49

Nachdem er von Ishaq fortgegangen war, und bevor er sich auf den Weg machte, das Eisen für Victor abzuholen, lief Richard noch einmal rasch zu seinem Zimmer. Nicht etwa, um dort zu Abend zu essen, sondern um Nicci Bescheid zu sagen, dass er noch einmal zu seiner Arbeitsstelle zurück musste. Sie hatte ihm in der Vergangenheit deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Mann und Frau waren, und sie es sehr missbilligen würde, wenn er sich aus dem Staub machte. Er musste in Altur’Rang bleiben und arbeiten, genau wie jeder andere ganz normale Mann.

Kamil und einer seiner Freunde erwarteten ihn bereits; beide trugen Hemden.

Richard blieb am Fuß der Treppe stehen. »Tut mir Leid, Kamil, aber ich muss zurück zu meiner Arbeit…«

»Dann bist du ein weitaus größerer Dummkopf, als ich dachte – auch noch nachts Arbeit zu übernehmen. Hör doch einfach auf damit, dich so abzustrampeln. Die ganze Schufterei führt zu nichts. Nimm dir einfach, was du kriegen kannst. Ich wusste, dass du eine Ausrede parat haben würdest, damit du dein Versprechen nicht erfüllen musst. Fast hattest du mich so weit, dass ich dachte, du wärst vielleicht anders als die…«

»Ich wollte gerade sagen, ich muss zurück zur Arbeit, deswegen müssen wir gleich anfangen.«

Kamil verzog den Mund, wie es seine Angewohnheit war, wenn er Menschen, die er für älter und dümmer hielt, sein Missfallen bekunden wollte.

»Das hier ist Nabbi. Er will dir ebenfalls bei deiner sinnlosen Plackerei zuschauen.«

Richard nickte und ließ sich nicht anmerken, dass ihn Kamils arrogantes Verhalten ärgerte. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Nabbi.« Der dritte junge Mann schaute hasserfüllt aus den Schatten im hinteren Teil des Flurs bei der Treppe zu ihnen herüber; er war der größte der drei und hatte sich kein Hemd übergezogen.

Zum Auseinandernehmen der Treppenstufen benutzte Richard sein Messer sowie eine Metallstange, die Kamil für ihn aufgetrieben hatte. Es war nicht schwierig – sie fielen fast von allein auseinander. Während die beiden jungen Burschen zuschauten, reinigte Richard die Nuten in den Stützbalken. Da sie, weil sie schon so lange locker saßen, ausgeleiert waren, höhlte er sie an der Unterseite noch weiter aus; dabei zeigte er den beiden, wie er vorging, und erklärte ihnen, wie er die Trittflächen an den Enden abzuschrägen beabsichtigte, damit sie sich fest in die ausgefräste Nut einpassen ließen. Richard beobachtete Kamil und Nabbi, wie sie nach der Vorlage des einen, den er als Muster für sie angefertigt hatte, Keile schnitzten. Geradezu begeistert zeigten sie ihm, wie sie mit dem Messer umzugehen verstanden, und auch Richard war froh, denn auf diese Weise ging ihnen die Arbeit schneller von der Hand.

Nachdem er sie wieder zusammengesetzt hatte, rannten sowohl Kamil als auch Nabbi die reparierte Treppe auf und ab, offenkundig überrascht, dass sie nicht mehr unter ihren Füßen nachgab, und froh, dass sie wenigstens zum Teil für ihre Reparatur verantwortlich waren.

»Ihr beide habt gute Arbeit geleistet«, lobte Richard sie, denn es stimmte. Sie enthielten sich aller geistreichen Bemerkungen und lächelten sogar.

Richards Abendessen bestand aus wässrigem Hirsebrei, der im Schein eines brennenden, auf Leinsamenöl schwimmenden Dochts verzehrt wurde. Der ölige Geruch der primitiven Lampe wollte nicht recht zum Abendessen passen, das mehr aus Wasser denn aus Hirse bestand. Nicci sagte, sie habe bereits gegessen und wolle nichts mehr. Sie ermunterte ihn, alles aufzuessen.

Er verschonte Nicci mit Einzelheiten über seine zweite Tätigkeit. Sie bestand lediglich darauf, dass er überhaupt arbeitete; die Arbeit selbst war für sie nebensächlich. Sie kümmerte sich um ihre Hausarbeit und erwartete von ihm, dass er für ihren Lebensunterhalt sorgte.

Sie schien sich offenbar damit zufrieden zu geben, dass er lernte, wie normale Menschen sich krank schuften mussten, um sich gerade eben durchschlagen zu können. Die Aussicht auf mehr Geld, das es ihnen ermöglichen würde, zusätzliche Lebensmittel einzukaufen, schien in ihren Augen eine gewisse Begierde auszulösen, die ihr ansonsten aber nicht über die Lippen kam. Ihm fiel auf, dass der schwarze Stoff über ihrem vormals so fülligen Busen jetzt schlaff und halb leer schlackerte. Ihre Ellbogen und Hände waren knochig geworden.

Während er einen weiteren Löffel Hirse verspeiste, erwähnte Nicci ganz nebenbei, dass der Wirt, Kamils Vater, vorbeigeschaut habe.

Richard blickte von seiner Suppe auf. »Was hat er gesagt?«

»Er meinte, da du jetzt Arbeit hättest, habe der Bezirksgebäudeausschuss einen höheren Mietzins für uns festgelegt, um damit die Mietzahlungen der nicht Arbeitsfähigen in den Häusern dieses Bezirks zu unterstützen. Siehst du jetzt, Richard, wie das Leben nach den Methoden des Ordens das Gefühl gegenseitiger Anteilnahme unter den Menschen fördert, auf dass wir alle gemeinsam auf das Wohl aller hinarbeiten?«

Nahezu alles, was ihnen nicht vom Arbeiterkollektiv genommen wurde, wurde ihnen vom Bezirksgebäudeausschuss oder irgendeinem anderen Ausschuss abgenommen, und stets mit dem gleichen Ziel: um die Menschen innerhalb des Ordens zu edleren Geschöpfen zu machen. Für Lebensmittel blieb Richard und Nicci so gut wie nichts übrig. Mit der Zeit saßen Richards Kleidungsstücke immer lockerer, wenn auch nicht ganz so locker wie die Niccis.

Die Tatsache, dass ihr Mietzins längst überfällig war, schien sie nicht weiter zu beschäftigen. Wenigstens waren Grundnahrungsmittel verhältnismäßig billig – vorausgesetzt, sie waren überhaupt erhältlich. Es hieß, man habe es allein dem Wohlwollen des Schöpfers und der Weisheit des Ordens zu verdanken, dass man sich überhaupt etwas zu essen kaufen konnte. In Ishaqs Betrieb hatte Richard Gerüchte aufgeschnappt, denen zufolge es durchaus möglich war, die vielfältigsten Lebensmittel in beliebiger Menge zu erstehen, allerdings um einen Preis. Einen Preis, den Richard nicht bezahlen konnte.

Auf seiner Fahrt mit Jori zur Gießerei und dem Schmied hatte Richard etwas abseits stehende Häuser gesehen, die dem Anschein nach recht eindrucksvoll waren. Gut gekleidete Menschen ergingen sich in diesen Straßen, gelegentlich sah er sie sogar in Kutschen sitzen. Es waren Menschen, die weder ihre Hände noch ihre Moral mit Dingen des Geschäftslebens beschmutzten. Es waren Menschen mit Prinzipien. Es waren die Beamten des Ordens, die dafür Sorge trugen, dass, wer immer die Möglichkeit dazu hatte, Opfer für die Ziele des Ordens brachte.

»Selbstaufopferung ist die moralische Pflicht aller«, verkündete Nicci als Kampfansage an seine fest zusammengebissenen Zähne.

Richard brachte es nicht über sich, den Mund zu halten. »Selbstaufopferung ist der widerliche und sinnlose Selbstmord von Sklaven.«

Nicci starrte ihn offenen Mundes an. Es war, als hätte er soeben behauptet, die Milch einer Mutter sei Gift für ihr Neugeborenes.

»Ich glaube, das ist wirklich das Grausamste, was ich je aus deinem Mund gehört habe, Richard.«

»Ist es etwa grausam, wenn ich sage, dass ich nicht bereit bin, mich frohen Herzens für diesen brutalen Burschen, Gadi, aufzuopfern? Oder für irgendwelche anderen Rohlinge, die ich nicht mal kenne? Ist es etwa grausam, das, was mir gehört, nicht bereitwillig jedem habgierigen Schurken in den Rachen zu werfen, den es selbst um den Preis des Blutes seiner Opfer danach gelüstet, Kriegsbeute und anderes, nicht durch seiner Hände Arbeit verdientes Gut zu besitzen?

Selbstaufopferung ist nur dann sinnvoll und vertretbar, wenn es um Werte geht, die einem lieb und teuer sind; um das Leben eines geliebten Menschen, um die eigene Freiheit und die all derer, die man respektiert – so wie ich mich für Kahlans Leben opfere. Selbstaufgabe dagegen bedeutet, dass man sich zu einem Sklaven macht, der sein allerhöchstes Gut – sein Leben – jedem feixenden Dieb ausliefert, der gerade Anspruch darauf erhebt.

Selbstmord durch Selbstaufopferung ist nichts weiter als die Forderung von Herren an ihre Sklaven. Da man mir ein Messer an die Kehle hält, ist es keineswegs zu meinem Vorteil, wenn man mir alles nimmt, was ich mir mit Händen und Verstand erarbeitet habe. Es ist nur zum Vorteil dessen, der das Messer hält, und derer, die allein kraft ihrer zahlenmäßigen – und nicht etwa vernunftmäßigen – Überlegenheit bestimmen, was für alle das Beste ist, und die einen noch antreiben, um jeden Tropfen Blut, den ihre Herren übersehen, auflecken zu können.

Das Leben ist kostbar; deswegen ist es vernünftig, für die Freiheit Opfer zu bringen. Man setzt sich für das Leben selbst ein, und dafür, dass man es leben kann, denn ein Leben ohne Freiheit bedeutet den sicheren, schleichenden Tod durch Selbstaufopferung zum ›Wohl‹ der Menschheit – und das sind stets die anderen. Die Menschheit ist nichts weiter als eine Gemeinschaft von Einzelwesen. Warum sollte jedes andere Leben wichtiger, kostbarer und wertvoller sein als das eigene? Gedankenlose, erzwungene Selbstaufopferung ist unsinnig.«

Sie starrte nicht etwa auf ihn, sondern auf die Flamme, die auf der Leinsamenöllache schwamm. »Das glaubst du doch nicht wirklich, Richard. Du bist nur müde und verärgert, weil du jetzt auch noch nachts arbeiten musst, um über die Runden zu kommen. Du solltest dir klarmachen, dass all die anderen, denen du hilfst, dazu da sind, die Gesellschaft zu unterstützen, und dazu gehörst auch du, falls du einmal derjenige bist, der in tiefe Not gerät.«

Richard machte sich gar nicht erst die Mühe, ihr zu widersprechen, sondern sagte nur: »Du tust mir Leid, Nicci. Du kennst nicht mal den Wert deines eigenen Lebens. Es kann dir unmöglich etwas bedeuten, Opfer zu bringen.«

»Das ist nicht wahr, Richard«, erwiderte sie leise. »Ich bringe dir zuliebe Opfer … was wir an Hirse übrig hatten, habe für dich aufbewahrt, damit du bei Kräften bleibst.«

»Damit ich kräftig genug bin, um mein Leben erhobenen Hauptes wegzuwerfen? Warum hast du dein Abendessen geopfert, Nicci?«

»Weil es das Richtige war – es diente dem Wohl anderer.«

Nickend betrachtete er sie im dämmrigen Licht. »Du bringst es fertig und verhungerst anderen Menschen zuliebe – irgendwelchen beliebigen anderen Menschen.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Was ist mit diesem Rohling, Gadi? Würdest du verhungern, damit er essen kann? Dein Opfer hätte einen Sinn, Nicci, wenn es jemandem gälte, den du achtest, aber das ist nicht der Fall; du opferst dich irgendeinem dunklen Ideal des Ordens.«

Als sie nichts erwiderte, schob Richard den Rest seines Abendessens vor sie hin. »Ich will dein sinnloses Opfer nicht.«

Sie tat Richard Leid, wie sie, völlig unfähig zu verstehen, in ihre Schale starrte. Er musste daran denken, was aus Kahlan werden würde, falls Nicci erkrankte, weil sie nicht genug zu essen bekam.

»Iss, Nicci«, drängte er sie sanft.

Schließlich nahm sie ihren Löffel auf und tat, was er verlangte.

Als sie aufgegessen hatte, sah sie mit ihren blauen Augen hoch, jenen blauen Augen, aus denen eine Sehnsucht sprach, die er ihr nicht erfüllen konnte. Sie schob die leere Schale in die Mitte des Tisches.

»Danke für die Mahlzeit, Richard.«

»Wieso bedankst du dich bei mir? Ich bin nichts weiter als ein selbstloser Sklave, von dem man erwartet, dass er jedem wertlosen Menschen Opfer bringt, der ihm seine Not klagt.«

Er ging entschlossenen Schritts zur Tür; die Hand bereits am losen Türknauf, drehte er sich noch einmal um. »Ich muss gehen, sonst verliere ich meine Stelle.«

Ihre großen, blauen Augen waren voller Tränen, als sie nickte.

Auf dem ersten Gang von der Gießerei durch die dunklen Straßen bis zu Victors Werkstatt schleppte Richard fünf Barren. Einige Leute schauten aus Fenstern am Weg auf den Mann hinab, der eine Last vorüberschleppte, und versuchten verständnislos blinzelnd zu ergründen, was er dort tat. Er arbeitete für nichts anderes als seinen eigenen Nutzen.

Gebeugt unter dem Gewicht, redete Richard sich immer wieder ein, dass er, wenn er jedesmal fünf Barren schleppte, nur zehn Gänge zu machen brauchte, und je weniger Gänge er machen musste, desto besser. Beim zweiten Gang schleppte er abermals fünf, wie auch auf dem dritten. Als er das vierte Mal zur Gießerei zurückkehrte, entschied er, dass er einen zusätzlichen Gang einlegen musste, um sich selbst eine Verschnaufpause zu gönnen und auf einigen Gängen nur vier Barren schleppen zu müssen. Er verlor den Überblick, wie oft er bereits durch die menschenleere Nacht hin und her gegangen war. Beim vorletzten Gang hatte er Mühe, auch nur zwei Barren hochzuheben. Blieben noch drei. Er zwang sich, beim letzten Mal alle drei zu schleppen und die größere Anstrengung gegen den kürzeren Weg einzutauschen.

Es gelang ihm, die drei letzten Barren noch vor Tagesanbruch zu Victors Werkstatt zu schaffen; seine Schultern waren voller blauer Flecken und schmerzten. Er musste den weiten Weg zu seiner Arbeit in Ishaqs Betrieb zu Fuß zurücklegen, daher konnte er nicht warten, bis Victor eintraf, um ihm den noch ausstehenden Rest von einem Viertel Goldtaler auszuzahlen.

Die Arbeit des folgenden Tages war eine Erholung, verglichen mit der nächtlichen Schlepperei der Eisenbarren. Jori sagte kein Wort, es sei denn, man sprach ihn an, also legte Richard sich zu einer Fuhre Holzkohle auf die Ladefläche des Wagens und schloss ab und zu für ein paar Minuten die Augen, während der Wagen dahinrumpelte. Sein einziger Trost war, dass er sein Versprechen gehalten hatte.

Als Richard nach einem endlos langen Tag nach Hause kam, sah er Kamil und Nabbi am oberen Treppenende stehen. Beide hatten Hemden an.

»Wir haben schon darauf gewartet, dass du nach Hause kommst und deine Arbeit fertig machst«, begrüßte ihn Kamil.

Richard konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. »Welche Arbeit?«

»Die Treppe.«

»Das haben wir doch gestern Abend schon erledigt.«

»Du hast nur die Vordertreppe repariert. Die Hintertreppe ist doppelt so lang und in viel schlimmerem Zustand als die vordere. Oder willst du etwa, dass deine Frau oder die anderen Frauen im Haus stürzen und sich das Genick brechen, wenn sie durch die Hintertür zur Feuerstelle oder auf den Abort gehen?«

Ganz offensichtlich wollten sie ihm ein wenig auf den Zahn fühlen. Richard war sich bewusst, dass er sich eine günstige Gelegenheit entgehen lassen würde, wenn er sie fortschickte. Er war so müde, dass er nicht mehr klar denken konnte.

Nicci steckte den Kopf zur Vordertür heraus. »Ich dachte, ich hätte deine Stimme gehört. Komm rein und iss zu Abend. Deine Suppe wartet schon.«

»Hast du Tee?«

Nicci warf einen verstohlenen Seitenblick auf die beiden in ihren Hemden. »Ich kann Tee aufsetzen. Komm rein, dann brühe ich ihn dir auf, während du deine Suppe isst.«

»Bitte bring sie mir hinters Haus«, antwortete Richard. »Ich habe versprochen, die Treppe zu reparieren.«

»Jetzt?«

»Es ist noch ein paar Stunden hell. Ich kann essen, während ich arbeite.«

Kamil und Nabbi stellten noch mehr Fragen als am Abend zuvor. Der dritte der jungen Burschen, Gadi, schaute ab und zu vorbei, als Richard und die beiden anderen arbeiteten. Gadi, noch immer ohne Hemd, ließ es sich nicht entgehen, Nicci von Kopf bis Fuß zu mustern, als sie Richard seine Suppe und seinen Tee brachte.

Als Richard endlich fertig war, ging er aufs Zimmer, zog sein Hemd aus und spritzte sich Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht. Ihm dröhnte der Kopf.

»Wasch dir die Haare«, sagte Nicci. »Du bist schmutzig. Ich will hier keine Läuse.«

Statt zu protestieren, er habe keine Läuse, tauchte Richard sein Gesicht kurz unter Wasser und säuberte seinen Kopf gründlich mit einem Stück derber Seife. Das war einfacher, als es ihr auszureden, um endlich schlafen gehen zu können. Nicci konnte Läuse nicht ausstehen.

Vermutlich, überlegte er, sollte er dankbar sein, dass sie in ihrem betrügerischen Arrangement wenigstens eine reinliche Ehefrau war. Sie sorgte dafür, dass Zimmer, Bettzeug und seine Kleider sauber waren, obwohl das Wasser erst mühsam vom die Straße hinunter gelegenen Brunnen herbeigeschleppt werden musste. Nie beklagte sie sich über irgendwelche Arbeiten, die nötig waren, um den Anschein eines Lebens von ganz normalen Leuten aufrecht zu erhalten. Offenbar war ihre unbestimmte Sehnsucht so groß, dass sie oft voll und ganz in ihrer Rolle aufging und, im Gegensatz zu ihm, gelegentlich sogar vergaß, dass sie eine Schwester der Finsternis war. Er tauchte seinen Kopf abermals unter, ließ Wasser über seinen Kopf laufen und spülte die Seife heraus.

Ein Wasserrinnsal lief von seinem Kinn zurück in die Schüssel, als er fragte: »Wer ist eigentlich Bruder Narev?«

Nicci, die mit einer Näharbeit beschäftigt auf ihrer Pritsche saß, hob den Kopf. Plötzlich wirkte ihre Näherei fehl am Platz, so als hätte ihre Parodie häuslichen Lebens für sie allen Glanz verloren.

»Warum fragst du?«

»Ich bin ihm gestern begegnet, draußen in der Werkstatt des Schmieds.«

»Auf der großen Baustelle?«

Richard nickte. »Ich musste Eisen dorthin liefern.«

Sie widmete sich wieder ihrer Nadelarbeit. Im Schein der Leinsamenöllampe, die neben ihr stand, sah Richard zu, wie sie noch ein paar Stiche am Flicken auf den Knien einer seiner Hosen nähte. Schließlich hielt sie inne und ließ ihre Arme, einen davon in sein Hosenbein gehüllt, auf ihren Schoß sinken.

»Bruder Narev ist der Hohepriester der Bruderschaft der Ordnung – einer sehr alten Sekte, die sich die Durchsetzung des Willens des Schöpfers in dieser Welt zum Ziel gesetzt hat. Er ist sozusagen Herz und Seele des Ordens – sein moralischer Führer. Seine Jünger und er führen die Mitglieder des Ordens in das ewige Licht des Schöpfers. Er ist ein Berater Kaiser Jagangs.«

Richard war verblüfft. Er hatte nicht erwartet, dass sie mit dem Thema so vertraut war. Seine Vorsicht wuchs im gleichen Maße, wie sich seine Nackenhaare sträubten.

»Was für ein Berater?«

Sie nähte einen weiteren Stich und zog den langen Faden durch. »Bruder Narev war Jagangs Erzieher – sein Lehrer, Berater und Tutor. Bruder Narev hat das Feuer in Jagangs Bauch entflammt.«

»Er ist ein Zauberer, nicht wahr?« Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

Sie sah von ihrer Näharbeit auf. Er konnte ihren blauen Augen ansehen, dass sie abwog, ob sie es ihm erzählen sollte oder nicht, oder vielleicht auch, wie viel sie ihm zu verraten bereit war. Sein unnachgiebiger Blick sagte ihr, dass er die volle Wahrheit erwartete.

»In der Sprache des gemeinen Volkes könnte man ihn so bezeichnen.«

»Was soll das heißen?«

»Gewöhnliche Menschen, die nur sehr wenig von Magie verstehen, würden ihn einen Zauberer nennen. Genau genommen ist er aber keiner.«

»Was ist er dann? Genau genommen?«

»Tatsächlich ist er ein Hexenmeister.«

Richard konnte sie nur anstarren. Er war immer davon ausgegangen, dass Zauberer und Hexenmeister ein und dasselbe waren. Als er darüber nachdachte, fiel ihm auf, dass Personen, die sich mit Magie auskannten, ausnahmslos mit der Gabe gesegnete Männer als Zauberer bezeichneten. Nie hatte er eine dieser Personen von einem Hexenmeister sprechen hören.

»Willst du damit sagen, er ist wie du, wie eine Hexenmeisterin, nur eben ein Mann?«

Die Frage schien sie einen Augenblick zu lähmen. »Vermutlich könnte man es so sehen, aber tatsächlich stimmt es nicht ganz. Wenn man schon einen Vergleich bemühen möchte, müsste man sagen, er hat mit einem Zauberer mehr gemein, weil beide männlich sind. Der Begriff Hexenmeisterin bringt unnötige Probleme mit sich.«

Richard wischte sich das Wasser aus dem Gesicht. »Bitte, Nicci, ich war gestern die ganze Nacht auf den Beinen und habe gearbeitet; ich schlafe fast im Stehen ein. Komm mir jetzt nicht mit diesen abstrakten und komplizierten Gedanken. Erklär mir einfach, was es bedeutet.«

Sie legte ihr Nähzeug beiseite und bedeutete ihm, er solle sich auf seine Pritsche setzen, zu ihr, ins Licht. Richard zog sein Hemd wieder an und ließ sich gähnend im Schneidersitz auf seiner Pritsche nieder.

»Bruder Narev ist ein Hexenmeister«, begann sie. »Tut mir Leid, aber der Unterschied lässt sich nicht so ohne Weiteres erklären; die Angelegenheit ist überaus kompliziert. Ich werde versuchen, mich so klar wie möglich auszudrücken, aber du solltest Verständnis dafür haben, dass ich sie nicht zu sehr raffen kann, da ihr sonst jeder echte Beigeschmack von Wahrheit abhanden gehen könnte.

Hexenmeister und Zauberer gleichen sich weitestgehend, und doch unterscheiden sie sich – ganz so, könnte man sagen, wie Wasser und Öl beides Flüssigkeiten sind. Beide lassen sich gießen, in beiden kann man Dinge auflösen, doch sie lassen sich nicht vermischen, und es sind unterschiedliche Dinge, die man in ihnen auflösen kann. Ebensowenig vertragen sich die magischen Kräfte von Zauberer und Hexenmeister, und sie funktionieren bei unterschiedlichen Dingen.

Was immer ein Hexenmeister gegen die Gabe eines Zauberers unternimmt und umgekehrt, würde nicht funktionieren. Zwar handelt es sich in beiden Fällen um die Gabe, allerdings um ganz unterschiedliche, miteinander nicht vereinbare Gesichtspunkte. Beider Magie hebt die jeweils andere auf, lässt sie gewissermaßen … verpuffen.«

»Du meinst, so wie additive und subtraktive Magie Gegensätze sind?«

»Nein. Oberflächlich betrachtet scheint das ein ganz brauchbarer Denkansatz zu sein, dennoch liegt ihm eine völlig falsche Vorstellung zugrunde.« Sie hob ihre Hände, als wollte sie erneut ansetzen, ließ sie dann aber in ihren Schoß zurücksinken. »Es ist sehr schwierig, den Unterschied jemandem wie dir zu erklären, der nur sehr wenig über das Funktionieren seiner eigenen Gabe weiß; du besitzt keinerlei Grundlage, auf der du das, was ich dir sage, aufbauen könntest. Es gibt keine Worte, die zugleich zutreffend und für dich verständlich wären; es übersteigt dein Begriffsvermögen.«

»Nun … willst du vielleicht darauf hinaus, dass ganz so, wie ein Wolf und ein Puma zwar beides Raubtiere sind, sie dennoch nicht derselben Art angehören?«

»Das kommt der Sache schon etwas näher.«

»Wie häufig kommen diese Hexenmeister vor?«

»Etwa so häufig wie Traumwandler…«, antwortete sie, ihm einen vielsagenden Blick zuwerfend, »oder wie Kriegszauberer.«

Obwohl er es nicht verstand und sie es ihm nicht erklären konnte, empfand Richard diese Information als beunruhigend.

»Aber was macht er denn nun anders?«

Nicci seufzte. »Ich bin weder Expertin, noch bin ich mir vollkommen sicher, aber ich glaube, im Grunde tut er dasselbe, was auch ein Zauberer tut, nur eben auf die außergewöhnliche Art eines Hexenmeisters – Schnaps und Bier: beides macht dich betrunken, und doch handelt es sich um vollkommen andersartige Getränke, die aus ganz unterschiedlichen Zutaten hergestellt werden.«

»Das eine ist stärker.«

»Bei Zauberern und Hexenmeistern ist das nicht so. Siehst du jetzt ein, warum Worte und Vergleiche dieser Art so unzureichend sind? Die Stärke der Gabe eines Zauberers oder Hexenmeisters ist individuell bestimmt und hat nichts mit dem grundsätzlichen Wesen seiner Magie zu tun.«

Richard kratzte sich seine Bartstoppeln, während er sich ihre Worte durch den Kopf gehen ließ. Angesichts der Tatsache, dass beide Magie bewirken konnten, fiel ihm kein Unterschied ein, der in praktischer Hinsicht von Bedeutung war.

»Kann er etwas tun, zu was ein Zauberer nicht fähig wäre?« Er wartete. Sie machte nicht den Eindruck, als ob sie über seine Frage nachdachte, eher schien sie zu überlegen, ob sie überhaupt antworten wollte. »Bei meiner Gefangennahme hast du versprochen, du würdest mir die Wahrheit sagen. Du sagtest, du hättest keinen Grund, mich zu täuschen.«

Sie sah ihm in die Augen, aber dann strich sie sich das blonde Haar aus dem Gesicht und wandte schließlich ihren Blick ab. Die Geste erinnerte ihn auf unerwartete und schmerzliche Weise an Kahlan.

»Mag sein. Ich könnte mir denken, dass er gelernt hat, wie man den Bann nachbildet, der einst den Palast der Propheten umgab. Um diesen Bann zu erzeugen, waren vor tausenden von Jahren Zauberer erforderlich, die über beide Seiten der Magie verfügten. Ich glaube, ein Punkt, in dem Hexenmeister anders sind, hat damit zu tun, dass sich ihre Kraft nicht in ihre einzelnen Bestandteile zerlegen lässt, wie dies bei Zauberern möglich ist. Obwohl seine Magie anders funktioniert, könnte er also dennoch genug darüber in Erfahrung gebracht haben, wie die Zauberer – die damals, genau wie du, über beide Seiten der Magie verfügten – den Bann rings um den Palast der Propheten erzeugt haben, um ihn auf ganz eigene Weise nachbilden zu können.«

»Du meinst den Bann, der den Alterungsprozess verlangsamt? Du glaubst, er ist im Stande, ein solches Netz zu werfen?«

»Ja. Jagang hat es mir gegenüber praktisch durchblicken lassen. Ich kannte Bruder Narev, als ich noch ein kleines Mädchen war. Schon damals war er ein erwachsener Mann, ein Visionär, der die Lehren des Ordens predigte. Nachdenklich sprach er davon, er wolle lange genug leben, um mitzuerleben, wie seine Vision des Ordens in Erfüllung geht. Als man mich abholte, um im Palast in Tanimura zu leben, könnte ihn das möglicherweise auf die Idee gebracht haben, denn kurz darauf zog es auch ihn dorthin.

Die Schwestern wussten nichts über ihn, sie hielten ihn für einen einfachen Arbeiter. Da sich seine Gabe von der eines Zauberers unterscheidet, haben sie sein Talent nicht erkannt. Jetzt glaube ich, dass er aus dem alleinigen Grund dorthin gegangen ist, den Bann rings um den Palast der Propheten zu studieren, um einen ebensolchen Bann zu seinem eigenen Nutzen neu zu erschaffen.«

»Warum hat er den Palast nicht einfach gestürmt, ihn erobert? Dann hätte er den Bann doch für seine Pläne nutzen können?«

»Möglicherweise glaubte er anfangs, er würde den Palast eines Tages für seine Zwecke erobern – tatsächlich war das genau der Plan Kaiser Jagangs. Ebenso gut ist es aber auch möglich, dass er den Bann von Anfang an nur deswegen studierte, weil er ihn nicht einfach nur wiedererschaffen, sondern sogar verbessern wollte.«

Richard rieb sich die Stirn, um seine Kopfschmerzen zu vertreiben. »Soll das heißen, dass er jetzt möglicherweise glaubt, den Ruhesitz – den neuen Palast des Kaisers – mit dem gleichen Bann wie damals den Palast der Propheten belegen zu können, nur eben in einer besseren Version, sodass der Alterungsprozess weiter verlangsamt wird und er und seine Auserwählten noch länger leben können?«

»Ja. Vergiss nicht, Alter ist relativ. Für jemanden, der eintausend Jahre alt werden kann, wäre eine Lebenszeit von weniger als hundert Jahren viel zu kurz bemessen. Wer allerdings viele tausend Jahre alt werden kann, für den ist eine Lebensspanne von gerade mal einem Jahrtausend wenig mehr als ein flüchtiger Augenblick.

Ich vermute, Bruder Narev ist es gelungen, den Alterungsprozess so weit zu verlangsamen, dass er nahezu unsterblich ist. Jagang hatte geplant, den Palast der Propheten zu erobern. Möglicherweise hätte Bruder Narev nach der Eroberung des Palastes den Bann dann seinen Zwecken entsprechend verstärkt.«

»Aber diesen Plan habe ich durchkreuzt.«

Nicci nickte. »Wie wir alle, die einst im Palast der Propheten gelebt haben, altert Bruder Narev zurzeit wie jeder andere auch. Hat man den Einflussbereich des Banns einmal verlassen, hat man das Gefühl, Hals über Kopf auf sein Grab zuzustürzen. Bruder Narev ist zweifellos bestrebt, sich alle Jugendlichkeit, die noch in ihm steckt, zu bewahren. Auf ewig verhältnismäßig jung zu bleiben, das hat vieles für sich; ewiges Alter wäre weitaus weniger attraktiv. Dadurch, dass du den Palast der Propheten zerstört hast, wo er reichlich Zeit gehabt hätte, seinen Plan zu verwirklichen, ist er gezwungen worden, früher zu handeln statt später.«

Richard ließ sich auf seine Matte sinken und legte seinen Handrücken auf die Stirn. »Er lässt sich vom Schmied eine Bannform aus Eisen anfertigen. Der Schmied hat nicht die leiseste Ahnung, was er dort baut. Später soll die Bannform dann mit Gold überzogen werden.«

»Aus Gründen der Reinheit. Sehr wahrscheinlich ist das nur Teil des Herstellungsverfahrens. Es wäre sogar möglich, dass die goldüberzogene Bannform nichts weiter ist als ein Gussmodell, mit dessen Hilfe die eigentliche Bannform in purem Gold gegossen werden soll.«

Richard kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Wenn es tatsächlich ein Gussmodell ist, dann beabsichtigt Narev wahrscheinlich, eine ganze Reihe dieser Bannformen zu gießen – die dann zusammenwirken sollen.«

Nicci sah auf und runzelte die Stirn. »Ja, das wäre eine Möglichkeit.«

»Könnte der Schmied durch die Herstellung eines solchen Apparates zu Schaden kommen?«

»Nein. Es handelt sich um einen den Menschen zuträglichen Zauber. Lässt man den beabsichtigten Verwendungszweck erst einmal außer Acht, dann ist ein solcher Bann grundsätzlich vorteilhaft; er verlangsamt das Altern und verlängert so das Leben.«

»Und Bruder Narevs Jünger?«

»Junge Zauberer aus dem Palast der Propheten.«

Richard setzte sich beunruhigt auf. »Ich war auch im Palast der Propheten, sie werden mich wiedererkennen.«

»Nein. Sie waren als junge Zauberer zur Ausbildung dort, haben den Palast jedoch verlassen, um Bruder Narev zu folgen, bevor du dort eintrafst. Wenn sie dich sehen, werden sie dich nicht erkennen.«

»Wenn sie Zauberer sind, werden sie dann nicht spüren, dass ich Magie besitze?«

Ein verächtliches Lächeln ging über ihre Züge. »So talentiert sind sie nicht. Verglichen mit dir sind sie nichts als übereifrige Wirrköpfe.«

Richard empfand den Vergleich als nicht gerade tröstlich. »Wird nicht Bruder Narev oder einer seiner Jünger dich erkennen?«

Ihr Gesicht wurde wieder ernst. »Oh, mich würden sie schon erkennen.«

»Das klingt, als sei die Gabe in Bruder Narev sehr stark ausgeprägt. Wird er nicht erkennen können, dass ich die Gabe besitze? Er hat mich seltsam angeschaut und gefragt, ob er mich kennt. Irgendwas hat er gespürt.«

»Wie bist du darauf gekommen, er könnte ein Zauberer sein?«

Richard zupfte an der Strohfüllung, die aus dem Polster auf seiner Pritsche hervorquoll, und dachte über die Frage nach.

»Es gab nichts, was eindeutig darauf hingewiesen hätte, aber eine Reihe von Kleinigkeiten haben geradezu zwingend meinen Verdacht erregt: seine Körperhaltung, die Art, wie er die Menschen ansah, seine Art zu sprechen – eigentlich alles. Erst nachdem ich auf den Gedanken gekommen war, Narev könnte ein Zauberer sein, wurde mir bewusst, dass der Apparat, den der Schmied für ihn baute, wie eine Bannform aussieht.«

»Aus ganz ähnlichen Gründen wird er argwöhnen, dass du die Gabe besitzt. Kannst du feststellen, wer die Gabe hat?«

»Ja. Ich habe gelernt, diesen zeitlosen Blick in den Augen der Menschen zu erkennen. In gewisser Weise kann ich die Aura der Gabe sehen, vorausgesetzt, sie ist sehr stark ausgeprägt – bei dir zum Beispiel. Manchmal knistert die Luft in deiner Umgebung.«

Sie starrte ihn fasziniert an. »So etwas habe ich noch nie gehört. Das muss etwas damit zu tun haben, dass du beide Seiten der Magie besitzt.«

»Du doch auch, und du siehst es nicht?«

»Nein. Aber ich habe mir die subtraktive Seite auf andere Weise erworben.«

Sie hatte ihre Seele dem Hüter der Unterwelt verschrieben. »Aber bei Bruder Narev erkennst du nichts dergleichen, oder?« Als Richard daraufhin den Kopf schüttelte, fuhr sie mit ihrer Erklärung fort. »Wie ich schon sagte, liegt das daran, dass du über unterschiedliche Aspekte der Gabe verfügst. Außer deiner Anlage zu vernünftigem Denken besitzt du keinerlei zauberische Fähigkeiten, um die Gabe bei ihm zu entdecken; und er wiederum besitzt keine hexenmeisterischen Fähigkeiten, um die Gabe bei dir zu erkennen. Eure Gabe funktioniert beim jeweils anderen nicht. Allein deine Fähigkeit zu vernunftmäßigem Denken hat dir verraten, dass er die Gabe hat.«

Richard merkte, dass sie ihm, ohne es unmittelbar auszusprechen, zu verstehen gab, er solle sich in Narevs Nähe besser in Acht nehmen, wenn er nicht wollte, dass der von seiner Gabe erfuhr.

Manchmal glaubte er, ihr endlich auf die Schliche gekommen zu sein. Dann wieder, so wie jetzt, schien sich seine gesamte Wahrnehmung dessen, was sie plante, zu verschieben. Manchmal kam es ihm fast so vor, als schleuderte sie ihm ihre Überzeugungen geradewegs ins Gesicht, nicht etwa, weil sie an sie glaubte, sondern weil sie verzweifelt darauf hoffte, einen Grund zu finden, es nicht tun zu müssen, und weil sie hoffte, er werde sie in ihrer einsamen, finsteren Welt aufspüren und ihr den Weg nach draußen zeigen. Richard seufzte innerlich; er hatte ihr erklärt, warum er ihre Überzeugungen für falsch hielt, doch statt sie umzustimmen, hatte sie das bestenfalls verärgert, oder schlimmer, in ihren Überzeugungen noch bestärkt.

Müde wie er war, lag er auf seinem Bett, die Augen zu schmalen Schlitzen geschlossen, und sah Nicci im Schein des einen Dochtes zu, wie sie sich mit ihrer ganzen Energie ihrer Näharbeit widmete – eine der stärksten Frauen, die je auf Erden wandelte – offenkundig vollkommen zufrieden damit, einen Flicken auf das Knie seiner Hose zu nähen.

Sie stach sich aus Versehen mit der Nadel. Als sie, ihre Hand schüttelnd, vor Schmerz zusammenzuckte, überkam Richard die bedrückende Erinnerung an die Verbindung zwischen ihr und Kahlan; seine geliebte Frau würde diesen Stich ebenfalls spüren.

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