrer kalten Raserei darauf zu.

Er gehörte ihr.

Richard spürte, wie ihn die Klinge durchbohrte. Es war ein Schock; das Gefühl war völlig anders als erwartet. Es fühlte sich ungefähr so an, wie er sich vorstellte, dass sich der mächtige Hieb des Vorschlaghammers gegen die Statue angefühlt haben musste.

Sein Mund klappte auf. Der Augenblick war gekommen, da er ihr Einhalt gebieten, sie daran hindern musste, dass sie noch größeren Schaden anrichtete. Und zwar jetzt sofort. Wenn sie die Klinge in seinem Körper verdrehte und die Wunde weiter aufriss, würde Nicci ihn nicht mehr heilen können. Ihre Heilkraft war begrenzt.

Nicci würde Kahlan von dem Bann befreien müssen, um den Gebrauch ihrer Hexenmeisterinnenmagie wiederzuerlangen – und ihn heilen zu können.

Er kam zu dem Schluss, dass sie genug für ihn empfand, um das zu tun.

Offenen Mundes spürte Richard, wie die Klinge sich nach wie vor in seinen Leib bohrte; es war ein ekelhaftes, schockierendes Gefühl.

Obwohl er es erwartet hatte, erschien es ihm dennoch unwirklich. Er war trotz allem überrascht.

Er musste ihr schnellstens erklären, dass er es war, dass sie aufhören musste.

Zumindest musste er ihren Namen rufen, damit sie aufhörte, bevor sie zu großen Schaden angerichtet hatte.

Sein Mund stand noch immer offen.

Er bekam keine Luft.

Er brachte ihren Namen nicht über die Lippen.


Auf ihrer ungestümen, hektischen Suche nach Richard erblickte Nicci die beiden miteinander kämpfenden Gestalten. Eine von ihnen war ein Ordensbruder, die andere erkannte sie nicht, und doch hatte das Ganze etwas zutiefst Beunruhigendes. Nicci spürte eine eigenartige Regung, denn die Empfindung war seltsam vertraut, doch in all dem gefühlsmäßigen Durcheinander vermochte sie es nicht zuzuordnen.

Die beiden waren noch ein gutes Stück entfernt.

Der Mann im Überwurf verlor sein Schwert. Es schien, als ob der Bruder ihn überwältigt hätte. Nicci wollte helfen – aber wie? Sie musste Richard finden. Jemand hatte behauptet, er habe ihn in den Palast hineingehen sehen.

Sie hielt auf die beiden zu. Der Mann zog ein zweites Schwert, das er auf seinen Rücken geschnallt hatte. Das eigenartige Gefühl in Nicci gewann an Deutlichkeit. Irgendetwas war hier grauenhaft verkehrt, nur wusste sie nicht, was.

Dann sah sie, wie dem Ordensbruder ein Fehler unterlief. Nicci zögerte.

Mit einem Aufschrei tödlichen Zorns durchbohrte der Mann in dem Überwurf den Ordensbruder.

Als der Bruder unter der Wucht des Stoßes einen Schritt zurückwich, fiel ein Strahl des Mondlichts auf sein unter dem Saum der Kapuze verborgenes Gesicht.

In diesem Augenblick traf sie die Erkenntnis wie ein Schlag. Niccis Augen weiteten sich, und sie fing an zu schreien.


»Kahlan, haltet ein.«

Erschrocken hob Kahlan ruckartig den Kopf und erblickte im Schein des Mondes sein Gesicht; im selben Augenblick hörte er Nicci schreien.

Kahlan prallte zurück und schleuderte das Schwert der Wahrheit von sich, als hätte sie ein Blitz getroffen.

Ein entsetztes Kreischen ausstoßend, wich sie zurück.

Richard packte die Klinge des Schwertes, seines Schwertes, um zu verhindern, dass er es mit seinem eigenen Gewicht noch tiefer in seinen Körper bohrte. Sie hatte es ihm fast bis zum Handschutz in den Leib gerammt. Warmes Blut rann an der Klinge entlang bis auf seine Finger.

»Richard!«, schrie Kahlan. »Neiiin! Neiiin!« Richard spürte, wie er mit den Knien auf den Steinfußboden schlug. Er war überrascht, dass es nicht stärker schmerzte, ein Schwert im Leib zu haben. Größtenteils war es der Schock, der ihm die Sinne verwirrte; das Denken fiel ihm schwer. Er bemühte sich, nicht nach vorn zu kippen, auf die Klinge, und sie dadurch noch tiefer in sich hineinzubohren. Der Raum schien sich zu drehen.

»Zieh es heraus«, sagte er leise.

Er wollte es los sein, er wollte das entsetzliche Etwas aus seinem Körper heraushaben. Er konnte die rasiermesserscharfe Klinge der ganzen Länge nach in seinem Körper spüren, konnte spüren, wie sie aus seinem Rücken ragte.

Kahlan, der Hysterie nahe, begann hektisch in die Tat umzusetzen, was er von ihr verlangte. Richard sah Cara aus der Dunkelheit heranhumpeln. Sie hielt ihn an den Schultern fest, während Kahlan die Klinge mit einem einzigen schnellen Ruck herauszog, als hoffte sie dadurch wieder gutzumachen, was sie angerichtet hatte.

»Was ist passiert?«, schrie Cara. »Was habt Ihr getan?«

Die Welt schien sich zu drehen. Richard spürte, wie die abscheulich feuchte Wärme seines Bluts an ihm herabsickerte. Er spürte sein Gewicht gegen Caras Körper. Ganz dicht über ihm erschien Kahlan.

»Richard! Oh, bei den Gütigen Seelen, nein. Das darf nicht sein. Das ist unmöglich.« Tränen der Panik strömten über ihr hübsches Gesicht. Er vermochte nicht zu begreifen, was sie hier tat. Wieso war sie in der Alten Welt? Was tat sie im Palast des Kaisers?

Er konnte nicht umhin, über das Wiedersehen zu lächeln.

Ob sie wohl seine Statue gesehen hatte, bevor er sie zerstören musste?

Womöglich war ihm ein entsetzlicher Fehler unterlaufen.

Nein, es war Kahlans einzige Chance, ihre Freiheit wiederzuerlangen. Seine einzige Chance, Niccis Bann zu brechen.

Nicci kam noch immer auf sie zugerannt.

»Hilf mir, Nicci«, rief Richard. Was herauskam, war wenig mehr als ein Flüstern. »Ich brauche dich, du musst mich retten, Nicci. Bitte.«

Auch wenn es nicht mehr war als ein Flüstern, Nicci erhörte seine flehentliche Bitte.


Nicci war noch nie so schnell gerannt; das Entsetzen hatte sie in seinem unerschütterlichen Griff. Es war ein entsetzlicher Fehler, es war ein so entsetzlicher Fehler gewesen. Nicci hatte ihnen beiden so viele Schmerzen zugefügt. Es war ihre Schuld.

Selbst in ihrem Schockzustand war ihr in aller Klarheit bewusst, was sie zu tun hatte.

Sie konnte ihn heilen. Kahlan war hier. Nicci vermochte nicht einmal ansatzweise zu begreifen, wieso oder aus welchem Grund, aber sie war hier. Jetzt, da Kahlan hier war, konnte sie den Bann aufheben. War der Bann erst einmal aufgehoben, konnte Nicci ihre Gabe einsetzen. Sie konnte Richard heilen. Alles war in Ordnung. Sie konnte ihn retten. Alles würde gut werden. Sie konnte es wieder gutmachen. Sie konnte es.

Sie konnte etwas Richtiges tun und ausnahmsweise einmal helfen – wirklich helfen.

Ein Arm schnellte aus dem Dunkel hervor, packte sie im Nacken und riss sie von den Füßen. Sie schrie auf, als sie in die Dunkelheit hineingezogen wurde. Sie spürte die Wölbung harter Muskeln, als sie an dem Arm zu reißen versuchte. Der Mann stank. Sie fühlte die feine Berührung seiner Läuse im Gesicht, als diese auf sie übersprangen.

Entsetzen packte sie. Ein so unvermitteltes und intensives Gefühl des Entsetzens war eine vollkommen neue Erfahrung für sie, die alle ihre Gedanken überlagerte.

Sie stemmte ihre Fersen in den Steinfußboden, als er sie nach hinten in das dunkle Labyrinth schleppte. Wie von Sinnen trat sie nach ihm und versuchte, ihren Dacra aus dem Ärmel zu ziehen, doch er packte ihren Arm und bog ihn auf den Rücken.

Sein Unterarm presste sich gegen ihre entblößte Kehle und schnürte ihr die Luft ab, während er sie von den Füßen hob.

Nicci konnte nicht atmen. Vor Wonne glucksend schleppte er sie in die dunkleren Winkel der Räumlichkeiten unter Kaiser Jagangs Palast.


Ihre Blicke trafen sich just in dem Moment, als sie völlig unvermittelt und gewaltsam in die Dunkelheit gerissen wurde. Richard erblickte etwas Bedeutendes in diesen Augen, er sah, dass Nicci die Absicht hatte, ihm zu helfen. Doch dann war sie verschwunden.

Cara umklammerte verzweifelt seine Schultern, als er sich nach hinten gegen sie sinken ließ. Ihm war kalt, und sie war so warm.

Kahlan wich, sich heftig wehrend, zurück in die Dunkelheit. Sie fasste sich an den Hals. Er konnte hören, wie sie würgte.

»Mutter Konfessor! Mutter Konfessor! Was ist?«

Richard langte nach oben, bekam Caras Hinterkopf zu fassen und zog ihr Gesicht zu sich herunter. »Kahlan wird sterben, und Nicci ist die Einzige, die mich heilen kann. Geht schon. Beeilt Euch.«

Er spürte Caras Nicken, bevor er ihren Kopf losließ.

»Verstehe«, war alles, was sie sagte, als sie ihn – behutsam, aber schnell – wieder auf den kalten Steinfußboden legte.

Dann war sie verschwunden.

Es war feucht. Er wusste nicht, ob es Blut war oder Wasser. Sie befanden sich unter der Erde, in den unteren Gefilden des Ruhesitzes. Durch die Lücken im Gebälk, dort, wo die Dielung oben noch nicht verlegt war, fiel das Mondlicht herein und beschien, nicht weit entfernt, Kahlans Versuche, sich zu wehren. In diesem Augenblick, während sie mit einem unsichtbaren Gegner rang, erkannte er, dass es Wasser war. Das war es, kein Blut, sondern Wasser. Der Palast lag unmittelbar am Fluss, daher die Feuchtigkeit in den winzigen Kammern und Fluren unten, im untersten Geschoss.

»Kahlan«, murmelte er, doch sie reagierte nicht. »Halt durch…«

Seinen Unterleib fassend, um die Wunde zuzupressen, damit seine Eingeweide nicht hervorbrachen, schob er sich Zoll um Zoll durch das Wasser, über den kalten Steinboden. Die Schmerzen hatten schließlich mit aller Heftigkeit eingesetzt. Er konnte die entsetzlichen Verletzungen in seinem Innern spüren und versuchte die Tränen seiner heißen Qualen fortzublinzeln. Er musste durchhalten. Eiskalter Schweiß legte sich nass auf sein Gesicht. Auch Kahlan musste durchhalten.

Er streckte seine blutverschmierte Hand nach ihr aus. Seine Finger fanden ihre. Sie reagierte kaum, aber wenigstens bewegten sich ihre Finger noch; das machte ihn dankbarer, als er es hätte in Worte fassen können.

Der Plan war gut gewesen, dessen war er sich ganz sicher. Er hätte auch funktioniert, wenn nur nicht jemand Nicci entführt hätte.

Es schien ihm wirklich dumm, auf diese Art zu sterben.

Er fand, dass es ein wenig … eindrucksvoller hätte geschehen können.

Nicht in dem dunklen, kalten, feuchten unterirdischen Palast.

Wie gerne hätte er Kahlan gesagt, dass er sie liebte und dass nicht sie ihn getötet hatte, sondern er sich selbst. Das war sein Tun, nicht ihres. Sie war nur Teil seines Plans gewesen. Es hätte funktioniert. »Kahlan«, rief er leise, ohne zu wissen, ob sie ihn, reglos, wie sie war, überhaupt noch hören konnte. »Ich liebe dich, niemanden sonst, nur dich. Ich bin froh, dass uns unsere gemeinsame Zeit vergönnt war; ich wollte sie gegen nichts eintauschen.«


Richard schlug die Augen auf und stöhnte gequält. Er sehnte sich das Ende herbei, die Schmerzen waren zu groß. Es hatte nicht funktioniert, und er würde den Preis dafür bezahlen müssen. Vor allem aber wollte er, dass die abscheulichen, reißenden, entsetzlichen Schmerzen ein Ende hatten.

Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er öffnete die Augen und sah Kahlan ausgestreckt auf dem nassen Boden liegen. Sie rührte sich nicht.

Ein Schatten fiel über ihn.

»Sieh an, sieh an, Richard Cypher«, lachte Neal amüsiert. »Man stelle sich vor.« Ein weiteres amüsiertes Lachen, als sein Blick auf Kahlan fiel. »Wer ist diese Frau?«

Richard konnte das Schwert der Wahrheit spüren, seine Magie; es lag unweit seiner Finger.

»Weiß nicht. Sie hat mich tödlich verletzt. Muss eine von euch sein.«

Richards Finger ertasteten das Schwert und schlossen sich um das mit Draht umwickelte Heft.

Neal trat auf die Klinge. »Das kann ich nicht zulassen. Du hast schon genug angerichtet.« Ein Lichtschein leuchtete um Neals Finger auf. Er beschwor Magie herauf, tödliche Magie.

In seinem Zustand, nahe der Bewusstlosigkeit, war es Richard trotz seines Verlangens unmöglich, sich zu konzentrieren und seine Fähigkeiten auf den Plan zu rufen, um Neal irgendwie aufzuhalten. Wenigstens hätten die Schmerzen ein Ende. Wenigstens würde Kahlan nicht denken, sie sei es gewesen, die ihn getötet hatte.

Plötzlich hörte Richard ein überraschendes, entsetzliches Krachen wie von splitternden Knochen. Neal sackte schwer auf die Knie.

Richard, die Hand bereits am Heft, zog das Schwert unter den Beinen des Mannes hervor und bohrte es Neal mit einem einzigen, gewaltigen Stoß durchs Herz.

Überrascht hob Neal den Blick, die Augen glasig. Da erkannte Richard, dass der Mann bereits so gut wie tot gewesen war, als ihn die Klinge durchbohrte. Neal verdrehte die Augen und sackte auf die Seite, als Richard das Schwert herausriss.

Hinter Neal stand die Frau, der Richard geholfen hatte; ihr Bein war bandagiert. Die Marmorhand der Frau, die Richard in Stein gemeißelt hatte, mit beiden Händen haltend, hatte sie Neal mit ihrem Andenken an die Statue den Schädel eingeschlagen.

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