38

Kahlan ließ ihr Pferd jäh anhalten, als sie spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht schoss. »Was habt Ihr vor?«, fragte Cara, als Kahlan ihr Bein über den Hals des Pferdes schwenkte und zu Boden sprang.

Der Mond schien auf eine dünne Schicht aus eilig dahinziehenden Wolkenschleiern, was der Landschaft einen matten, friedlichen Glanz verlieh. Die dünne Schneeschicht schien das gedämpfte Mondlicht einzufangen, wodurch er heller leuchtete, als dies sonst der Fall gewesen wäre.

Kahlan deutete in die Richtung der kleinen Gestalt, die sie im schwachen Licht gerade eben erkennen konnte. Das hagere, wohl kaum mehr als zehn Jahre alte Mädchen stand an einem Fass, in das es einen Metallstößel rammte, um das Glas auf dessen Boden zu zerstoßen. Kaum dass Kahlan abgestiegen war, übergab sie die Zügel an Cara.

Kahlan stapfte hinüber zu den Schwestern, die auf dem verschneiten Boden arbeiteten. Vor ihr erstreckte sich eine wegen des dringend erforderlichen Rückenwindes scheinbar wahllos angeordnete Reihe von über einhundert Frauen, die sich ganz auf die Arbeit vor sich konzentrierten. Viele hatten ihre Umhänge wie ein Zelt über sich selbst und das, was sie dort taten, gespannt.

Sie war noch nicht weit an der Reihe entlanggegangen, als Kahlan sich vorbeugte und der Prälatin eine Hand unter den Arm schob, um ihr aufzuhelfen. Eingedenk der ernsten Arbeit, die allenthalben verrichtet wurde, versuchte Kahlan wenigstens die Stimme zu senken, wenn sie schon keine Sympathie hineinzulegen vermochte.

»Was hat Holly hier unten zu suchen, Verna?«

Verna blickte flüchtig über die Köpfe der ein Dutzend Schwestern hinweg, die, den leichten Wind im Rücken, vor einer langen Planke knieten und Glassplitter behutsam mit Stößeln in Mörsern zerkleinerten. Da nicht annähernd genug Mörser und Stößel vorhanden waren, verwendeten zur anderen Seite hin zahlreiche Frauen mit einer Vertiefung versehene Felsen und rundgeschliffene Steine, um die Glassplitter sorgfältig zu zermahlen. Allen Frauen stand die Konzentration ins Gesicht geschrieben. Der Unfall, bei dem eine Schwester geblendet worden war, hatte sich zugetragen, als der Wind plötzlich umgeschlagen war, und eine Bö ihr Werk aufgewirbelt und ihr ins Gesicht geweht hatte. Das Gleiche konnte jederzeit wieder passieren, obwohl sich der Wind mit Einbruch der Dunkelheit etwas abgeschwächt hatte und zu einer steten Brise geworden war.

Holly war in einen viel zu großen Umhang gewickelt. Mit einem Ausdruck der Entschlossenheit im Gesicht hob und senkte sie den Stößel in dem etwas abseits der gefährlichen Arbeit der Schwestern aufgestellten Fass. Kahlan fiel auf, dass der Stößel schwach grünlich schimmerte.

»Sie hilft uns, Mutter Konfessor.«

»Sie ist noch ein Kind!«

Verna deutete hinaus in die Dunkelheit, auf etwas, das Kahlan offenbar entgangen war. »Das sind Helen und Valery auch.«

Kahlan fasste ihren Nasenrücken zwischen Zeigefinger und Daumen und atmete tief durch. »Welcher Wahn hat von Euch Besitz ergriffen, dass Ihr Euch hier, in unmittelbarer Nähe der Front, von Kindern helfen lasst, Menschen blind zu machen?«

Verna sah kurz zu den in der Nähe arbeitenden Frauen hinüber, fasste Kahlans Arm am Ellbogen und führte sie außer Hörweite der anderen. Als sie allein waren, wo die anderen sie vermutlich nicht mehr belauschen konnten, verschränkte sie die Arme vor dem Körper und setzte jene strenge Miene auf, die ihr wie selbstverständlich zuzufliegen schien.

»Holly mag noch ein Kind sein, Kahlan, aber sie ist ein mit der Gabe gesegnetes Kind und außerdem alles andere als dumm. Das Gleiche gilt auch für Valery und Helen. Holly hat in ihrem jungen Leben sehr viel mehr gesehen, als irgendein Kind sehen sollte. Sie weiß, was heute Nacht bei diesem Angriff geschehen wird, und was uns erwartet. Sie hatte entsetzliche Angst – wie all die anderen Kinder auch.«

»Und deshalb bringt Ihr sie hierher an die Front – wo die Gefahr am größten ist?«

»Was hätte ich Eurer Meinung nach stattdessen tun sollen? Sie irgendwohin schicken, wo sie von Soldaten bewacht wird? Wollt Ihr, dass ich sie in einem Augenblick wie diesem allein lasse, damit sie vor Angst zittert?«

»Aber das hier ist…«

»Sie hat die Gabe. So entsetzlich es erscheinen mag, es ist besser so für sie – für die anderen übrigens auch. Sie ist in Gesellschaft der Schwestern, die, anders als andere, sie und ihre Begabung verstehen. Könnt Ihr Euch noch erinnern, wie tröstlich die Gesellschaft älterer Konfessoren für Euch war, die wussten, wie Euch bei manchen Dingen zumute war?«

Kahlan erinnerte sich durchaus, behielt es jedoch für sich.

»Für sie und die anderen Novizinnen sind die Schwestern jetzt die einzigen Angehörigen, die sie haben. Holly ist nicht allein und verängstigt. Vielleicht hat sie Angst, aber sie tut etwas, um uns zu helfen, diese Angst in eine Richtung zu lenken, die den Grund ihrer Angst überwinden hilft.«

Kahlans Gesicht zeigte noch immer kein Verständnis. »Sie ist noch ein Kind, Verna.«

»Und Ihr musstet heute ein Kind töten, ich verstehe schon. Trotzdem solltet Ihr nicht zulassen, dass dieses fürchterliche Ereignis Holly das Leben zusätzlich erschwert. Es stimmt, das, wobei sie hilft, ist fürchterlich, aber so liegen die Dinge zurzeit nun mal. Gut möglich, dass sie heute Nacht gemeinsam mit uns allen stirbt. Könnt Ihr Euch überhaupt vorstellen, was diese Rohlinge vorher noch mit ihr anstellen würden? Zumindest das übersteigt die Einbildungskraft ihres jungen Verstandes; was sie versteht, ist entsetzlich genug.

Hätte sie sich irgendwo verstecken wollen, ich hätte sie gelassen, aber wenn sie sich so entscheidet, hat sie ein Recht darauf, zu ihrer eigenen Rettung beizutragen. Sie besitzt die Gabe und kann ihre Kraft dazu verwenden, mit einfachen Mitteln bei dem, was getan werden muss, zu helfen. Sie hat mich geradezu angefleht, sie mithelfen zu lassen.«

Besorgt raffte Kahlan ihren Fellüberwurf am Hals zusammen und schaute über ihre Schulter hinüber zu dem kleinen Mädchen, das mit seinen dünnen Ärmchen den schweren Stahlstößel hob und senkte, um das Glas auf dem Boden des Fasses zu zerkleinern. Das Gesicht angespannt, konzentrierte Holly sich darauf, gleichzeitig ihre Gabe zu benutzen und den schweren Stößel anzuheben.

»Gütige Seelen«, meinte Kahlan leise bei sich, »welch ein Wahnsinn.«

Ungeduldig verlagerte Cara ihr Gewicht auf das andere Bein; nicht etwa aus Gleichgültigkeit gegenüber der Situation, sondern schlicht weil es die Dringlichkeit gebot. Wahnsinn oder nicht, ihnen blieb nicht mehr viel Zeit, und wie Verna angedeutet hatte, konnten sie allesamt sterben, bevor die Nacht vorüber war. So grausam es klang, es gab Wichtigeres als das Leben eines Kindes beziehungsweise dreier Kinder.

»Wie geht die Arbeit voran? Werdet Ihr rechtzeitig fertig sein?«

Vernas durch nichts zu erschütternder Gesichtsausdruck geriet schließlich doch ins Wanken. »Ich weiß es nicht.« Zögernd hob sie ihre Hand und deutete auf das dunkel vor ihnen liegende Tal. »Der Wind steht genau richtig, allerdings ist die Front, auf der sie gegen unsere Streitkräfte vorrücken, im Tal sehr breit. Nicht, dass wir gar nichts hätten, aber wir müssen unbedingt eine ausreichende Menge Glasstaub herstellen, um ihn über die gesamte Breite des Schlachtfeldes verteilen zu können, sobald der Feind nahe genug ist.«

»Nun, ein wenig habt Ihr ja schon. Der bislang hergestellte Staub wird dem Feind doch sicherlich Schaden zufügen.«

»Aber wenn es nicht genug ist, können sie ihn vielleicht umgehen, oder aber er ist nicht konzentriert genug, um so viel Schaden anzurichten, dass ihr Vormarsch ins Stocken gerät. Eine geringfügige Anzahl von Verwundeten wird sie kaum davon abhalten, ihren Angriff fortzusetzen.« Verna presste ihre geballte Faust mit der anderen Hand zusammen. »Wenn der Schöpfer die Imperiale Ordnung wenigstens nur noch eine Stunde aufhielte, dann hätten wir vermutlich genug beisammen.«

Kahlan fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Das war viel verlangt, in Anbetracht der Dunkelheit hielt sie es jedoch nicht für völlig ausgeschlossen, dass die Imperiale Ordnung so langsam marschieren musste, um Verna und den Schwestern die Zeit zu lassen, die sie brauchten.

»Und Ihr seid sicher, dass wir nicht helfen können? Es gibt nichts, was jemand ohne die Gabe tun könnte, um Euch zu unterstützen?«

Vernas Gesicht, im Schein des Mondes deutlich zu erkennen, bekam wieder den maskenhaften Ausdruck von Autorität.

»Nun, doch, da ist in der Tat etwas.«

»Und das wäre?«

»Ihr könntet mich allein lassen, damit ich arbeiten kann.«

Kahlan seufzte. »Versprecht mir nur eins.« Verna zog die Brauen hoch, so als sei sie gewillt, aufmerksam zuzuhören. »Könntet Ihr, wenn der Angriff erfolgt, und Ihr dieses Spezialglas einsetzen müsst, vorher die Kinder von hier fortschaffen? Bringt sie zur Nachhut, von wo aus sie über den Pass und in Sicherheit gebracht werden können.«

Verna lächelte erleichtert. »In diesem Punkt sind wir uns einig, Mutter Konfessor.«

Während Verna sich wieder eilig an ihre Arbeit machte, gingen Kahlan und Cara zurück, vorbei an jener Stelle, wo Holly das Glas für die mit der Gabe gesegneten Frauen präparierte. Kahlan konnte nicht anders, sie blieb auf ein Wort stehen.

»Wie kommst du voran, Holly?«

Als das Mädchen den Stößel gegen die Seitenwand des Fasses lehnte, betrachtete Cara, der jeder Hang zur Magie abging, das schwach leuchtende Metall mit einem argwöhnischen Stirnrunzeln. Als Holly ihre kleinen Hände von dem Metall löste, verblasste das grünliche Leuchten, so als hätte man einen magischen Docht heruntergedreht.

»Ganz gut, Mutter Konfessor; mir ist bloß kalt. Mittlerweile bin ich es schrecklich leid, immerzu zu frieren.«

Freundlich lächelnd strich Kahlan Holly mit zarter Hand über ihr feines Haar. »Genau wie wir alle.« Kahlan ging neben dem Mädchen in die Hocke. »Sobald wir drüben im nächsten Tal sind, wirst du dich an einem gemütlichen Feuer wärmen können.«

»Das wäre großartig.« Sie warf einen verstohlenen Blick auf ihren stählernen Stößel. »Ich muss wieder an die Arbeit, Mutter Konfessor.«

Kahlan konnte nicht widerstehen, das Mädchen an sich zu ziehen und ihr einen Kuss auf die eisig kalte Wange zu drücken. Nach anfänglichem Zögern gab Holly allen Widerstand auf und schlang Kahlan ihre dünnen Ärmchen um den Hals.

»Ich hab solche Angst«, meinte sie leise.

»Ich auch«, erwiderte Kahlan ebenso leise, während sie das Mädchen fest an sich drückte. »Ich auch.«

Holly richtete sich auf. »Wirklich? Habt Ihr auch Angst, dass diese schrecklichen Männer uns umbringen könnten?«

Kahlan nickte. »Manchmal fürchte ich mich auch, aber ich weiß trotz allem, dass wir eine Menge tapferer Menschen haben, die uns sicher behüten werden. Sie arbeiten, genau wie du, so hart sie können, damit wir uns eines Tages sicher fühlen können und keine Angst mehr zu haben brauchen.«

Das Mädchen steckte ihre Hände unter ihren Fellüberwurf, um sie zu wärmen. Sie senkte den Blick auf den Boden vor ihren Füßen. »Ann fehlt mir auch.« Sie sah wieder auf. »Ist Ann in Sicherheit?«

Kahlan suchte nach einem Wort des Trostes. »Es ist noch nicht lange her, dass ich Ann gesehen habe; da ging es ihr gut. Ich glaube, du brauchst dir um sie keine Sorgen zu machen.«

»Sie hat mich gerettet. Ich hab sie lieb und vermisse sie sehr. Wird sie bald wieder bei uns sein?«

Kahlan legte eine Hand an die Wange des Mädchens. »Ich weiß es nicht, Holly. Sie hatte wichtige Geschäfte zu erledigen, aber ich bin sicher, dass wir sie Wiedersehen werden.«

Erfreut über diese Neuigkeiten und scheinbar erleichtert darüber, dass sie mit ihren Ängsten nicht allein war, machte Holly sich mit wiedergewonnener Entschlossenheit an ihre Arbeit.

Kahlan und Cara waren gerade dabei, ihre Rösser abzuholen, als sie hörten, wie sich ein Pferd im Galopp näherte. Bevor sie den Reiter erkennen konnte, sah Kahlan den schwarzen Klecks auf seinem Hinterteil und erkannte ihn. Als er sie winken sah, ließ Zedd Spinne zu ihr zurücktraben.

»Sie kommen«, verkündete der Zauberer ohne Vorrede.


Verna hatte Zedd heranreiten sehen und kam herbeigestürzt. »Es ist noch zu früh! So früh sollten sie gar nicht hier sein!«

Er starrte sie offenen Mundes an. »Verdammt, Frau, soll ich ihnen vielleicht erzählen, dass uns ein Angriff im Augenblick etwas ungelegen käme, und sie bitten, sich noch ein wenig zu gedulden und uns später umzubringen?«

»Ihr wisst genau, was ich meine«, fuhr sie ihn an. »Wir haben noch nicht genug Glas hergestellt.«

»Wie lange wird es noch dauern, bis sie hier sind?«, fragte Kahlan.

»Zehn Minuten.«

Diese winzige Zeitspanne war alles, was sie noch vom sicheren Untergang trennte. Kahlan glaubte ihr Herz bis zum Hals schlagen zu fühlen, als sie sich schlagartig an das Gefühl vollkommener Verlassenheit erinnerte, als man sie überfallen und beinahe zu Tode geprügelt hatte. Verna geriet aus stummer Verzweiflung, Wut und Angst ins Stammeln.

»Habt Ihr schon etwas fertig?«, erkundigte sich Zedd seelenruhig, so als wollte er wissen, was es zum Abendessen gibt.

»Ja, natürlich«, antwortete sie. »Aber wenn sie so schnell hier sind, wird es nicht reichen. Gütiger Schöpfer, wir haben nicht annähernd so viel, wie wir brauchen, um es über die gesamte Front zu verteilen; und zu wenig ist so gut wie überhaupt nichts.«

»Wir haben jetzt keine andere Wahl mehr.« Zedd starrte in die Dunkelheit, Dinge sehend, die womöglich nur ein Zauberer sah. Um seinen Mund hatte sich ein Zug bitterer Enttäuschung festgesetzt. Er sprach mit einer körperlosen Stimme, wie ein Mann, der nur so tut als ob, obwohl er längst weiß, dass er am Ende seiner Möglichkeiten, vielleicht sogar seines Glaubens angelangt ist. »Fangt mit dem an, was Ihr habt; wir werden einfach auf das Beste hoffen müssen. Ich habe Boten bei mir und werde General Meiffert über die Lage auf dem Laufenden halten. Er wird die Informationen dringend brauchen.«

Mitansehen zu müssen, dass Zedd scheinbar alle Hoffnung aufgegeben hatte, ließ ihr Schicksal in einem überaus erschreckenden Licht erscheinen. Zedd war stets derjenige gewesen, der ihnen ihr Ziel vor Augen gehalten und Mut gemacht, der ihnen Zuversicht und Selbstbewusstsein gegeben hatte.

»Warte«, rief Kahlan.

Er hielt inne und drehte sich zu ihr um. Seine Augen glichen einem Fenster in eine matte, erschöpfte Seele. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie viele Kämpfe er in seinem Leben oder auch nur in den letzten Wochen ausgefochten hatte. Tausend Gedanken schienen Kahlan durch den Kopf zu schießen, als sie wie von Sinnen nach einer Möglichkeit suchte, ihr bitteres Schicksal abzuwenden.

Kahlan konnte Zedd unmöglich im Stich lassen. So oft hatte er sie unterstützt, jetzt brauchte er die Schulter eines anderen Menschen, der ihm half, die Belastung zu ertragen. Sie warf ihm einen wild entschlossenen Blick zu, bevor sie sich der Prälatin zuwandte.

»Und wenn wir das Glas nicht wie geplant freisetzen, Verna? Was, wenn wir es nicht einfach verwehen lassen und darauf hoffen, dass der Wind es dorthin trägt, wo wir es haben wollen?«

Verna breitete verblüfft die Hände aus. »Wie meint Ihr das?«

»Braucht man nicht nur deswegen mehr von diesem Glas – eben jene Menge, die Ihr Eurer Meinung nach benötigt – damit es sich über das ganze Tal verteilen kann, und trotzdem genug übrig bleibt, um in der Luft zu schweben?«

»Nun … ja, natürlich, aber…«

»Angenommen«, fragte Kahlan, »wir setzen es entlang einer Linie unmittelbar vor ihrer vordersten Angriffsreihe frei? Genau da, wo es gebraucht wird? Dann würde man doch weniger benötigen, oder?«

»Vermutlich schon.« Verna warf die Hände in die Luft. »Aber ich habe es Euch doch schon erklärt, wir dürfen auf keinen Fall Magie zu Hilfe nehmen, sonst entdecken sie unseren Zauber und schirmen das Glas ebenso schnell ab, wie wir es freisetzen, und alles wäre umsonst. Besser, wir setzen das frei, was wir haben, und hoffen auf das Beste.«

Kahlan ließ den Blick über die menschenleere, von den friedlichen, den Mond verschleiernden Wolken schwach beleuchtete Ebene schweifen. Draußen im Tal war nichts zu sehen, doch das würde sich bald ändern. Bald würden mehr als eine Million Soldatenstiefel den jungfräulichen Schnee zertrampeln.

Nur das Geräusch von Glas, das zerkleinert wurde, sowie das Stampfen der stählernen Stößel störte die lautlose Dunkelheit. Bald würde ein Schlachtgebrüll die Stille der Nacht zerreißen, das einem das Blut in den Adern gefrieren ließe.

Kahlan spürte dieselbe erdrückende Angst wie damals, als ihr bewusst wurde, dass all die Männer sie ganz allein überrascht hatten. Und denselben Zorn.

»Sammelt zusammen, was Ihr bis jetzt hergestellt habt«, erklärte sie. »Und dann bringt es zu mir.«

Alles starrte sie an.

Zedds Stirn zog sich zu einem faltigen Knäuel zusammen. »Was in aller Welt hast du dir jetzt ausgedacht?«

Kahlan strich sich das Haar aus dem Gesicht, während sie rasch ihren Plan zurechtlegte, damit er wenigstens in ihrem Kopf ein klares Bild ergab.

»Der Feind wird gegen den Wind angreifen – nicht ganz genau, aber für unseren Zweck genau genug. Ich habe mir Folgendes überlegt: Wenn ich parallel zu unserer vordersten Linie unmittelbar vor den feindlichen Truppen herreite und dabei den Glasstaub herausrieseln lasse, wird der Wind ihn hinter mir erfassen und dem Feind geradewegs ins Gesicht wehen. Indem wir ihn genau dort verteilen, wo er gebraucht wird, benötigen wir längst nicht so viel, als wenn wir ihn, in der Hoffnung, dass er sich über das ganze Tal verteilt, von hier aus verwehen lassen würden.« Ihr Blick wanderte von einem verdutzten Gesicht zum anderen. »Versteht Ihr, was ich meine? Würde man näher am Feind nicht viel weniger für unseren Zweck benötigen?«

»Gütiger Schöpfer«, wandte Verna ein, »macht Ihr Euch überhaupt eine Vorstellung davon, wie gefährlich das wäre?«

»Ja«, erwiderte Kahlan wild entschlossen. »Erheblich weniger gefährlich, als sich einem Frontalangriff ihrer gesamten Streitmacht auszusetzen. Also, würde es funktionieren? So redet doch, wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Ihr habt Recht – man würde nicht annähernd so viel benötigen.« Verna legte einen Finger an die Lippen, starrte hinaus in die Dunkelheit und überlegte. »Eins ist sicher, es wäre besser als unsere Methode.«

Kahlan begann sie zu drängen. »Sammelt es ein, sofort. So beeilt Euch doch.«

Verna verzichtete auf weitere Proteste und lief los, um das vorhandene Glas einzusammeln. Cara wollte gerade einen ganzen Schwall von Einwänden loslassen, als Zedd eine Hand hob, so als wollte er sie bitten, das stattdessen ihm zu überlassen.

»Das klingt, als könnte an deiner Idee etwas dran sein, aber jemand anderes soll das übernehmen. Es wäre geradezu töricht, zu riskieren…«

»Ich werde ein Ablenkungsmanöver brauchen«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Irgendetwas, das ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes lenkt. Ich werde im Dunkeln vor ihnen herreiten, daher werden sie mich wahrscheinlich nicht bemerken, trotzdem wäre es am besten, wenn irgendetwas ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nähme, nur für alle Fälle, etwas, das sie dazu verleitet, woanders hinzuschauen – solange sie noch sehen können.«

»Wie gesagt, ein anderer kann das…«

»Nein«, erwiderte sie ruhig und entschieden. »Ich werde niemanden bitten, mir das abzunehmen. Die Idee stammt von mir, also werde ich sie auch ausführen.«

Kahlan glaubte sich persönlich für die Gefahr verantwortlich, in der sie steckten. Sie war es, die einen groben Fehler begangen und auf Jagangs Trick hereingefallen war. Sie hatte den Plan vorgebracht und die Truppen ausgesandt. Sie war es, die Jagangs nächtlichen Überfall überhaupt erst ermöglicht hatte.

Kahlan war sich der schrecklichen Angst, die alle in Erwartung des Angriffs empfanden, nur zu bewusst. Sie musste an Holly denken, die sich vor den plündernden und mordenden Bestien fürchtete, die aus dem Dunkel der Nacht über sie herfallen würden. Ihre Angst war nur zu begründet.

Und Kahlan würde auch den Krieg für sie alle in dieser einen Nacht verlieren, wenn es ihnen nicht gelang, ihre Armee über den Pass in Sicherheit zu bringen.

»Ich mache es selbst«, wiederholte sie. »Genau so wird es geschehen. Während wir hier herumstehen und diskutieren, verspielen wir vielleicht nur unsere Chance. Also, ich benötige ein Ablenkungsmanöver, und zwar schnell.«

Zedd schnaubte verärgert; das Feuer war in seine Augen zurückgekehrt. Mit einer fahrigen Handbewegung deutete er den Hang hinunter. »Dort unten wartet Warren auf mich. Wir beide werden getrennte Stellungen beziehen und dir dein Ablenkungsmanöver verschaffen.«

»Was werdet ihr tun?«

Schließlich gab Zedd sich geschlagen und zeigte ihr ein erbarmungslos verschlagenes Grinsen. »Nichts Besonderes diesmal. Keine ausgetüftelten, in die Irre führenden Tricks, wie sie es zweifellos erwarten. Diesmal werden wir ihnen ein gutes, altmodisches Feuergefecht liefern.«

Kahlan riss einmal hart an dem über ihren Rippen spannenden Riemen, mit dem ihre Lederrüstung an Schultern, Brust und Rücken befestigt war, und zog ihn stramm. Ein Nicken von ihr besiegelte den Pakt.

»Dann also Zaubererfeuer.«

»Halte beim Reiten ein Auge nach rechts, auf unsere Seite; ich möchte nicht, dass du etwas von dem abbekommst, was ich eigentlich unseren Feinden zugedacht habe. Außerdem musst du darauf achten, was ihre mit der Gabe Gesegneten in meine Richtung schleudern.«

Während sie ihren Umhang festhakte, bestätigte sie Zedds Anweisungen mit einem Nicken. Sie überprüfte die Riemen ihrer Beinpanzer und vergewisserte sich, dass sie fest angezogen waren.

Verna kam zurückgeeilt, an jedem vom Gewicht gestreckten Arm einen großen Eimer. Einige Schwestern trippelten hastig neben ihr her.

»Also gut«, keuchte die Prälatin völlig außer Atem. »Gehen wir.«

Kahlan langte nach den Eimern. »Ich werde…«

Verna riss sie zurück. »Könnt Ihr mir verraten, wie ihr reiten und dabei gleichzeitig dieses Zeug ausstreuen wollt? Das ist zu viel. Außerdem kennt Ihr die Eigenschaften des Glases nicht.«

»Verna, ich werde auf keinen Fall zulassen, dass Ihr…«

»Hört auf, Euch wie ein halsstarriges Kind zu benehmen. Reiten wir los.«

Cara schnappte sich einen der Eimer. »Verna hat Recht, Mutter Konfessor. Ihr könnt Euch unmöglich auf dem Pferd festhalten, diesen Glasstaub freisetzen und gleichzeitig noch beide Eimer schleppen. Ihr beide nehmt den einen, und ich diesen hier.«

Mit einem schnellen Schritt stand die gertenschlanke Schwester Philippa neben Cara und nahm den Eimer auf. »Herrin Cara hat Recht, Prälatin. Ihr und die Mutter Konfessor könnt unmöglich beide Eimer nehmen. Ihr nehmt den einen, und Herrin Cara und ich werden den anderen übernehmen.«

Für einen Streit mit drei fest entschlossenen Frauen war keine Zeit. Niemand konnte Kahlan davon abbringen, was sie tun musste, und wahrscheinlich empfanden sie ganz genauso. Außerdem hatten sie nicht ganz Unrecht.

»Also gut«, sagte Kahlan, ihre Handschuhe überstreifend.

Sie schnürte den Pelzüberwurf, den sie über ihrem Umhang trug, fest um ihren Körper; sie wollte nicht, dass irgendetwas im Wind flatterte. Er verdeckte das Heft ihres Schwertes, allerdings rechnete sie nicht damit, dass sie es brauchen würde. Hinter ihrer Schulter ragte zudem das Heft von Richards Schwert in die Höhe, ihre allgegenwärtige Erinnerung an ihn – als ob es derer bedurft hätte.

Verna warf eine Hand voll des flockig trockenen Schnees in die Höhe, um zu sehen, woher der Wind kam. Seine Richtung war unverändert, er wehte leicht, aber gleichmäßig. Wenigstens das sprach zu ihren Gunsten.

»Ihr zwei reitet zuerst«, sagte Kahlan an Cara gewandt. »Verna und ich werden etwa fünf Minuten warten, damit der von Euch freigesetzte Glasstaub Zeit hat, zum Feind hinüberzuwehen, und wir nicht selbst hineingeraten. Anschließend folgen wir Euch quer durchs Tal; auf diese Weise stellen wir sicher, dass sich unser Staub mit Eurem überschneidet und keine Lücken bleiben. Wir müssen auf jeden Fall verhindern, dass sichere Passagen entstehen, durch die die Imperiale Ordnung vordringen könnte. Vernichtung und Panik müssen so gleichmäßig und weit verbreitet wie möglich sein.«

Schwester Philippa hatte mitbekommen, was Kahlan getan hatte und verschnürte ebenfalls ihren Umhang fest an Hals und Hüften. »Klingt vernünftig.«

»Eine solche Verdoppelung wäre auf jeden Fall wirkungsvoller«, bestätigte Verna.

»Ich schätze, wir haben keine Zeit mehr, gegen diese Torheit anzugehen«, murrte Zedd, packte Spinnes Mähne und zog sich hoch, bis er mit dem Bauch quer über dem Pferderücken lag. Er schwang ein Bein über Spinnes Hinterteil und richtete sich auf. »Lasst mir ein oder zwei Minuten Vorsprung, damit ich Warren Bescheid geben kann; anschließend werden wir der Imperialen Ordnung ein paar echte Zauberkunststücke zeigen.«

Er lenkte sein Pferd herum und feixte; es war ermutigend, ihn endlich wieder lächeln zu sehen.

»Ich kann nur hoffen, dass nach dieser ganzen Plackerei auf der anderen Seite des Passes dort oben jemand mit einem Abendessen auf mich wartet.«

»Und wenn ich es eigenhändig für dich zubereiten muss«, versprach Kahlan.

Der Zauberer winkte ihr noch einmal munter zu, dann verschwand er galoppierend in der Dunkelheit.

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