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Richard zog die Hand, in der er das Stroh hielt, zurück und klopfte sich die Gräserreste von seiner Lederschürze. Seine Arme schmerzten von der mühseligen Arbeit, das leicht mit feinen Schleifschlämmen versetzte Stroh über den Stein zu reiben.

Doch als er den Glanz des Steins erblickte, den Charakter der Hochglanzpolitur, die Art, wie der Marmor leuchtete, empfand er nichts als Freude.

Die Figuren erhoben sich über einem glitzernden Steinfundament aus grob behauenem Marmor. An den Unterschenkeln, dort, wo die Beine aus dem Stein herauszuwachsen schienen, waren noch immer die gegenläufigen Riffelungen der gezackten Meißel zu erkennen, mit deren Hilfe dünne Gesteinsschichten abgetragen worden waren – er wollte, dass die Statue Zeugnis von der Hand des Menschen und der Herkunft der Figuren aus dem Stein ablegte.

Sie erhoben sich zu fast seiner doppelten Körpergröße. Teils war die Statue eine Verkörperung seiner Liebe zu Kahlan – er hatte Kahlan nicht aus dem Werk heraushalten können, da sie seinem Ideal der Frau entsprach –, und doch war die Frau in der Statue keineswegs sie. Man sah einen tugendhaften Mann und eine tugendhafte Frau, in Entschlossenheit vereint. Sie ergänzten einander, die beiden alles in sich vereinenden Teile dessen, was es hieß, ein Mensch zu sein.

Der geschwungene Teil der Sonnenuhr war von Victor und seinen Leuten mehrere Tage zuvor montiert worden, als Richard unten auf seinem Arbeitsplatz auf der Baustelle des kaiserlichen Palastes gearbeitet hatte. Während der Arbeit hatten sie die Plane über der Statue gelassen. Im Anschluss an die Montage des Rings hatte Richard den als Sonnenuhrzeiger dienenden Stab angebracht und die Hand vollendet, die ihn hielt. Das untere Ende des Stabes war mit einer goldenen Kugel versehen.

Victor hatte die Statue noch immer nicht gesehen; er war ganz außer sich vor freudiger Erwartung.

Als Richard die Figuren betrachtete, drang einzig das Licht des Fensters oben in den abgedunkelten Raum. Man hatte ihm den Tag von seiner Arbeit unten auf der Baustelle freigegeben, um den Transport der Statue hinunter auf den Palastvorplatz an diesem Abend vorzubereiten. In den Räumen hinter der Doppeltür, in denen Victors Leute an Aufträgen für den Palast arbeiteten, erklangen unermüdlich die Schmiedehämmer.

In nahezu völliger Dunkelheit stand Richard, lauschte auf die Geräusche aus der Schmiedewerkstatt und bestaunte die Kraft seiner eigenen Schöpfung. Sie war genau so geworden, wie er es beabsichtigt hatte.

Die Figuren von Mann und Frau wirkten, als könnten sie jeden Augenblick Atem holen und von ihrem steinernen Sockel heruntersteigen. Sie besaßen Knochen und Muskeln, Sehnen und Fleisch.

In Stein wiedergegebenes Fleisch.

Nur eine Kleinigkeit fehlte noch – etwas blieb noch zu tun.

Richard nahm seinen Schlägel und einen scharfkantigen Meißel zur Hand.

Manchmal, wenn er die vollendeten Figuren betrachtete, gab es Augenblicke, in denen er fast zu glauben geneigt war, dass er, wie Kahlan immer wieder behauptet hatte, bei seiner Bildhauerei Magie benutzte, doch er wusste es besser. Sie war das Ergebnis einer bewussten Handlung des menschlichen Geistes, weiter nichts.

Als er dort stand, Meißel und Schlägel in der Hand, und die Statue, seine zu Stein gewordene Vision, betrachtete, konnte Richard einen Augenblick lang seine überragende Leistung genießen, dass seine Schöpfung genau so Wirklichkeit geworden war, wie ursprünglich von ihm ersonnen.

Diesen einen Augenblick war sie vollkommen und gehörte ganz allein ihm.

Sie war, diesen einen Augenblick lang, in ihrem Wesen rein und unbefleckt von den Gedanken anderer. In diesem Augenblick war sie seine Leistung, und er war sich ihres Wertes und ihrer Bedeutung mit Herz und Verstand bewusst.

Richard ging vor den Figuren auf ein Knie, legte den kalten Stahl des Meißels an seine Stirn und schloss die Augen, während er sich darauf konzentrierte, was ihm jetzt noch zu tun blieb.

»Klinge, sei mir an diesem Tage treu.«

Er zog das um seinen Hals geschlungene rote Tuch über seine Nase, um den Gesteinsstaub nicht einatmen zu müssen, dann setzte er den Meißel an den Markierungen auf jener ebenen Stelle an, die er bereits, unmittelbar über der entscheidenden Stelle des Makels, vorbereitet hatte. Richard ließ den Schlägel niedersinken und begann den Titel der Statue dort, wo ihn jeder sehen konnte, in den Sockel zu meißeln.


Jenseits einer Straßenbiegung hinter einer Häuserecke stehend, beobachtete Nicci, wie Richard ein Stück hangabwärts die Werkstatt verließ, in der er seine Statue geschaffen hatte. Vermutlich wollte er sich um die Beschaffung des Pferdegespanns kümmern, mit dessen Hilfe der Stein abtransportiert werden sollte. Er schloss die Tür, die Kette aber legte er nicht vor. Zweifellos hatte er nicht die Absicht, lange fortzubleiben.

Auf dem gesamten Hügelhang arbeiteten Männer in einer Vielzahl unterschiedlicher Werkstätten. Handwerker, von Lederarbeitern bis hin zu Goldschmieden, trugen zu einer niemals nachlassenden Geräuschkulisse aus Sägen, Mahlen und Hämmern bei; der unablässige Lärm harter körperlicher Arbeit war nervenaufreibend. Viele der ein und aus gehenden Männer bedachten Nicci mit einem langen, interessierten Blick, doch Niccis zorniges Funkeln warnte sie, ihr ja nicht zu nahe zu kommen.

Unmittelbar nachdem sie Richard hinter der Werkstatt des Schmieds hatte verschwinden sehen, begann Nicci die Straße hinunterzugehen. Sie hatte ihm versprochen, zu warten, bis sein Werk vollendet war, ehe sie käme, um es in Augenschein zu nehmen. Sie hatte Wort gehalten.

Trotzdem war ihr nicht ganz wohl dabei zumute. Warum vermochte sie nicht zu sagen, aber es kam ihr fast so vor, als würde sie gleich in eine heilige Stätte eindringen. Richard hatte sie nicht eingeladen, seine Statue zu besichtigen, sondern sie gebeten abzuwarten, bis sie fertig war; und da sie fertig war, würde sie nicht länger warten.

Nicci wollte sie nicht gemeinsam mit all den anderen Menschen auf dem Vorplatz des Palastes sehen. Sie wollte mit ihr allein sein; der Orden und sein Interesse an der Statue waren ihr gleichgültig. Sie wollte nicht inmitten all der anderen Menschen stehen, mitten unter Menschen, die sie überhaupt nicht als etwas Bedeutungsvolles erkennen würden. Dies hatte für sie etwas Persönliches, und sie wollte sie in aller Ruhe betrachten können.

Sie erreichte die Tür, ohne dass sie jemand angesprochen oder auch nur beachtet hätte, und schaute sich in dem gleißenden, dunstigen Nachmittagslicht um. Als sie aber nur Männer sah, die sich ganz ihrer Arbeit widmeten, öffnete sie die Tür und schlüpfte hinein.

Im Raum war es dunkel; seine Wände waren schwarz, die Statue in seinem Inneren aber wurde von dem durch das Oberlicht in der hohen Decke einfallende Licht gut beleuchtet. Nicci vermied es, die Statue unmittelbar anzusehen, sondern hielt die Augen auf den Boden gerichtet, während sie den mächtigen Monolithen eiligen Schritts umrundete, um die Figur beim allerersten Mal von vorne betrachten zu können.

Nachdem sie ihre Position eingenommen hatte, drehte sie sich klopfenden Herzens um.

Niccis Blick wanderte an den Beinen hinauf, an den Gewändern, den Armen und Leibern der beiden Menschen, bis hinauf zu ihren Gesichtern. Ihr war, als schlösse sich eine gewaltige Faust um ihr Herz, bis dieses nicht mehr schlug.

Es war das, was man in Richards Augen sah, in leuchtend weißem Marmor zum Leben erweckt. Es in seiner endgültigen Gestalt vor sich zu sehen war, als würde man vom Blitz getroffen.

In diesem Augenblick schien sich ihr gesamtes Leben, alles, was ihr jemals widerfahren war, alles, was sie jemals gesehen, gehört oder getan hatte, mit einem einzigen gewaltsamen Aufblitzen in einem Punkt zu vereinen. Angesichts ihrer Schönheit, und mehr noch angesichts der Schönheit dessen, wofür sie stand, entfuhr Nicci ein schmerzgequältes Stöhnen.

Ihr Blick fiel auf den Titel, der dort in den steinernen Sockel gemeißelt stand.

LEBEN

Nicci brach unter Tränen auf dem Boden zusammen, zutiefst beschämt, entsetzt, angewidert und geradezu geblendet von der plötzlichen Erkenntnis.

… und ergriffen von reiner, unverfälschter Freude.

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