Als Richard am Rand einer kleinen, leicht abfallenden grasbewachsenen Lichtung in der Nähe eines seiner Schutzbäume abstieg, übernahm Nicci die Zügel seines Pferdes. Sie spürte seinen zornig glühenden Blick auf ihrem Rücken, als sie die Pferde an den mächtigen Ästen einer dicht mit Weidenkätzchen überwucherten Erle festband. Die Pferde waren hungrig und gingen sofort daran, das feuchte Gras abzufressen. Wortlos begann Richard sich umzusehen und unter den undurchdringlichen Föhrendickichten abgestorbene Äste und Zweige einzusammeln, wo es, wie sie vermutete, ein wenig trockener war.
Sie beobachtete ihn, wie er sich an die Arbeit machte, nicht offen, sondern eher wie zufällig und verstohlen aus den Augenwinkeln. Er war genau so, wie sie ihn in Erinnerung hatte, und mehr – was nicht so sehr nur an seiner Körpergröße lag, er hatte ein alles beherrschendes Auftreten an sich, das seit ihrer letzten Begegnung noch gereift war. Damals war sie manchmal versucht gewesen, ihn für wenig mehr als einen kleinen Jungen zu halten, doch das war vorbei.
Jetzt glich er einem kraftvollen, wilden Hengst, gefangen in seinem selbst errichteten Verschlag. Sie wahrte die Distanz und erlaubte ihm, gegen die Wände seines Verschlags zu treten. Es konnte für Nicci nicht von Vorteil sein, dieses wilde Tier zu zähmen. Ihn zu verhöhnen, ihn in seinem Schmerz auch noch zu quälen, war das Letzte, was sie wollte.
Nicci hatte Verständnis für seinen glühenden Zorn; der war zu erwarten gewesen. Ihr war nicht entgangen, was er für die Mutter Konfessor empfand, und sie für ihn. Allein der fein verflochtene Lattenzaun seiner Gefühle für diese Frau gewährleistete die Festigkeit der Wände seines Verschlags. Zwar weckte seine Qual Niccis Mitgefühl, trotzdem war ihr bewusst, dass gerade sie nicht zu ihrer Linderung beitragen konnte. Es würde dauern, bis seine Wunden verheilt waren, und mit der Zeit würden die Latten seines Zauns durch andere ersetzt werden.
Eines Tages würde er sich mit dem Unabänderlichen abfinden und lernen, die Wahrheit der Dinge zu begreifen, die sie ihm zu zeigen beabsichtigte. Eines Tages würde er das Unumgängliche ihres Tuns verstehen, geschah dies alles doch in bester Absicht.
Nicci ließ sich am Rand der Lichtung auf eine graue Granitplatte nieder, die nach den ungewöhnlichen Ecken und Kanten ihrer zerklüfteten Oberfläche zu urteilen früher ein Teil jenes Felsenriffs gewesen sein musste, das unter dem satten Grün der Balsamtannen und Föhren in ihrem Rücken herausragte, das die unerbittlichen Kräfte der Natur jedoch im Laufe der Zeit davon abgerückt hatten, so dass zwischen den einst miteinander verbundenen Kanten eine Lücke in Form eines Blitzes zurückgeblieben war.
Nicci saß mit durchgedrücktem Rücken da, eine Angewohnheit, die ihre Mutter ihr bereits in jungen Jahren eingetrichtert hatte, und beobachtete, wie Richard sich an das Absatteln der Pferde machte. Er ließ die beiden ein wenig Hafer aus Leinenfuttersäcken fressen, während er Steine aus der Lichtung zusammentrug. Anfangs vermochte sie sich überhaupt nicht vorzustellen, was er da tat. Als er sie dann zusammen mit dem eingesammelten Holz unter die Zweige des Schutzbaums schleppte, erkannte sie, dass er mit den Steinen einen Ring um die Feuerstelle legen wollte. Er blieb lange drinnen, daher wusste sie, dass er damit beschäftigt war, mit dem feuchten Holz ein Feuer zu entfachen. Wäre sie stark genug gewesen, nasses Holz zu entzünden, hätte sie ihm mit ihrer Gabe helfen können, doch das war sie nicht.
Richard schien der Aufgabe allerdings gewachsen zu sein; noch am Abend zuvor hatte sie ihm zugesehen, wie er – erst mit Birkenrinde und Spänen, anschließend mit kleinen Zweigen – Feuer gemacht hatte. Für derartige Aktivitäten unter freiem Himmel war Nicci nie zu haben gewesen, daher überließ sie diese ihm und nahm stattdessen die bescheidene Reparatur des Sattelgurtes bei ihrem Pferd in Angriff. Der Regen hatte vorläufig nachgelassen, und sie spürte nur noch das feine Prickeln von Nebel auf ihren Wangen.
Gerade war sie dabei, die losen Schnüre des schweren, geflochtenen Sattelgurtes wieder mit seiner Schnalle zu verknoten, als sie hörte, wie ein leises Knistern unter dem Baum hervordrang. Das Zischen und Knacken verriet ihr, dass es Richard gelungen war, das Feuer in Gang zu bringen. Sie vernahm das Scheppern eines Topfes auf einem Stein und schloss daraus, dass er Wasser zum Kochen aufsetzte.
Nicci saß schweigend auf der Granitplatte und entwirrte den verhedderten Sattelgurt, als Richard wieder zum Vorschein kam, um sich um die Pferde zu kümmern. Von ihren Futtersäcken befreit, tranken die Pferde aus einem in einer Vertiefung des glatten, gelbbraunen Felsenriffs liegenden Wassertümpel. Richard trug zwar dem Wald angemessene dunkle Kleidung, allerdings nahm diese seiner Haltung dennoch nichts von ihrer Würde. Mit einem einzigen Blick aus seinen grauen Augen erfasste er, was sie gerade tat. Er überließ sie ihrem Knoten und ging daran, die Pferde zu striegeln. Seine großen Hände arbeiteten ruhig und geschmeidig, sicher und mit Feingefühl. Die Pferde wussten es bestimmt zu schätzen, wenn ihnen jemand all den Matsch von den Fesseln entfernte. Sie an ihrer Stelle wäre jedenfalls froh gewesen.
»Ihr habt gesagt, wir müssten uns unterhalten«, wandte sich Richard schließlich an sie, während er mit der Striegelbürste über das Hinterteil der Stute strich und die letzten Schlammspritzer entfernte. »Ich nehme an, diese Unterhaltung wird darauf hinauslaufen, dass Ihr mir die Bedingungen meiner Gefangenschaft diktiert. Ich könnte mir denken, dass Ihr für Eure Gefangenen gewisse Regeln habt.«
Sein eisiger Ton klang, als hätte er beschlossen, sie sei wenig zu provozieren, um ihre Reaktion zu testen. Nicci legte den Sattelgurt beiseite und antwortete auf seinen herausfordernden Ton mit ehrlichem Mitgefühl.
»Dass dir einmal etwas zugestoßen ist, Richard, sollte dich nicht zu der Annahme verleiten, es werde dir noch mal passieren. Das Schicksal gebiert nicht ein ums andere Mal dasselbe Kind. Jedes ist anders, diesmal verhält es sich anders als die beiden vorigen Male.«
Wie schon der mitfühlende Blick in ihren Augen, so schien auch ihre Entgegnung ihn in einem unbedachten Augenblick zu erwischen. Einen Moment lang starrte er sie an, dann ging er in die Hocke, um den Striegel in ein Seitenteil der Satteltasche zurückzustecken und einen kleinen Meißel hervorzuziehen.
»Die beiden vorigen Male?« Er konnte sie unmöglich missverstanden haben. Seinem ausdruckslosen Gesicht war nicht anzusehen, was er dachte, als er den rechten Vorderhuf des Hengstes anhob, um den Schmutz zu entfernen. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Ihr redet.«
Wie er mit dem Meißel in den Huf eindrang, versuchte er auch in ihre Gedanken vorzudringen, um herauszufinden, wie viel sie von diesen beiden Malen wusste und was ihrer Meinung nach diesmal anders war. Zweifellos würde er, wie jeder Krieger, in Erfahrung bringen wollen, wie sie die Fehler seiner früheren Häscher vermeiden wollte.
Noch war er nicht bereit zu glauben, dass es diesmal grundsätzlich anders war.
Richard nahm sich die Hufe des Hengstes der Reihe nach vor und säuberte sie, bis er schließlich am linken Vorderbein anlangte, unmittelbar neben ihr.
Schließlich war er fertig und setzte das Bein des Hengstes auf dem Boden ab; Nicci stand auf. Als er sich daraufhin umdrehte, stand sie so nahe, dass sie seinen warmen Atem auf ihrer Wange spürte. Er bannte sie mit seinem wütenden Funkeln, einem Blick, der jedoch längst nicht mehr so beunruhigend auf sie wirkte wie noch zu Beginn.
Statt zurückzuschrecken, ertappte sie sich dabei, wie sie in seine durchdringenden Augen schaute und staunte, dass sie ihn in ihrer Gewalt hatte. Endlich! Ihre Verwunderung hätte kaum größer sein können, wäre es ihr gelungen, das Licht von Mond und Sternen auf Flaschen zu ziehen.
»Du bist ein Gefangener«, sagte Nicci, »das macht deine Wut und deinen Groll vollkommen verständlich. Ich habe zu keinem Zeitpunkt erwartet, dass du dich darüber freust, Richard. Trotzdem ist es nicht dasselbe wie die beiden Male zuvor.« Sie legte ihm behutsam die Hand an den Hals. Er reagierte überrascht, spürte aber gleichzeitig, dass er nicht unmittelbar in Gefahr war. »Damals«, versuchte sie ihn mit ihrer Ruhe zu beschwichtigen, »hattest du einen Ring um deinen Hals, und zwar beide Male.«
»Ihr wart im Palast der Propheten, als man mich dorthin brachte.« Sie spürte, wie er schlucken musste. »Aber das andere Mal…«
Sie nahm ihre Hand von seinem Hals. »Ich verwende keinen Ring, wie es die Schwestern des Lichts taten, um dich zu beherrschen, um dir Schmerzen zuzufügen, damit du gehorchst, oder um dich ihren lächerlichen Prüfungen zu unterziehen. Mein Vorhaben hat damit nichts gemein.«
Sie zog ihren Überwurf nach vorne über die Schultern und lächelte kühl. »Erinnerst du dich noch, wie du den Palast der Propheten zum ersten Mal betratst? Erinnerst du dich noch an die Rede, die du damals hieltest?«
Richards Vorsicht ließ seine Worte brüchig klingen. »Nicht … Wort für Wort.«
Ihr Blick war noch immer in die Vergangenheit gerichtet. »Ich schon. Damals sah ich dich zum ersten Mal. Ich erinnere mich noch an jedes einzelne Wort.«
Richard schwieg, doch sie sah ihm an den Augen an, wie die Schattenbilder seiner Erinnerung in Bewegung gerieten.
»Du bekamst einen Wutanfall – ganz ähnlich wie jetzt, und hast uns einen roten Lederstab gezeigt, der an deinem Hals hing. Erinnerst du dich jetzt, Richard?«
»Schon möglich.« Sein wütend argwöhnischer Blick brach. »Seitdem ist eine Menge passiert. Vermutlich habe ich es einfach verdrängt.«
»Du hast erzählt, man habe dir bereits früher einen Halsring angelegt, und dass die Person, die dies getan hat, dir Schmerzen zugefügt hat, um dich zu bestrafen und dich auszubilden.«
Seine Körperhaltung wurde angespannt und wachsam. »Und weiter?«
Sie konzentrierte sich abermals ganz auf seine grauen Augen, Augen, denen kein Lidzucken und kein Atemzug von ihr entging, während er jedes ihrer Worte sorgfältig abwog. Sie wusste, das alles floss ein in eine innere Berechnung – eine grundlegende Analyse, wie hoch das Hindernis war, und ob er es überwinden konnte. Er konnte es nicht.
»Ich habe immer schon darüber nachgedacht«, sagte sie. »Über das, was du damals darüber sagtest, dass man dir bereits einmal einen Halsring angelegt habe. Vor ein paar Monaten nahmen wir eine Frau in roter Lederkleidung gefangen, eine Mord-Sith.« Seine Gesichtsfarbe wurde eine winzige Spur blasser. »Sie behauptete, sie sei auf der Suche nach Lord Rahl und wolle ihn beschützen. Ich konnte sie überreden, mir alles zu erzählen, was sie über dich wusste.«
»Ich stamme nicht aus D’Hara.« Seine Stimme klang selbstsicher, dennoch spürte sie darunter einen reißenden Strom der Angst. »Eine Mord-Sith dürfte nahezu nichts über mich wissen.«
Nicci langte unter ihren Überwurf und holte den Gegenstand hervor, den sie mitgebracht hatte. Sie ließ den kleinen roten Lederstab aus ihren Fingern gleiten, so dass er vor seinen Füßen landete. Er straffte sich.
»O nein, das stimmt nicht, Richard. Sie wusste eine ganze Menge.« Sie lächelte ein dünnes Lächeln, weder aus Freude noch aus Spott, sondern aus einer unbestimmten Traurigkeit im Angedenken dieser tapferen Frau. »Sie kannte Denna. Sie war im Palast des Volkes in D’Hara, wohin man dich brachte, nachdem Denna dich gefangen genommen hatte. Sie wusste alles darüber.«
Richard senkte den Blick. Er ging in die Hocke, hob voller Ehrfurcht den roten Lederstab vom feuchten Boden auf und wischte ihn an seinem Hosenbein ab, als wäre er von unschätzbarem Wert.
»Eine Mord-Sith würde Euch niemals etwas erzählen.« Er richtete sich auf und sah ihr unerschrocken in die Augen. »Eine Mord-Sith ist das Produkt von Folterqualen. Sie würde bestenfalls so viel preisgeben, dass Ihr sie für willig haltet. Sie würde Euch eine geschickte Lüge auftischen, um Euch zu täuschen. Eher würde sie sterben, als etwas zu verraten, was ihrem Lord Rahl schaden könnte.«
Mit einem ihrer schlanken Finger strich Nicci sich eine durchnässte Strähne ihres blonden Haars aus dem Gesicht. »Du unterschätzt mich, Richard. Diese Frau war überaus tapfer. Sie hat mir äußerst Leid getan, andererseits gab es Dinge, die ich unbedingt wissen wollte. Sie hat alles erzählt. Sie hat mir alles erzählt, was ich wissen wollte.«
Nicci sah, wie der Zorn in ihm aufstieg und seine Wangen erröten ließ. Das hatte sie weder beabsichtigt noch gewollt. Sie sprach die Wahrheit, er aber wollte nichts davon wissen und versuchte sie mit seinen falschen Vermutungen in den Hintergrund zu drängen.
Ein kurzer Augenblick verstrich, dann endlich fand die Wahrheit ihren Weg in seine Augen. Der Zorn fiel zögernd von ihm ab und machte einer schweren Traurigkeit Platz, die ihn aus Kummer über diese Frau schlucken ließ. Nichts anderes hatte Nicci von ihm erwartet.
»Offenbar«, sagte Nicci leise, »war Denna für das Foltern überaus begabt…«
»Ich kann auf Euer Mitgefühl verzichten, ich brauche es nicht.«
»Aber genau das empfand ich, Richard, für das, was diese Frau dich durchmachen ließ, aus keinem anderen Grund, als dir Schmerzen zuzufügen. Das sind die allerschlimmsten Schmerzen, hab ich Recht? Schmerzen, von denen niemand etwas hat, die zu keinem Geständnis führen. Die Sinnlosigkeit verschlimmert ihre quälende Wirkung noch. Das war es, worunter du so sehr gelitten hast.«
Nicci deutete auf die rote Lederwaffe in seiner Hand. »Diese Frau hat diese Art von Schmerzen nicht erlitten. Ich wollte nur, dass du das weißt.«
Misstrauisch presste er die Lippen aufeinander, wich ihrem Blick aus und starrte hinaus in die aufkommende Dunkelheit.
»Du hast sie getötet, diese Mord-Sith mit Namen Denna, aber erst, nachdem sie dir unsägliches Leid zugefügt hatte.«
»Genau wie ich ihr.« Die stillschweigende Drohung in Richards Worten machte seinen Gesichtsausdruck hart.
»Du hast den Schwestern des Lichts gedroht, weil auch sie dir einen Halsring angelegt haben, und ihnen erklärt, sie seien es nicht einmal wert, dieser Frau, dieser Denna, die Stiefel zu lecken. Du hast den Schwestern erklärt, sie glaubten, die Leine deines Halsrings in der Hand zu halten, und ihnen versichert, sie würden schon noch merken, dass sie einen Blitz in Händen hielten. Glaube keinen Augenblick, ich hätte für deine Gefühle oder deine Entschlossenheit in dieser Sache kein Verständnis.«
Nicci streckte die Hand aus und tippte ihm mitten auf die Brust.
»Diesmal aber, Richard, umschließt der Ring dein Herz, und es ist Kahlan, die du im Falle eines Fehlers verlieren wirst.«
Er ballte die Fäuste, seine Arme waren völlig starr. »Kahlan würde eher sterben, als hinzunehmen, dass ich ihretwegen zum Sklaven werde. Sie bat mich, ihr Leben für meine Freiheit zu opfern. Vielleicht kommt einst der Tag, an dem ich gezwungen bin, ihre Bitte zu respektieren.«
Seine Drohungen erfüllten Nicci mit einem Gefühl gelangweilter Mattigkeit. Die Menschen griffen ihr gegenüber zu oft zum Mittel der Drohung.
»Das liegt ganz bei dir, Richard. Aber du machst einen großen Fehler, wenn du glaubst, dass mich das schert.«
Sie konnte sich nicht mal ansatzweise daran erinnern, wie oft Jagang ihr Leben ernsthaft bedroht, oder wie viele Male er ihr dabei die Hände um den Hals gelegt und sie gewürgt hatte, nachdem er sie bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen hatte. Sie vermochte all die unzähligen Male – angefangen mit jenem einen Mal, als ein Mann sie als kleines Mädchen in eine Gasse gezerrt und ausgeraubt hatte – gar nicht zu zählen, die sie ernsthaft geglaubt hatte, sterben zu müssen.
Doch es waren nicht nur Männer wie diese, die ihr Leid versprachen.
»Ich kann dir gar nicht sagen, welche Versprechungen der Hüter der Unterwelt mir in meinen Träumen gemacht hat, Versprechungen endlosen Leides. Das ist mein Schicksal. Also, bitte, Richard, glaube nicht, du könntest mir mit deinen armseligen Drohungen Angst einjagen. Weitaus grausamere Männer als du haben mir glaubwürdig meinen Untergang versprochen. Ich habe mich längst mit meinem Schicksal abgefunden und aufgehört, mich zu ängstigen.«
Ihre Arme fielen schwer an ihrem Körper herab. Sie fühlte sich vollkommen leer. Der Gedanke an Jagang, an den Hüter, erinnerte sie daran, dass ihr Leben sinnlos war. Allein was sie in Richards Augen erblickt hatte, ließ sie ahnen, dass es vielleicht noch etwas anderes gab, etwas, das sie noch entdecken und verstehen musste.
»Und was wollt Ihr jetzt von mir?«, fragte Richard herrisch.
Nicci holte ihre Gedanken in das Hier und Jetzt zurück. »Das sagte ich bereits. Deine Pflicht in diesem Leben besteht von nun an darin, mein Ehemann zu sein. Genau so wird es sein – falls du möchtest, dass Kahlan überlebt. Ich habe dir in allen Punkten die Wahrheit erzählt. Begleitest du mich und erfüllst mir die kleinen Wünsche, um die ich dich bitte, indem du beispielsweise die Rolle meines Gemahls übernimmst, wird Kahlan ein langes Leben beschert sein. Ich kann natürlich nicht behaupten, dass es ein Leben ungetrübten Glücks sein wird, schließlich weiß ich, dass sie dich liebt.«
»Wie lange, glaubt Ihr, könnt Ihr mich halten, Nicci?« Richard fuhr sich verzweifelt mit den Fingern durch sein nasses Haar. »Was immer Ihr Euch wünscht, es wird niemals funktionieren. Wie lange wird es dauern, bis Ihr diese absurde Posse leid werdet?«
Ihr Blick verengte sich, als sie ihn in seiner vollkommenen Unschuld, wenn nicht gar Unwissenheit betrachtete.
»Mein lieber Junge, wie du weißt, wurde ich vor einhundertundeinundachtzig Jahren in diese erbärmliche Welt hineingeboren. Glaubst du vielleicht, ich hätte in dieser langen Zeit nicht eine Menge Geduld gelernt? Obwohl wir nach außen hin vielleicht so aussehen, als wären wir im selben Alter, und ich in vielerlei Hinsicht tatsächlich nicht älter bin als du, habe ich bereits das Siebenfache deines Lebensalters auf dem Buckel. Glaubst du allen Ernstes, du bist geduldiger als ich? Hältst du mich für ein albernes junges Ding, das du übertölpeln oder durch Abwarten ausstechen kannst?«
Er wurde beherrschter. »Nicci, ich…«
»Und glaube ja nicht, du kannst dich mit mir anfreunden oder mich für dich einnehmen. Ich bin weder Denna noch Verna oder Warren, und, was das anbelangt, nicht einmal Pasha. Freundschaft interessiert mich nicht.«
Er drehte sich ein wenig zur Seite und strich dem Hengst, als das Tier wegen des Geruchs des Holzrauchs, der kräuselnd durch die oberen Ästen des Schutzbaumes aufstieg, schnaubend mit einem Huf aufstampfte, mit der Hand über die Schulter.
»Ich will wissen, was Ihr dieser armen Frau Abscheuliches angetan habt, dass sie Euch von Denna erzählt hat.«
»Die Mord-Sith hat es mir im Tausch für eine Gefälligkeit erzählt.«
Ungläubig die Stirn runzelnd, wandte er sich wieder zu ihr herum. »Welchem Gefallen könntet Ihr einer Mord-Sith tun?«
»Ich habe ihr die Kehle durchgeschnitten.«
Richard schloss die Augen und ließ vor Kummer über diese unbekannte Frau, die seinetwegen hatte sterben müssen, den Kopf sinken. Er presste die Waffe in seiner Faust auf sein Herz, ihre Waffe.
Alle Lebendigkeit war aus seiner Stimme gewichen. »Ich nehme an, Ihr kennt ihren Namen nicht?«
Da war es wieder, dieses Mitgefühl für andere – sogar für Menschen, die er nicht einmal kannte –, das ihn einerseits zu dem Mann machte, der er war, und ihm andererseits gleichzeitig die Hände band. Mit der Zeit würde ihm sein Interesse für andere auch helfen, die Rechtschaffenheit ihres Vorgehens einzusehen. Dann würde auch er bereitwillig für die gerechte Sache der Imperialen Ordnung kämpfen.
»Doch, ich kenne ihn«, sagte Nicci. »Hania.«
»Hania.« Erwirkte zutiefst betrübt. »Ich kannte sie nicht einmal.«
»Richard.« Nicci legte ihm einen Finger unters Kinn und bog sein Gesicht sachte nach oben. »Du sollst wissen, dass ich sie nicht gequält habe. Als ich sie fand, wurde sie gerade gefoltert, und was ich dabei zu sehen bekam, hat mich alles andere als froh gemacht. Ihren Folterknecht habe ich getötet, Hania selbst war unrettbar verloren. Ich bot ihr an, sie von ihren Schmerzen zu erlösen, ihr ein rasches Ende zu bereiten, vorausgesetzt, sie erzählt mir von dir. Ich habe sie zu keinem Zeitpunkt gebeten, dich auf eine Weise zu verraten, die der Imperialen Ordnung nützlich sein könnte. Ich habe mich lediglich nach deiner Vergangenheit erkundigt, nach deiner ersten Gefangenschaft, weil ich verstehen wollte, was du damals, an deinem ersten Tag im Palast der Propheten, gesagt hast.«
Entgegen ihrer Absicht wirkte Richard keinesfalls erleichtert.
»Ihr habt ihr eine rasche Erlösung, wie Ihr es nennt, verwehrt, bis sie Euch gab, was Ihr verlangt habt, und das macht Euch an ihrer Folter mitschuldig.«
Die Erinnerung an diese blutige Tat, für die sie schon seit langem kaum mehr als den Schatten eines Gefühls zu empfinden vermochte, ließ Nicci im trüben Licht den Blick abwenden.
Es gab so viele, die von ihrem Leid erlöst werden mussten – so viele Alte und Kranke, so viele weinende Kinder, so viele Mittellose, Verzweifelte, Verarmte. Diese Frau war nichts als eines jener vielen Opfer des Lebens gewesen, die nach Erlösung schrien. Es war in bester Absicht geschehen.
Nicci hatte sich vom Schöpfer losgesagt und dem Hüter der Unterwelt ihre Seele versprochen, um Sein Werk zu tun. Sie hatte keine andere Wahl gehabt, nur ein gottloser Mensch wie sie brachte es fertig, angesichts des Leidens und der Verzweiflung keine angemessenen Gefühle zu empfinden. Welch bittere Ironie, den Bedürftigen auf diese Art zu dienen.
»Du siehst es vielleicht so, Richard«, sagte sie mit belegter Stimme, den Blick in diesen Albtraum aus empfindungslosen Erinnerungen gerichtet. »Ich tat es damals nicht, ebenso wenig wie Hania. Bevor ich ihr die Kehle durchschnitt, hat sie sich bei mir bedankt für das, was ich zu tun im Begriff war.«
In Richards Augen war keine Spur von Mitleid zu erkennen. »Und warum habt Ihr sie gezwungen, Euch von mir – und Denna – zu erzählen?«
Nicci raffte ihren Überwurf fester um die Schultern. »Ist das nicht offenkundig?«
»Ihr könnt unmöglich den gleichen Fehler begangen haben wie Denna. Ihr seid keine Frau wie sie, Nicci.«
Sie war müde. In der ersten Nacht hatte er nicht geschlafen, das wusste sie; sie hatte seine Augen auf ihrem Rücken gespürt und wusste, wie sehr er litt. Ihm den Rücken zukehrend, hatte sie lautlos geweint, über den Hass in seinen Augen, über die Belastung, immer das Richtige tun zu müssen. Die Welt war so verdorben.
»Vielleicht«, meinte sie mit leiser Stimme, »wirst du mir eines Tages den Unterschied erklären.«
Sie war so ungeheuer müde. Als er am Abend zuvor seiner Müdigkeit erlegen war und sich von ihr fortgedreht hatte, um zu schlafen, war zur Abwechslung Nicci die ganze Nacht wach geblieben, hatte zugesehen, wie er tief und fest schlief und dabei ihre magische Verbindung zur Mutter Konfessor gespürt. Über diese Verbindung empfand Nicci auch für sie starkes Mitgefühl.
Alles geschah nur zum Besten.
»Jetzt sollten wir erst einmal dafür sorgen, dass wir aus diesem schlechten Wetter herauskommen«, sagte Nicci. »Mir ist kalt und ich bin hungrig. Außerdem müssen wir uns dringend ein wenig ausruhen. Und wie gesagt: Zuvor haben wir noch etwas zu besprechen.«
Ihr war bewusst, dass sie ihn nicht würde anlügen können. Alles konnte sie ihm natürlich nicht erzählen, aber ihn bei den Dingen, die sie ihm erzählte, anzulügen, wagte sie ebenso wenig.
Das Spiel hatte begonnen.