15

An den anderen Soldaten hatte sich Zeddicus Z’ul Zorander mit ein paar geschickten Worten und einem gewinnenden Lächeln einen Weg vorbei bahnen können, diese jedoch ließen sich von seiner Erklärung, er sei Richards Großvater, nicht beeindrucken. Vermutlich wäre es besser gewesen, das Feldlager bei Tageslicht zu betreten – er hätte sich eine Menge Argwohn erspart –, aber er war müde und hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwierig werden würde.

Die Soldaten waren regelrecht misstrauisch geworden, was ihn überaus erfreute, aber er war erschöpft und hatte Wichtigeres zu tun, als Fragen zu beantworten: er wollte selber welche stellen.

»Aus welchem Grund wollt Ihr ihn sprechen?«, wiederholte der Größere der beiden Posten.

»Wie ich bereits sagte, ich bin Richards Großvater.«

»Ihr meint wohl diesen Richard Cypher, der jetzt, wie Ihr behauptet…«

»Ja, ganz richtig, so lautete sein Name, als er noch klein war, und so habe ich ihn früher immer genannt, ich meinte aber Richard Rahl, den, der er jetzt ist. Ihr wisst schon, Lord Rahl, Euren Anführer. Ich könnte mir denken, als Großvater eines so bedeutenden Mannes wie Eures Lord Rahl habe ich einen gewissen Respekt verdient. Und möglicherweise sogar eine warme Mahlzeit.«

»Genauso gut könnte ich behaupten, ich sei Lord Rahls Bruder«, erwiderte der Mann, ohne seinen festen Griff an der Trense im Maul von Zedds Pferd zu lockern, »deswegen muss es aber noch lange nicht stimmen.«

Zedd seufzte. »Da habt Ihr allerdings Recht.«

So ärgerlich es war, insgeheim empfand Zedd eine gewisse Freude darüber, dass die Männer weder dumm waren noch sich leicht hinters Licht führen ließen.

»Aber ich bin obendrein ein Zauberer«, fügte Zedd hinzu und zog, des dramatischen Effektes wegen, seine Augenbrauen herunter. »Wenn ich nicht freundlich gesinnt wäre, könnte ich Euch beide einfach knusprig schmoren und wäre längst an Euch vorbei.«

»Und wenn ich nicht freundlich gesinnt wäre«, entgegnete der Soldat, »könnte ich – jetzt, da wir Euch so weit haben vordringen lassen, dass Ihr gänzlich umzingelt seid – das Zeichen geben und das Dutzend Bogenschützen, das sich ringsum in der Dunkelheit verbirgt, würde die Pfeile abfeuern, die in diesem Augenblick auf Euch gerichtet sind und es schon waren, seit Ihr Euch unserem Lager genähert habt.«

»Nun ja«, erwiderte Zedd, triumphierend einen Finger hebend, »das ist ja alles gut und schön, nur…«

»Und sollte ich in einem letzten Aufflackern meines Diensteifers für Lord Rahl sterben, würden diese Pfeile auch ohne mein Zeichen abgefeuert werden.«

Verlegen hüstelnd ließ Zedd den Finger sinken, innerlich aber schmunzelte er. Hier stand er, der Oberste Zauberer, und hätte er nicht ein befreundetes Feldlager betreten wollen, er wäre in diesem Spiel gegenseitiger Hänseleien von einem einfachen Soldat übertroffen worden.

Oder vielleicht auch nicht.

»Zum einen, Sergeant, bin ich, wie bereits erwähnt, ein Zauberer, daher weiß ich von den Bogenschützen und habe mich dieser Bedrohung bereits angenommen, indem ich ihre Pfeile verzaubert habe, so dass sie mit der gleichen mangelnden Zielgenauigkeit und mit ebenso geringer tödlicher Wirkung fliegen werden wie nasse Spültücher. Von ihnen habe ich nichts zu befürchten. Zweitens, selbst wenn ich lügen sollte – was Ihr genau in diesem Augenblick in Betracht zieht –, so ist Euch mit der Erwähnung der Bedrohung ein Fehler unterlaufen, denn als Zauberer von großem Ansehen versetzt mich das in die Lage, sie mit Hilfe meiner Magie auszuschalten.«

Allmählich zeigte sich ein Lächeln im Gesicht des Mannes. »Nun, das ist in der Tat bemerkenswert.« Er kratzte sich am Kopf und sah erst seinen Kameraden an, dann wieder Zedd. »Ihr habt Recht, genau das ging mir gerade durch den Kopf; dass Eure Behauptung, Ihr wüsstet von den Bogenschützen dort drüben in der Dunkelheit, gelogen sein könnte.«

»Seht Ihr, junger Mann? So gerissen seid Ihr auch wieder nicht.«

»Ganz recht, Sir, bin ich nicht. Da war ich doch so sehr damit beschäftigt, mit Euch zu reden und mich von Euren Zauberkräften einschüchtern zu lassen, dass ich glatt vergessen habe, zu erwähnen, was da in der Dunkelheit sonst noch ein Auge auf Euch hält…« – der Soldat senkte seine Brauen – »und das dürfte Euch größere Schwierigkeiten bereiten als nur Pfeile, möchte ich behaupten.«

Zedd sah den Mann stirnrunzelnd von oben herab an. »Also jetzt passt mal auf…«

»Warum tut Ihr nicht, was ich sage, und kommt hier herunter ins Licht, wo ich Euch besser sehen kann, und beantwortet ein paar von unseren Fragen?«

Zedd gab sich seufzend geschlagen, saß ab und gab Spinne einen beruhigenden Klaps auf den Hals. Spinne, eine kastanienbraune Stute, hatte eine vielbeinige Zeichnung auf ihrem cremefarbenen Hinterteil, der sie ihren Namen verdankte. Jung, kräftig und von angenehm feurigem Wesen, war sie eine angenehme Reisegefährtin; die beiden hatten bereits viel zusammen durchgemacht.

Zedd trat in den intimen Schein des Wachfeuers. Er drehte seine Hand nach oben und erzeugte unmittelbar über seiner Handfläche eine weiß glühende Flamme. Die beiden Soldaten bekamen große Augen. Zedd setzte eine mürrische Miene auf.

»Ich habe mein eigenes Feuer, wenn Ihr unbedingt mehr erkennen wollt. Hilft Euch das, die Dinge in einem klareren Licht zu sehen, Sergeant?«

»Äh … ja, gewiss doch, Sir, das tut es«, stammelte der Mann.

»Ja, das tut es in der Tat«, bestätigte eine Frau und trat ins Licht. »Warum habt Ihr nicht einfach Euer Han gebraucht und ihnen gleich von vornherein eine Kostprobe Eures Könnens gezeigt?« Sie winkte in die Dunkelheit, als gebe sie anderen ein Zeichen zurückzubleiben. Als sie sich wieder umdrehte, war ihr Lächeln nicht mehr als höflich. »Willkommen, Zauberer.«

Zedd verneigte sich von der Hüfte aufwärts. »Zeddicus Z’ul Zorander, Oberster Zauberer, zu Euren Diensten.«

»Schwester Philippa, Zauberer Zorander. Ich bin eine Gehilfin der Prälatin.«

Auf ein Zeichen von ihr nahm der Sergeant Zedd die Zügel aus der Hand und führte das Pferd fort. Zedd versetzte dem Mann einen Klaps auf den Rücken, um ihm zu zeigen, dass er ihm nichts verübelte, anschließend gab er Spinne einen ähnlichen Klaps, um ihr zu verstehen zu geben, dass es in Ordnung war, mit dem Soldaten zu gehen.

»Behandelt sie besonders gut, Sergeant. Spinne ist eine gute Freundin von mir.«

Der Sergeant salutierte mit einem saloppen Faustschlag auf sein Herz. »Dann wird sie auch wie eine gute Freundin behandelt werden, Sir.«

Nachdem die Soldaten Spinne weggeführt hatten, sagte Zedd: »Ihr meint natürlich Prälatin Verna.«

»Oh, ja, selbstverständlich. Prälatin Verna.«

Die Schwestern des Lichts wussten nicht, dass Ann noch lebte, zumindest hatte sie noch gelebt, als Zedd sie vor mehreren Monaten das letzte Mal gesehen hatte. Damals hatte Ann etwas in ihr Reisebuch geschrieben und Verna mitgeteilt, dass sie am Leben sei, hatte sie aber darüber hinaus gebeten, diese Information erst einmal für sich zu behalten. Zedd hatte gehofft, Ann sei inzwischen zusammen mit ihren Schwestern des Lichts im d’Haranischen Feldlager eingetroffen. Es betrübte ihn zu hören, dass dem nicht so war, denn das ließ Schlechtes für sie ahnen.

Zedd hatte keine besonders hohe Meinung von den Schwestern des Lichts – lebenslange Ablehnung ließ sich nicht einfach unter den Teppich kehren –, aber er hatte gelernt, Ann als eine Frau von Selbstdisziplin und Entschlossenheit zu respektieren, auch wenn er von einigen ihrer Überzeugungen und früheren Zielen nicht viel hielt. Er wusste jedoch, dass zumindest er und Ann eine Reihe von wichtigen Werten teilten. Was die übrigen Schwestern anbetraf, war er sich dessen jedoch nicht so sicher.

Schwester Philippa schien mittleren Alters zu sein, doch bei Schwestern musste das nicht viel bedeuten. Vielleicht hatte sie gerade mal ein Jahr im Palast der Propheten gelebt, vielleicht aber auch Jahrhunderte. Mit ihren dunklen Augen und den hohen Wangenknochen mutete sie exotisch an. Wie in den Midlands, so gab es auch in der Alten Welt Orte, an denen die Menschen unverwechselbare äußerliche Merkmale aufwiesen. Schwester Philippa bewegte sich, wie man dies des Öfteren bei hochmütigen Frauen beobachten konnte: wie ein Schwan in Menschengestalt.

»Womit kann ich Euch dienen, Zauberer Zorander?«

»Zedd genügt vollkommen. Ist Eure Prälatin wohl noch wach?«

»Ist sie. Wenn Ihr mir bitte hier entlang folgen wollt, Zedd.« Zedd folgte der Frau, als diese auf die dunklen Umrisse der Zelte zuschwebte. »Kann man hier vielleicht irgendwo etwas zu essen bekommen?«

Sie warf einen Blick über ihre Schulter. »Um diese Zeit noch?«

»Nun, ich habe eine anstrengende Reise hinter mir … und so spät ist es doch noch gar nicht, oder?«

Sie musterte ihn kurz im Dunkeln. »Die Lehren des Schöpfers haben mich in dem Glauben bestärkt, dass es nie zu spät ist. Übrigens wirkt Ihr tatsächlich ausgezehrt – von Euren Reisen, wie ich stark vermute.« Ihr Lächeln wurde ein wenig herzlicher. »Es steht immer etwas zu essen bereit; einige Soldaten sind die ganze Nacht im Dienst und müssen mit Essen versorgt werden. Ich denke, ich kann etwas für Euch auftreiben.« Sie richtete ihren Blick wieder auf den kaum erkennbaren Pfad.

»Ihr würdet mir damit eine große Gefälligkeit erweisen«, erwiderte Zedd mit aufgeräumter Stimme, während er ihrem Rücken finstere Blicke hinterher schleuderte. »Im Übrigen bin ich nicht ausgezehrt, sondern drahtig. Die meisten Frauen fühlen sich zu schlanken Männern hingezogen.«

»Ach, tatsächlich? Das wusste ich noch gar nicht.«

Schwestern des Lichts waren doch ein überheblicher Schlag, dachte Zedd wehmütig. Über Tausende von Jahren war es für sie einer Todesstrafe gleichgekommen, auch nur einen Fuß in die Neue Welt zu setzen. Zedd war stets ein wenig nachsichtiger gewesen – wenn auch nicht sehr. Früher hatten die Schwestern die Neue Welt ausschließlich aufgesucht, um Knaben mit der Gabe zu entführen – um sie zu retten, wie sie behaupteten. Dabei oblag die Ausbildung von Zauberern ausschließlich einem anderen Zauberer. In Zedds Augen war es ein überaus schweres Verbrechen, wenn sie einen Knaben hinter die große Barriere und in ihren Palast verschleppten.

Erst im letzten Winter waren sie aus ebendiesem Grund erschienen und hatten Richard mitgenommen. Schwester Verna hatte ihn gefangen genommen und in die Alte Welt verschleppt. Womöglich hätte er unter dem Bann ihres Palastes Jahrhunderte dort zubringen müssen. Und ausgerechnet mit den Schwestern des Lichts hatte Richard sich angefreundet.

Vermutlich waren er und die Schwestern quitt – sie hatten allen Grund, Zedd in einem schlechten Licht zu sehen, schließlich hatte er jenen Bann bewirkt, mit dessen Hilfe Richard ihren Palast zerstört hatte. Allerdings hatte Ann ihn dabei unterstützt, denn sie wusste, nur so war zu verhindern, dass Jagang den Palast eroberte und die darin enthaltenen Prophezeiungen für eigene Zwecke in seinen Besitz brachte.

Überall streiften Wachtposten, hoch gewachsene Wachtposten, durch das Feldlager, in ihren Kettenpanzern und Lederrüstungen boten sie einen beeindruckenden Anblick. Nichts entging ihnen, während sie fast unbemerkt durch die Dunkelheit schlichen. Gemessen an seiner Größe, war es im Lager verhältnismäßig still. Geräusche konnten einem Feind eine Vielzahl von Informationen verraten, es war dennoch nicht leicht, dafür zu sorgen, dass die Soldaten sich ruhig verhielten.

»Ich bin erleichtert, dass der erste Eindringling mit der Gabe sich als Freund herausgestellt hat«, meinte die Schwester.

»Und ich stelle zu meiner Freude fest, dass die mit der Gabe helfen, Wache zu halten, zumal es Methoden feindlichen Eindringens gibt, die von regulären Posten nicht identifiziert werden können.« Zedd fragte sich, ob man hier tatsächlich auf diese Art von Schwierigkeiten vorbereitet war.

»Wenn sie etwas mit Magie zu tun haben, werden wir zur Stelle sein, um sie aufzuspüren.«

»Vermutlich hattet Ihr schon die ganze Zeit ein Auge auf mich geworfen.«

»Ganz recht«, sagte Schwester Philippa. »Vom Augenblick an, als Ihr den Hügelzug dort hinten überquert habt.«

Zedd kratzte sich am Kinn. »Tatsächlich? So lange schon?«

Selbstgefällig schmunzelnd erwiderte sie: »So lange schon.«

Er spähte über seine Schulter hinaus in die Nacht. »Ihr beide also. Ausgezeichnet.«

Sie blieb stehen und wandte sich zu ihm herum. »Beide? Ihr wusstet, dass wir Euch zu zweit beobachtet haben?«

Zedd lächelte erstaunt. »Aber ja. Ihr habt mich nur beobachtet, sie dagegen ist mir in etwas größerer Entfernung gefolgt und hat dabei eine kleine Gemeinheit zusammengezaubert, falls ich mich als Feind herausstellen sollte.«

Schwester Philippa kniff erstaunt die Augen zusammen. »Bemerkenswert. Ihr konntet spüren, wie sie ihr Han berührt? Auf diese Entfernung?«

Zedd nickte voller Genugtuung. »Man hat mich nicht nur wegen meiner Drahtigkeit zum Obersten Zauberer ernannt.«

Endlich wirkte Schwester Philippas Lächeln aufrichtig. »Ich bin froh, dass Ihr als Freund gekommen seid und nicht in böser Absicht.«

Darin lag mehr Wahrheit, als die Frau wissen konnte. Zedd besaß Erfahrung in dem unangenehmen, schmutzigen Geschäft der Kriegführung mit Hilfe von Magie. Als er in die Nähe ihres Lagers kam, hatte er die Lücken in ihrer Verteidigung und die Schwachstellen in der Verwendung ihrer Magie zu diesem Zweck sofort bemerkt. Sie dachten nicht so, wie ihr Feind denken würde. Wäre er in böser Absicht gekommen, das gesamte Lager wäre jetzt in Aufruhr, ganz gleich, was sie unternommen hätten, um sich gegen jemanden wie ihn zu wappnen.

Schwester Philippa wandte sich wieder der Dunkelheit zu und führte ihn weiter. Für Zedd hatte es etwas Beklemmendes, durch ein d’Haranisches Feldlager zu spazieren – auch wenn er wusste, dass sie mittlerweile auf derselben Seite kämpften. Einen Großteil seines Lebens hatte er damit verbracht, die D’Haraner als seine Todfeinde zu behandeln; Richard hatte das alles verändert. Zedd seufzte. Manchmal, überlegte er, ist Richard glatt im Stande, sich mit Blitz und Donner anzufreunden und die beiden zum Abendessen einzuladen.

Ringsum schälten sich die Umrisse von Zelten und Karren aus der Dunkelheit. Langwaffen standen senkrecht in ordentlichen Reihen bereit, für den Fall, dass sie schnell benötigt wurden. Einige Soldaten lagen schnarchend in ihren Zelten, andere hockten, sich mit gedämpfter Stimme unterhaltend oder leise lachend im Dunkeln, während wieder andere in den tiefdunklen Schatten ihre Runde machten. Sie gingen so nah an Zedd vorüber, dass er ihren Atem riechen konnte, ihre Gesichter waren bei dieser Dunkelheit jedoch nicht zu erkennen.

Man hatte an jeder denkbaren Zugangsroute gut getarnte Posten aufgestellt. Im Lager gab es nur sehr wenige Feuer, und das waren größtenteils etwas abseits der Hauptstreitmacht gelegene Wachfeuer, so dass die Masse des Lagers ein dunkles, nachtschwarzes Loch bildete. Manche Armeen setzten einen beträchtlichen Teil der anfallenden Arbeiten über Nacht fort, führten Reparaturen durch, stellten Dinge her, die gebraucht wurden, und überließen es im Übrigen den Soldaten, sich nach eigenem Gutdünken zu beschäftigen. Die Männer hier verhielten sich die ganze Nacht über still, so dass aufmerksame Augen und lauschende Ohren, wenn überhaupt, für eine angreifende Streitmacht nur wenig Nützliches in Erfahrung bringen konnten. Dies waren gut ausgebildete, disziplinierte Berufssoldaten. Aus der Ferne war die Größe des Lagers schwer einzuschätzen, doch es musste gewaltig sein.

Schwester Philippa führte Zedd zu einem verhältnismäßig großen Zelt, einem, das groß genug war, um aufrecht darin zu stehen. Der Schein der drinnen hängenden Lampen ließ Wände und Dach aus Zeltleinwand in einem sanften, bernsteinfarbenen Licht erglühen. Sie tauchte unter einer Leine hindurch und steckte ihren Kopf zur Zeltöffnung hinein.

»Hier draußen wartet ein Zauberer, der die Prälatin zu sprechen wünscht.«

Von drinnen vernahm Zedd gedämpfte, erstaunte Worte der Bestätigung.

»Geht nur hinein.« Schwester Philippa versetzte ihm lächelnd einen sanften Stoß in den Rücken. »Ich werde sehen, ob ich für Euch etwas zum Abendessen auftreiben kann.«

»Dafür wäre ich Euch nicht nur dankbar, ich stünde geradezu tief in Eurer Schuld«, erwiderte Zedd.

Als er in das Zeltinnere trat, erhoben sich die Anwesenden bereits, um ihn zu begrüßen.

»Zedd! Du alter Narr! Du lebst!«

Zedd grinste, als Adie, die alte, in ihrer gemeinsamen Wahlheimat Westland als Knochenfrau bekannte Hexenmeisterin, sich in seine Arme warf. Er gab ein Grunzen von sich, als sie ihm für einen Augenblick den Atem aus den Lungen presste, dann strich er ihr über das gerade geschnittene, kinnlange schwarz-graue Haar und nahm ihren Kopf an seine Brust.

»Ich habe dir doch versprochen, du würdest mich Wiedersehen, oder etwa nicht?«

»Ja, das hast du.« Sie löste sich, hielt ihn bei den Armen und musterte ihn von Kopf bis Fuß. Dann langte sie nach oben und strich seine widerspenstigen, welligen weißen Haare glatt.

»Du siehst so bezaubernd aus wie immer«, meinte er zu ihr.

Sie musterte ihn aus ihren vollkommen weißen Augen. Man hatte ihr bereits als junger Frau das Augenlicht genommen, daher sah Adie jetzt mittels ihrer Gabe. In mancher Hinsicht sah sie besser als zuvor.

»Wo ist dein Hut?«

»Mein Hut?«

»Ich habe dir einen eleganten Hut gekauft, den du verloren hast. Wie ich sehe, hast du ihn noch immer nicht ersetzt. Du hast gesagt, du wolltest dir einen anderen besorgen. Ich meine sogar, du hättest es versprochen.«

Zedd konnte den Hut mit der langen Feder nicht ausstehen, den sie ihm gekauft hatte, als sie seine übrigen Kleidungsstücke erstanden hatten. Viel lieber trüge er das schlichte Gewand, das sich für einen Zauberer von seinem Rang und seiner Machtbefugnis ziemte, doch das hatte Adie ›verloren‹, nachdem er das ausgefallene, kastanienbraune Gewand mit den schwarzen Ärmeln und den kapuzenartigen Schultern gekauft hatte, das er gegenwärtig trug. Drei Reihen Silberbrokat umringten die Manschetten, noch üppigerer Goldbrokat zog sich um die Halspartie und lief an der Vorderseite herab. Ein roter, mit einer goldenen Schnalle abgesetzter Samtgürtel raffte den gesamten Aufzug an seiner schmalen Taille. Normalerweise wiesen derartige Kleider eine Person mit der Gabe als Neuling aus. Bei jemandem, der die Gabe nicht besaß, deuteten solche Kleider auf einen Adligen oder, in den meisten Gegenden, auf einen reichen Kaufmann hin, daher hatte sich diese protzige Aufmachung, obwohl sie Zedd missfiel, gelegentlich als nützliche Verkleidung erwiesen. Davon abgesehen mochte Adie ihn in dem kastanienbraunen Gewand. Der Hut jedoch war ihm zu viel, deshalb hatte er ihn ›dummerweise verlegt‹.

Ihm war nicht entgangen, dass es Adie gelungen war, ihre schlichten Kleider die ganze Zeit über anzubehalten. Gelbe und rote, in der Form uralter Symbole ihres Handwerks als Hexenmeisterin aufgenähte Perlen um die Halspartie ihres Gewandes waren ihr einziger Schmuck.

»Ich war sehr beschäftigt«, sagte er und machte eine wegwerfende Handbewegung, in der Hoffnung, die Angelegenheit sei damit erledigt, »sonst hätte ich den Hut längst ersetzt.«

»Pah«, spottete sie, »du hast nichts als Unfug im Sinn.«

»Nun ja, ich war…«

»Still jetzt«, sagte Adie. Seinen Arm mit fester Hand umklammernd, deutete sie mit den dürren Fingern ihrer anderen Hand auf die Frau neben sich. »Zedd, dies ist Verna, die Prälatin der Schwestern des Lichts.«

Dem Aussehen nach schien die Frau Ende dreißig, vielleicht Anfang vierzig zu sein; Zedd wusste, dass sie erheblich älter war. Ann, Vernas Vorgängerin, hatte ihm Vernas Alter verraten, und obwohl ihm die genaue Zahl entfallen war, wusste er, dass sie nahe bei einhundertsechzig Jahren lag – jung für eine Schwester des Lichts. Sie hatte natürliche, gewinnende Züge und braunes Haar mit gerade so vielen Locken und Fülle, dass es ihr einen Hauch von Weltklugheit verlieh. Der stechende Blick ihrer braunen Augen schien Flechten von Granit entfernen zu können. Die Falten ihres entschlossenen Gesichtsausdrucks, für immer in ihr Gesicht gegraben, deuteten auf eine Frau hin, deren äußere Schale eng saß wie die eines Käfers und ebenso undurchdringlich war.

Zedd verneigte seinen Kopf. »Prälatin, der Oberste Zauberer Zeddicus Z’ul Zorander, zu Euren Diensten.« Sein Tonfall verriet, dass es nur eine Floskel war.

Dies war die Frau, die Richard in die Alte Welt verschleppt hatte. Auch wenn sie geglaubt hatte, ihm damit das Leben zu retten, in seiner Funktion als Oberster Zauberer betrachtete Zedd eine solche Tat als verabscheuungswürdig. Die Schwestern – Hexenmeisterinnen allesamt – glaubten, einen jungen Mann mit der Gabe zum Zauberer ausbilden zu können. Das war ein Irrtum; in angemessener Form konnte eine solche Aufgabe nur von einem anderen Zauberer bewältigt werden.

Sie reichte ihm ihre Hand mit dem goldenen Sonnenbannerring ihres Amtes. Er beugte sich vor und küsste ihn, weil es, wie er vermutete, wohl so Brauch bei ihnen war. Als er fertig war, zog sie seine Hand heran und erwiderte seinen Kuss.

»Es erfüllt mich mit Demut, jenem Mann zu begegnen, der unseren Richard großgezogen hat. Bestimmt seid Ihr ein ebenso ungewöhnlicher Mensch, wie ich dies zu Beginn unserer Ausbildung bei ihm beobachten konnte.« Sie zwang sich zu einem amüsierten Lachen. »Zu unserem Leidwesen mussten wir feststellen, dass der Versuch, Euren Enkelsohn auszubilden, ein ungeheuer mühevolles Unterfangen war.«

Zedd korrigierte seine Meinung über die Frau ein wenig und begegnete ihr mit größerer Vorsicht. Die Luft im Zelt war stickig und drückend.

»Das liegt daran, dass Ihr alle Ochsen seid, die einem Pferd das Laufen beibringen wollen. Ihr Schwestern solltet Euch an Aufgaben halten, die eher Eurer Natur entsprechen.«

»Ja, sicher, du bist ein so brillanter Mann, Zedd«, spöttelte Adie. »Einfach brillant. Eines schönen Tages nehme ich dir das vielleicht sogar ab.« Ihn am Ärmel zupfend bewog sie ihn, sich von Vernas tiefrotem Gesicht abzuwenden. »Und das ist Warren«, sagte sie.

Zedd neigte seinen Kopf in Warrens Richtung, der Junge fiel jedoch bereits auf die Knie und neigte seinen blonden Schopf.

»Zauberer Zorander! Es ist mir eine große Ehre.« Er schnellte wieder hoch, ergriff Zedds Hand mit beiden Händen und schüttelte sie, bis Zedd glaubte, sein Arm werde an der Schulter ausgerenkt. »Ich bin überaus erfreut, Euch kennen zu lernen. Richard hat mir alles über Euch erzählt. Es ist mir eine große Freude, einem Zauberer von Eurem Rang und Können zu begegnen. Ich wäre glücklich, wenn ich von Euch lernen könnte!«

Je glücklicher er aussah, desto mehr verfinsterte sich Vernas Miene.

»Nun, freut mich auch, dich kennen zu lernen, Junge.« Zedd verschwieg Warren, dass Richard nie von ihm gesprochen hatte. Das war weder aus mangelndem Respekt noch aus Nachlässigkeit geschehen; Richard hatte einfach keine Gelegenheit gehabt, Zedd über zahlreiche wichtige Dinge zu unterrichten. Anhand von Warrens Griff glaubte Zedd zu spüren, dass der junge Mann ein Zauberer von ungewöhnlichen Fähigkeiten war.

Ein Bär von einem Mann mit krausem, rostfarbenem Bart und einer weißen Narbe von der linken Schläfe bis zum Kinn und buschigen Brauen, trat vor. Seine grau-grünen Augen hefteten sich mit grimmiger Eindringlichkeit auf Zedd, dabei grinste er wie ein Soldat auf einem langen Marsch, der soeben ein herrenloses Fass Bier erspäht.

»General Reibisch, Kommandant der d’Haranischen Streitkräfte hier im Süden«, stellte der Mann sich vor und ergriff Zedds Hand, nachdem Warren sie endlich freigegeben hatte und wieder an Vernas Seite getreten war. »Lord Rahls Großvater! Welch großes Glück, Euch hier zu sehen, Sir.« Sein Griff war fest, aber nicht schmerzhaft. Er wurde fester. »Welch überaus großes Glück!«

»Ja, gewiss«, murmelte Zedd. »So unglücklich die Umstände auch sind, General Reibisch.«

»Unglücklich?«

»Nun, macht Euch im Augenblick nichts daraus«, tat Zedd die Frage ab und stellte stattdessen eine andere. »Verratet mir nur eins, General, habt Ihr eigentlich schon damit begonnen, all die Massengräber auszuheben? Oder gedenkt Ihr etwa, ihr wenigen, die man verschonen wird, die Leichen einfach liegen zu lassen?«

»Leichen?«

»Nun ja … gewiss, die Leichen all Eurer Soldaten, die in Kürze sterben werden.«

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