Bruder Narev blieb hinter Richards Schulter stehen, ein Geist, gekommen, um ihn heimzusuchen. Er trieb sich häufiger ganz in der Nähe herum, um sich zu vergewissern, dass es mit den Bildhauerarbeiten seinen Anweisungen gemäß voranging. Dies war das erste Mal, dass der große Mann persönlich bei Richard Halt machte, um ihm bei der Arbeit zuzusehen.
»Kenne ich dich nicht?« Die Stimme erinnerte an das mahlende Geräusch von Stein auf Stein.
Richard ließ den Arm sinken, mit dem er den Hammer hielt, und sah auf. Mit seiner Linken, in der er noch immer den gespleißten Meißel hatte, wischte er sich den staubigen Schweiß von der Stirn.
»Aber ja, Bruder Narev. Damals habe ich beim Eisentransport gearbeitet. Eines Tages brachte ich dem Schmied eine Fuhre, und da hatte ich die Ehre, Eure Bekanntschaft zu machen.«
Bruder Narev runzelte misstrauisch die Stirn. Richard gestattete sich nicht den geringsten Riss in seiner Fassade unbekümmerter Gelassenheit.
»Erst einfacher Arbeiter und jetzt Bildhauer?«
»Ich besitze Fähigkeiten, die ich mit Freude in den Dienst meiner Mitmenschen stelle. Ich bin überaus dankbar, dass mir der Orden die Gelegenheit gibt, mir durch dieses Opfer meinen Lohn im Leben nach dem Tode zu verdienen.«
»Mit Freude.« Neal, der Schatten des Geistes, trat vor. »Es erfüllt dich mit Freude, als Bildhauer zu arbeiten, ja?«
»Ganz recht, Bruder Neal.«
Dass Kahlan lebte, erfüllte ihn mit Freude; alles andere kümmerte ihn nicht. Er war ein Gefangener, und was er tun musste, um Kahlans Leben zu erhalten, würde er tun, mehr nicht. Richards unterwürfige Haltung veranlasste Bruder Neal zu einem überlegenen Feixen. Der Mann erschien des Öfteren, um den Bildhauern Vorträge zu halten, und Richard hatte den Mann nur zu gut kennen gelernt. Da die Arbeit der Bildhauer das überaus einflussreiche Gesicht war, das der Palast den Menschen präsentieren würde, war sie für die Bruderschaft des Ordens von entscheidender Bedeutung. Richard war schon häufiger zum Ziel der leidenschaftlichen Ansprachen Neals geworden. Neal, ein Zauberer und kein Hexenmeister wie Bruder Narev, schien das stete Bedürfnis zu verspüren, in Richards Nähe seine moralische Autorität unter Beweis zu stellen. Richard bot ihm keinen Angriffspunkt, trotzdem fuhr Neal unbeirrt damit fort, mit allen Mitteln danach zu suchen.
Bruder Narev war bis zur Verbohrtheit von seinen Worten überzeugt: die Menschheit war schlecht; nur wer seinen Mitmenschen selbstlos Opfer brachte, konnte je auf Erlösung nach dem Tode hoffen. Dieser Glaube hatte nichts Freudiges, sondern unbarmherzige Pflichterfüllung zum Inhalt.
Neal dagegen schäumte geradezu über vor Empfindsamkeit. Er glaubte mit einem Gefühl leidenschaftlichen, glühenden, fast schon arroganten Stolzes an die Lehren des Ordens und war von der freudigen Überzeugung erfüllt, die Welt bedürfe einer eisenharten Führung, zu der nur Intellektuelle seines Schlages fähig waren – selbstverständlich in widerwilliger Hochachtung vor Bruder Narev.
Mehr als einmal hatte Richard mitgehört, wie Neal im Brustton der Überzeugung verkündete, wenn er Befehl geben müsste, einer Million Unschuldiger die Zunge herauszuschneiden, so sei dies allemal besser, als einem Einzigen zu erlauben, wider die selbstverständliche Redlichkeit der Methoden des Ordens zu lästern.
Bruder Neal, ein junger Mann mit jugendlich unverbrauchtem Gesicht – was aber in Anbetracht von Niccis Bemerkung, er habe früher im Palast der Propheten gelebt, zweifellos eine Täuschung war – begleitete Bruder Narev oft und sonnte sich in der Gunst seines Mentors. Neal war Bruder Narevs Erster Stellvertreter. Sein Gesicht mochte jugendlich und unverbraucht sein, seine Gedanken waren es nicht. Tyrannei gab es schon seit Menschengedenken, auch wenn Neal der Selbsttäuschung erlegen war, darin, vorausgesetzt, er und seine Kumpane bedienten sich ihrer, die strahlend neue Errettung der Menschheit zu sehen. Seine Vorstellungen waren wie eine Geliebte, der er sich mit grenzenloser, blinder Leidenschaft in die Arme warf – eine Wahrheit, die sich einzig der Lust des Liebenden offenbarte.
Nichts erregte schneller seinen Zorn als der leiseste Anflug von Diskussion und Widerspruch, ganz gleich wie wohl begründet. In der Hitze seiner Leidenschaft war Neal absolut bereit, jeden Widerspruch im Keim zu ersticken, jeden Widerstand auszumerzen und jede beliebige Zahl von Menschen umzubringen, die es versäumten, das Haupt vor dem Podest zu neigen, auf das er seine unwiderlegbaren, großmütigen Ideale gehoben hatte.
Kein Elend, kein Versagen, kein noch so großes Ausmaß an Wehklagen, Seelenpein und Tod vermochte seine glühende Überzeugung abzuschwächen, die Methoden des Ordens seien für die Menschheit der einzig richtige Weg.
Die übrigen Jünger, die wie Neal sämtlich braune Kapuzengewänder trugen, waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus grausamen, aufgeblasenen Idealisten, bis zur Verbitterung Habgierigen, Rachsüchtigen, Neidischen, Gehässigen, Ängstlichen und vor allem aus gefährlich Verblendeten. Ihnen allen war ein ätzender, tief empfundener Ekel vor der Menschheit eigen, der in der Überzeugung gipfelte, dass alles für die Menschen Erfreuliche ausschließlich böse und demzufolge nur die Selbstaufopferung gut sein konnte.
Sie alle waren, mit Ausnahme Neals, blinde Gefolgsleute, die völlig unter dem Bann Bruder Narevs standen. Überzeugt, dass Bruder Narev dem Schöpfer näher stand als den Menschen, klammerten sie sich an jedes seiner Worte in dem festen Glauben, es sei göttlicher Eingebung entsprungen. Würde er von ihnen verlangen, sie müssten sich alle für ihre Sache selbst entleiben, sie würden sich, da war Richard sicher, ein Bein ausreißen, um das nächstbeste Messer in die Finger zu bekommen.
Neal bildete insofern eine Ausnahme, als er nicht nur die Worte Bruder Narevs, sondern auch seine eigenen für gottgegeben hielt. Jeder Führer brauchte einen Nachfolger. Richard war ziemlich sicher, dass Neal bereits entschieden hatte, wer als nächste Wiedergeburt des Ordens am besten geeignet war.
»Eine eigentümliche Wortwahl, ›mit Freude‹.« Bruder Narev deutete mit einer kreisenden Bewegung seines knotigen Fingers auf die geduckten, missgestalteten und verängstigten Figuren, an denen Richard gerade arbeitete. »Dies erfüllt dich mit … Freude?«
Richard deutete auf den Lichtstrahl, den er soeben gemeißelt hatte, damit er auf die bedauernswerten Gestalten herniederscheine. »Das, Bruder Narev, ist es, was mich mit Freude erfüllt – dass ich im Stande bin, zu zeigen, wie die Menschen vor der Vollkommenheit des Lichtes des Schöpfers niederkauern. Es erfüllt mich mit Freude, allen die Sündhaftigkeit der Menschen vor Augen zu führen, denn nur so werden sie erkennen, dass ihre allererste Pflicht dem Orden gilt.«
Bruder Narev entfuhr tief in seiner Kehle ein Laut des Misstrauens. Das Sonnenlicht ließ die Schattenringe um seine Augen noch düsterer als sonst erscheinen, und selbst die Falten rings um seinen Mund wirkten tiefer, als er Richard mit einem Blick musterte, in dem sich, durchsetzt von einem Hauch Besorgnis, Argwohn und Angewidertsein die Waage hielten. Nur die Besorgnis unterschied ihn von dem Blick, mit dem er alle anderen bedachte. Richard zeigte ihm ein völlig ausdrucksloses, unverfängliches Gesicht. Schließlich verzog sich Bruder Narevs Mund, als er seine stillen Überlegungen abtat.
»Da gebe ich dir Recht … deinen Namen habe ich vergessen. Aber Namen sind unwichtig, Menschen sind unwichtig. Für sich betrachtet, ist jeder Mensch nichts weiter als ein bedeutungsloses Rädchen im großen Gefüge der Menschheit. Wichtig ist, wie gut dieses Gefüge ineinander greift, nicht die einzelnen Räder.«
»Richard Cypher.«
Eine verfilzte Braue aus schwarzen und weißen Haaren wurde hochgezogen.
»Richtig … Richard Cypher. Nun, deine Bildhauerei findet meine Zustimmung, Richard Cypher. Du scheinst eine klarere Vorstellung als die meisten anderen davon zu haben, wie der Mensch korrekt dargestellt werden muss.«
Richard verneigte sich. »Dies ist nicht das Werk meiner Hand, sondern das des Schöpfers, der sie führt, auf dass sie dazu beiträgt, dass der Orden den Weg weisen kann.«
Der argwöhnische Blick kehrte zurück, doch schließlich bewog Richards Gesichtsausdruck Bruder Narev, ihm seine Worte abzunehmen. Bruder Narev, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, entfernte sich mit leisen Schritten, um anderen Dingen nachzugehen. Einem Kind gleich, das sich an die Rockschöße seiner Mutter klammert, beeilte sich Neal, in der Nähe von Bruder Narevs Gewand zu bleiben. Er warf einen finsteren Blick über seine Schulter. Fast erwartete Richard, dass er ihm die Zunge rausstreckte.
Nach Richards Schätzung gab es etwa fünfzig dieser braun gewandeten Jünger. Er lief ihnen oft genug über den Weg, um ihre Eigenarten mittlerweile zu kennen. Victor hatte Richard gegenüber erwähnt, eine der Gießereien habe nach der vom Schmied angefertigten Musterform nahezu die gleiche Anzahl von Bannformen in Gold gegossen. Victor hielt sie lediglich für Zierrat. Richard hatte beobachtet, wie mehrere dieser goldenen Bannformen auf gewaltigen verzierten Steinsäulen montiert wurden, die über das gesamte Gelände des Ruhesitzes verteilt standen. Man hatte die Säulen aus poliertem Marmor so entworfen und platziert, als ob sie den prachtvollen Zierrat eines großartigen Gebäudes darstellen sollten. Richard vermutete jedoch, dass sie mehr als das waren.
Richard ging wieder daran, ein unförmiges, starres Glied herauszumeißeln. Wenigstens konnte er jetzt seine eigenen Glieder wieder benutzen. Es hatte eine Weile gedauert, aber jetzt war er genesen; allerdings schien ihm das eine kaum geringere Tortur zu sein.
Jeden Tag versammelten sich Menschen, um die flachen Steinreliefs zu begutachten, die bereits auf dem oberen Mauerfries zu sehen waren. Manche knieten vor den Bilderszenen auf den gepflasterten Gehwegen nieder und beteten, bis ihre Knie blutig waren. Andere brachten Lumpen mit, die sie sich beim Beten unter die Knie legten. Viele starrten einfach mit verlorenen Blicken auf die in Stein gehauene Natur des Menschen.
Richard konnte vielen Besuchern im Gesicht ansehen, dass sie mit einem vagen, nicht näher zu beschreibenden Gefühl der Hoffnung hergekommen waren und es sie nach einer absoluten Antwort auf eine Frage dürstete, die sie nicht zu formulieren vermochten. Ihre leeren Blicke, wenn sie wieder gingen, waren herzzerreißend. Es waren Menschen, denen man ebenso alle Lebendigkeit genommen hatte wie denen, die in den Verliesen des Ordens verbluteten.
Einige dieser Menschen scharten sich um die Bildhauer, um ihnen bei der Arbeit zuzuschauen. In den zwei Monaten, die Richard jetzt als Bildhauer auf dem Ruhesitz arbeitete, hatte er nach und nach die Feinheiten seines Handwerks zu unterscheiden gelernt. Was er in den Stein meißelte, war entmutigend, doch der Vorgang des Bildhauerns selbst glich dies teilweise wieder aus. Richard schwelgte in den technischen Aspekten des von einer bestimmten Absicht gelenkten Bearbeitens von Stein mit Stahl.
So sehr er die Dinge verabscheute, die er bildhauern musste, das Bearbeiten von Stein mit einem Meißel hatte er lieb gewonnen. Fast war es, als ob der Marmor unter seinen Händen zum Leben erwachte. Oft arbeitete er ein winziges Detail mit einer dem Thema angemessenen Ehrfurcht heraus – einen elegant erhobenen Finger, ein Auge mit wissendem Blick, eine Brust, hinter der sich ein rechtschaffenes Herz verbarg.
War diese Anmut erreicht, machte er sie wieder zunichte, um den Anforderungen des Ordens gerecht zu werden. Meistens waren es diese Momente, in denen die Menschen in Tränen ausbrachen.
Richard ersann unfassbar steife, gestelzte und missgestaltete Figuren, die unter der Schwere ihrer Schuld und Schande erdrückt zu werden schienen. Wenn dies seine Möglichkeit war, Kahlan am Leben zu erhalten, dann würde er jeden, der diese Werke erblickte, dazu bringen, dass er sich die Augen ausweinte. In gewisser Weise weinten sie stellvertretend für ihn, litten sie für ihn beim Anblick dieser Machwerke und wurden durch das, was sie sahen, an seiner Stelle vernichtet.
So wurde es ihm möglich, diese Tortur zu ertragen.
Wenn die Schatten mit der Abenddämmerung länger wurden und der Tag zur Neige ging, begannen die Bildhauer, ihre Werkzeuge in kleinen Holzkisten zu verstauen, bevor sie sich für den Abend auf den Heimweg machten. Sie alle würden bereits kurz nach Tagesanbruch wiederkommen. Der Baumeister gab ihnen die Anweisungen, welche Flächen und Formen mit Reliefs verziert werden sollten, damit sie die Steine auf die richtige Größe schlagen konnten. Bruder Narevs Jünger schauten vorbei, um ihnen die Einzelheiten der Geschichten mitzuteilen, die in Stein gehauen erzählt werden sollten.
Der Stein, den Richard derzeit bearbeitete, war für den prächtigen Haupteingang des Ruhesitzes bestimmt. In weitem Schwung zu einem Halbkreis angeordnete Marmorstufen führten hinauf auf den riesigen, runden Zentralplatz. Ein halbkreisförmiger Säulengang umgab als Widerspiegelung der Treppe den rückwärtigen Teil des Platzes. Richards Aufgabe bestand darin, jenes weite Halbrund aus Bilderszenen zu erschaffen, das oberhalb dieses Säulenganges angebracht werden sollte.
Es sollte ein Eingangsbereich entstehen, der den Ton für den gesamten Palast vorgab. In der Platzmitte sollte sich, so hatte Bruder Neal Richard mitgeteilt, Bruder Narevs Vision gemäß ebenjene Statue erheben, die den Palasteingang beherrschte; es sollte dies ein Kunstwerk sein, das jeden Betrachter mit dem überwältigenden Gefühl seiner eigenen Schuld und Schande angesichts der boshaften Natur des Menschen geradezu erschlug. Die Statue stellte in ihrer vollendeten Grausamkeit einen Appell zur Selbstaufopferung dar und sollte in Gestalt einer Sonnenuhr errichtet werden; sie sollte Menschen zeigen, die sich unter dem Licht des Schöpfers duckten.
Neal hatte sie ihm mit einer derartigen Begeisterung geschildert, dass Richard bereits von der Vorstellung schlecht geworden war.
Richard verließ die Baustelle als Letzter. Wie so oft begab er sich entlang der gewundenen Straße den Hügel hinauf zu den Werkstätten. Victor befand sich in seiner Werkstatt, wo er die Kohle für die Nacht aufschüttete. Da der Herbst nahte, waren die Tage nicht mehr unerträglich heiß, und auch die Schmiede war nicht mehr jener unerquickliche Ort wie noch im Hochsommer. So weit südlich in der Alten Welt gab es keine harten Winter; stattdessen wurde die Schmiede im Winter zum geeigneten Ort, um sich die Kälte, die sich gelegentlich an kühlen Regentagen einstellte, auszutreiben.
»Richard! Wie schön, dich zu sehen!« Der Schmied wusste, warum Richard gekommen war. »Geh schon nach hinten durch. Ich setze mich gleich ein wenig zu dir, sobald ich hier fertig bin.«
Richard bedachte seinen Freund mit einem Lächeln und sagte: »Das wäre mir sehr recht.«
Richard öffnete die Doppeltür im rückwärtigen Teil und ließ die letzten Sonnenstrahlen in den Raum, in dem der Marmorquader stand. Er kam oft hierher, um sich den Monolithen anzusehen. Manchmal, wenn er den ganzen Tag nichts als Hässlichkeit in Stein gehauen hatte, musste er einfach herkommen, den Stein anschauen und sich dabei ausmalen, welche Schönheit sich in seinem Innern verbarg. Manchmal schien es, als erhalte ihn allein dieser Ausgleich aufrecht.
Richard streckte seine vom Behauen des Steins staubigen Finger vor, um den weißen Cavaturamarmor zu berühren. Er unterschied sich geringfügig von dem Gestein, das er unten auf der Baustelle bearbeitete. Mittlerweile besaß er genug Erfahrung, um die feinen Unterschiede zu erkennen. Das Gefüge in Victors Stein war feiner, härter; er würde Einzelheiten besser aufnehmen und wiedergeben.
Unter Richards Fingern fühlte sich der Stein kühl wie das Mondlicht an, und ebenso rein und unbefleckt.
Als er den Blick hob, stand Victor ganz in der Nähe und betrachtete versonnen lächelnd sowohl ihn als auch den Stein.
»Wenn man so viel Hässlichkeit geschaffen hat, tut es vermutlich gut, die Schönheit meiner Statue zu bewundern.«
Als Antwort lachte Richard nur amüsiert.
Victor schritt gestikulierend quer durch den Raum.
»Komm, setz dich zu mir und iss eine Scheibe Lardo.«
Sie saßen, große Scheiben der Köstlichkeit verspeisend, im schwindenden Licht auf der Schwelle und genossen die kühle Brise, die den Hang heraufwehte.
»Weißt du, eigentlich brauchst du doch gar nicht herzukommen, um dir meine wunderschöne Statue anzusehen«, meinte Victor. »Du hast doch eine wunderschöne Frau, die du bewundern kannst.«
Richard erwiderte nichts.
»Ich kann mich nicht erinnern, dass du deine Frau jemals erwähnt hättest. Ich wusste überhaupt nichts von ihr, bis sie mich an jenem Tag aufsuchte. Aus irgendeinem Grund war ich immer überzeugt, du hättest eine gute Frau…«
Victor schaute stirnrunzelnd hinüber zu dem unfertigen Gemäuer des Ruhesitzes in der Ferne. »Warum hast du nie von ihr erzählt?«
Richard zuckte mit den Achseln.
»Ich hoffe, du hältst mich nicht für einen schrecklichen Menschen, Richard, aber sie passt einfach nicht zu dem Bild der Frau an deiner Seite, wie ich es mir vorgestellt habe.«
»Ich halte dich nicht für einen schrecklichen Menschen, Victor. Jeder sollte das Recht haben, sich seine eigenen Gedanken zu machen.«
»Hättest du was dagegen, wenn ich dir ein paar Fragen über sie stelle?«
Richard seufzte. »Ich bin müde, Victor. Ich würde mich wirklich lieber nicht über meine Frau unterhalten. Außerdem gibt es da nichts zu erzählen. Sie ist meine Frau. Es ist so, wie es ist.«
Brummend kaute Victor einen großen Bissen seiner roten Zwiebel. Als er ihn hinuntergeschluckt hatte, gestikulierte er mit der noch übrig gebliebenen Hälfte. »Es tut einem Mann nicht gut, wenn er tagsüber diese Dinge meißelt und abends nach Hause gehen muss zu einer – Was rede ich da! Was ist nur über mich gekommen? Verzeih mir, Richard. Nicci ist eine wunderschöne Frau.«
»Ja, vermutlich.«
»Und sie sorgt sich um dich.«
Richard erwiderte nichts.
»Ishaq und ich haben versucht, dich mit deinem Gold aus diesem Verlies freizukaufen. Es hat nicht gereicht. Der Mann war ein aufgeblasener Beamter. Nicci wusste genau, wie sie ihn ködern konnte; sie hat es verstanden, den Schlüssel zu deiner Gefängnistür mit Worten herumzudrehen. Wäre Nicci nicht gewesen, wärst du im Himmel begraben worden.«
»Deswegen hat sie ihnen also erzählt, ich könnte bildhauern – um mir das Leben zu retten.«
»So ist es. Sie war es, die dir die Stelle als Bildhauer verschafft hat.«
Victor wartete, ob noch etwas folgte, und seufzte schließlich resigniert, als nichts mehr kam.
»Wie sind die Meißel, die ich euch geliefert habe?«
»Gut. Es lässt sich ausgezeichnet mit ihnen arbeiten. Allerdings könnte ich einen gespleißten Meißel mit kleineren Zinken gebrauchen.«
Victor reichte Richard noch eine dünne Scheibe Lardo. »Den sollst du bekommen.«
»Was ist mit dem Stahl?«
Victor gestikulierte mit seiner Zwiebel. »Mach dir deswegen keine Sorgen; Ishaq macht sich ganz ordentlich in deiner Rolle. Nicht so gut wie du, aber er kommt ganz gut zurecht. Was ich brauche, beschafft er mir. Ishaq ist überall beliebt; die Leute sind froh, dass er sich dazu durchgerungen hat, für dich einzuspringen. Der Orden achtet dermaßen auf einen reibungslosen und schnellen Ablauf der Bauarbeiten, dass sie bei seiner Arbeit ein Auge zudrücken. Faval, der Köhler, hat nach dir gefragt. Er mag Ishaq, aber trotzdem vermisst er dich.«
Richard lächelte, als er an den nervösen Burschen denken musste. »Ich bin froh, dass Ishaq ihm seine Holzkohle abkauft.«
Es gab eine Menge rechtschaffener, freundlicher Menschen in der Alten Welt. Richard hatte in ihnen immer nur den Feind gesehen, und jetzt war er mit einer ganzen Reihe von ihnen befreundet. So war es ihm schon oft ergangen, und stets auf die gleiche Weise; wenn man sie erst einmal näher kennen gelernt hatte, ähnelten sich die Menschen im Großen und Ganzen überall.
Es gab solche, die die Freiheit liebten und sich lautstark dafür einsetzten, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, sich anzustrengen, voranzukommen und etwas zu erreichen, und dann gab es andere, die ganz versessen darauf schienen, sich der geistlosen Gleichmacherei des Stillstands hinzugeben, die man erzwang, indem man eine aufgesetzte, willkürliche und graue Uniformität durchsetzte – die einen wollten aus eigener Kraft aus der Menge herausragen, die anderen wollten, dass man ihnen das Denken abnahm, und dafür waren sie bereit, den höchsten Preis zu zahlen.
Kamil und Nabbi empfingen Richard mit grinsendem Gesicht, als er die Treppe heraufkam.
»Nabbi und ich haben an unserer Schnitzerei gearbeitet, Richard. Kommst du und siehst sie dir an?«
Lächelnd legte Richard Kamil einen Arm um die Schultern.
»Selbstverständlich. Dann lasst mal sehen, was ihr heute gemacht habt.«
Richard folgte ihnen durch den sauberen Hausflur nach draußen hinters Haus, wo Kamil und Nabbi Gesichter in einen alten Holzklotz geschnitzt hatten. Die Schnitzereien waren grauenhaft.
»Na ja, Kamil, das sieht schon ganz ordentlich aus. Deine auch, Nabbi.«
Die Gesichter in den Schnitzereien lächelten; und das allein war für Richard von unschätzbarem Wert. So unvollkommen sie auch ausgeführt waren, sie wirkten lebendiger als alles, was Richard tagein, tagaus Meisterbildhauer in kostbaren Marmor meißeln sah.
»Wirklich, Richard?«, wollte Nabbi wissen. »Glaubst du, Kamil und ich könnten Bildhauer werden?«
»Eines Tages vielleicht. Ihr braucht mehr Übung und müsst noch sehr viel lernen – aber alle Bildhauer brauchen praktische Erfahrung, wenn sie es zur Meisterschaft bringen wollen. Hier, seht euch diese hier an, zum Beispiel. Was fällt euch dazu ein? Was stimmt damit nicht?«
Die Arme verschränkt und die Stirn in Falten gezogen, betrachtete Kamil konzentriert das Gesicht, das er geschnitzt hatte. »Ich weiß nicht.«
»Nabbi?«
Nabbi zog verlegen die Schultern hoch. »Es sieht nicht wie ein richtiges Gesicht aus. Aber warum, kann ich nicht sagen.«
»Seht euch mein Gesicht an, meine Augen. Was ist dort anders?«
»Na ja, ich glaube, deine Augen haben eine etwas andere Form«, antwortete Kamil.
»Und sie stehen enger beieinander – nicht so sehr seitlich am Kopf«, fügte Nabbi hinzu.
»Sehr gut.« Richard glättete ein Stück des Bodens, dort, wo man die Karotten geerntet hatte, und formte das feuchte Erdreich dann zu einem kleinen Haufen. »Seht ihr, hier. Wenn man die Augen näher beieinander setzt, so, dann sieht es eher aus wie ein wirkliches Gesicht.«
Nickend betrachteten die beiden jungen Burschen sein Werk.
»Verstehe«, meinte Kamil. »Ich fange gleich ein neues an; und diesmal werde ich es besser machen.«
Richard gab ihm einen Klaps auf den Rücken. »So ist es recht.«
»Vielleicht können wir eines Tages auch Bildhauer werden«, fing Nabbi noch einmal an.
»Vielleicht«, war alles, was Richard darauf erwiderte.
Nicci hatte das Abendessen fertig; auf dem Tisch wartete es bereits auf ihn. Unmittelbar neben der brennenden Lampe stand eine Schale mit Suppe, der Rest des Zimmers versank in abendlicher Dunkelheit. Nicci saß am Tisch und wartete ebenfalls.
»Wie war das Bildhauern heute?«, erkundigte sie sich, als Richard an die Waschschüssel trat, um sich den Schmutz von den Händen zu waschen.
Er spritzte sich das Seifenwasser ins Gesicht und spülte den Gesteinsstaub herunter.
»Bildhauern ist Bildhauern.«
Nicci fuhr mit dem Daumen über den Lampenfuß.
»Wirst du es durchstehen?«
Richard wischte sich die Hände ab. »Was bleibt mir anderes übrig? Entweder ich stehe es durch, oder ich kann mit allem Schluss machen. Was für eine Wahl ist das? Oder möchtest du wissen, ob ich schon so weit bin, mich selbst umzubringen?«
Sie hob den Blick. »Das habe ich nicht gemeint.«
Er warf das Handtuch neben die Waschschüssel. »Außerdem, wie könnte ich für eine Stelle, die du mir besorgt hast, nicht dankbar sein?«
Niccis blaue Augen senkten sich wieder auf den Tisch. »Victor hat es dir erzählt?«
»Es war nicht übermäßig schwer, dahinter zu kommen. Victor meinte bloß, du seist wunderschön und hättest mir das Leben gerettet.«
»Ich hatte keine andere Wahl, Richard. Sie wollten dich nur freilassen, sofern du über eine Fertigkeit verfügst. Ich musste es ihnen sagen.«
Mehr als an den meisten anderen Tagen spürte er, worum es bei ihrer Verbindung, dem Spiel, das sie beide spielten, wirklich ging. Sie fühlte sich hinter ihrem Schutzschild des ›Ich musste es ihnen sagen‹ sicher. Und doch erlaubte es ihr, ihn zu beobachten und zu sehen, wie er reagierte.
Die Mühen des Tages, das Herumschleppen der schweren Steinquader und das ständige Heben des Hammers hatten an seinen Kräften gezehrt. Ihm kribbelten die Hände von den Nachwirkungen der klirrenden Schläge. Und jetzt hatte er auch noch einen Streit mit Nicci vom Zaun gebrochen. Als die Erschöpfung ihn übermannte, ließ er sich auf sein Strohlager fallen.
Ermattung war eine Begleiterscheinung jedes Kampfes. So deutlich er sie spürte, wann immer er eine Klinge in Händen hielt, so spürte er sie auch jetzt, in diesem Tanz um Leben und Tod. Dieser war nicht weniger ein Kampf als all die anderen, die Richard ausgefochten hatte. Nicci stand gegen die Freiheit und das Leben selbst. Dies war ein Tanz mit dem Tod. »Eins würde mich interessieren, Nicci.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Und das wäre?«
»Kannst du mir sagen, ob Kahlan noch lebt?«
»Selbstverständlich. Ich spüre ständig die Verbindung mit ihr.«
Nicci lächelte auf die beschwichtigende Weise, die ihr eigen war. »Kahlan geht es ausgezeichnet, Richard. Das braucht dich nicht zu belasten.«
Richard schaute Nicci eine Weile unverwandt an. Schließlich löste er seinen Blick von ihr und ließ sich auf seine Gefängnispritsche nieder. Er wälzte sich herum und kehrte Nicci und dem Tanz mit dem Tod den Rücken zu.
»Richard … ich habe Suppe gekocht. Komm und iss.«
»Ich habe keinen Hunger.«
Er verbannte sie aus seinen Gedanken, und noch während er versuchte, sich Kahlans grüne Augen in Erinnerung zu rufen, übermannte ihn die Müdigkeit.