59

Eine Ewigkeit saß Nicci, ihre Hand auf dem Messer, so am Tisch und betrachtete seinen Rücken. Seine Brust wölbte sich langsam mit seinem Atem, sank wieder in sich zusammen. Es gab Zeit genug, ihm das Messer in den Rücken zu stoßen – zwischen seine Rippen – und sein Herz zu durchbohren.

Bis zum Morgengrauen war noch reichlich Zeit.

Der Tod hatte etwas so Endgültiges. Sie wollte ihn noch eine Weile betrachten. Nicci wurde niemals müde, Richard anzusehen.

Wenn sie es erst getan hatte, würde sie ihn niemals mehr so anschauen können. Er wäre fort, für immer. Jetzt, angesichts des Schadens, den die Chimären den Welten und der Verbindung zwischen ihnen zugefügt hatten, war sie nicht einmal mehr sicher, ob die Seele eines Menschen noch in das Reich der Seelen würde eintreten können. Sie wusste nicht einmal mehr, ob die Unterwelt überhaupt noch existierte, und ob Richards Seele dorthin wandern oder ob er für immer … verloren sein würde – ob er und das, was sein innerstes Wesen ausmachte, einfach zu existieren aufhören würden.

In ihrer Benommenheit war ihr jegliches Zeitgefühl abhanden gekommen.

Als ihr Blick zufällig aus dem Fenster fiel, das Richard von seinem selbst verdienten Geld hatte einbauen lassen, bemerkte sie, dass der Himmel die Farbe eines eine Woche alten Blutergusses angenommen hatte.

Wegen ihrer Verbindung mit Kahlan konnte sie die Tat nicht mit Hilfe ihrer Magie ausführen. So sehr ihr die Vorstellung zuwider war, und obwohl sie genau wusste, wie schauderhaft es werden würde, sie war gezwungen, die scharfe Klinge zu benutzen.

Nicci schloss ihre Finger um den Holzgriff des stabilen Messers. Schnell sollte es gehen; den Gedanken, dass er leiden könnte, fand sie unerträglich. Er hatte genug gelitten in seinem Leben, sie wollte ihm nicht auch noch einen qualvollen Tod bereiten.

Ein kurzer Todeskampf, dann würde es vorbei sein.

Unvermittelt wälzte Richard sich auf den Rücken und richtete sich anschließend auf. Nicci, noch immer auf ihrem Stuhl sitzend, erstarrte. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen. Würde sie es fertig bringen, ihn zu töten, wenn er wach war? Würde sie ihm in diese Augen sehen können, wenn sie ihm das Messer in die Brust stieß?

Ihr würde gar nichts anderes übrig bleiben.

Es wäre nur zum Besten so.

Richard gähnte und räkelte sich, sprang aus dem Bett.

»Nicci, was tust du da? Bist du gar nicht schlafen gegangen?«

»Ich … ich glaube, ich bin auf dem Stuhl eingenickt.«

Er nahm ihr das Messer aus der Hand. »Was dagegen, wenn ich es mir kurz ausleihe? Ich muss dringend etwas damit machen. Ich fürchte, ich werde es nachher für dich schleifen müssen, doch bevor ich gehe, werde ich wohl keine Zeit mehr dafür haben. Könntest du mir etwas zu essen machen, ich bin ziemlich in Eile. Ich muss vor der Arbeit noch bei Victor vorbei.«

Nicci war wie vom Donner gerührt. Er war schlagartig zu neuem Leben erwacht; im Licht der durch die Fenster hereinfallenden Morgendämmerung konnte sie sehen, dass er wieder diesen Blick in seinen Augen hatte. Er wirkte … entschlossen, unbeirrbar.

»Ja, in Ordnung«, antwortete sie.

»Danke«, rief er über die Schulter, bereits auf dem Weg zur Tür.

»Wo willst du denn …?«

Aber er war längst fort. Sie kam zu dem Schluss, dass er auf dem Weg hinters Haus sein musste, um etwas Gemüse zu holen. Aber wieso brauchte er dafür das große Messer? Sie war verwirrt, aber auch sie war erfüllt mit neuem Leben. Richard schien wieder ganz der Alte zu sein.

Nicci holte ein paar Eier, die sie aufgehoben hatte, aus der Speisekammer, dazu eine eiserne Bratpfanne, und lief hinters Haus zur Kochstelle. Die Scheite glühten noch vom Abend zuvor und spendeten ein wenig Licht. Behutsam legte sie ein paar kleine Zweige und Anmachholz nach, dann schichtete sie eine Lage fingerdicker Äste darüber. Statt sie auf den Rost zu setzen, stellte sie die Eisenpfanne einfach direkt aufs Holz, als dieses Feuer fing; Eier brauchten nicht lange.

Während sie darauf wartete, dass die Pfanne heiß wurde, vernahm sie ein eigenartiges Kratzgeräusch. Im flackernden Schein des Feuers konnte sie nicht erkennen, ob Richard im Garten war. Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wohin er gegangen sein konnte oder was er im Schilde führen mochte.

Sie schlug die Eier in die heiße Pfanne und verrührte sie mit einem Holzlöffel, während sie brieten.

Nicci stand am Herd, den Pfannengriff mit einem Zipfel ihres Rocks festhaltend, als Richard zu ihrer Überraschung hinter der breiten Kochstelle zum Vorschein kam.

»Was tust du, Richard?«

»Hier hinten sind ein paar Ziegelsteine locker, ich wollte mich vor der Arbeit noch rasch darum kümmern. Die Fugen habe ich schon ausgekratzt, heute Abend, wenn ich von der Arbeit komme, bringe ich etwas Mörtel mit und repariere es.«

Er holte eine Hand voll breithalmiger Gräser hervor, die er, als er ihr die Pfanne abnahm, als Topflappen benutzte. Mit der anderen Hand warf er das Messer in die Luft, fing es an der Spitze wieder auf und reichte es ihr mit dem Griff voran. Nicci nahm das schwere Messer entgegen, das jetzt vom Säubern der Ziegel zerkratzt und stumpf war. Er aß im Stehen, mit dem Holzlöffel.

»Geht es dir gut?«, erkundigte sie sich.

»Ausgezeichnet«, antwortete er, den Mund voll Ei. »Wieso?«

Nicci deutete auf das Haus. »Na ja, gestern Abend … hast du einen … ziemlich niedergeschlagenen Eindruck gemacht.«

Er sah sie stirnrunzelnd an. »Ich habe also kein Recht, mich ab und zu selbst zu bemitleiden?«

»Doch, doch, vermutlich schon. Aber jetzt …?«

»Jetzt habe ich mir das alles noch mal durch den Kopf gehen lassen.«

»Und …?«

»Es soll doch mein Geschenk an das Volk sein, oder? Ich werde dem Volk ein Geschenk machen, das es dringend nötig hat.«

»Wovon redest du überhaupt?«

Richard fuchtelte aufgeregt mit dem Holzlöffel. »Die Brüder Narev und Neal sagten, sie soll mein Geschenk an das Volk sein, und genau das wird sie auch werden.« Er schaufelte sich noch mehr Ei in den Mund.

»Dann wirst du also diese Statue bildhauern, die sie verlangen?«

Sie hatte die Frage noch nicht ganz beendet, da war er bereits auf der Treppe.

»Ich muss noch rasch das Modell der Statue holen und dann sofort zur Arbeit.«

Nicci lief ihm hinterher, die Treppe hinauf. Selbst im Laufen verspeiste er noch sein Rührei. Dann stand er in ihrem Zimmer und besah sich die kleine Statue ganz genau. Nicci wurde aus ihm einfach nicht klug – er lächelte.

Er stellte die Pfanne auf dem Tisch ab und nahm das Modell an sich. »Wahrscheinlich wird es heute Abend spät werden; wenn möglich, möchte ich mit meiner Buße für den Orden anfangen. Vielleicht muss ich die Nacht durcharbeiten.«

Erstaunt sah sie ihm nach, wie er zur Arbeit eilte.

Sie konnte kaum glauben, dass es ihm irgendwie gelungen war, dem Tod ein weiteres Mal zu entgehen. Nicci wusste nicht mehr, wann sie zuletzt so dankbar über irgendetwas gewesen war.


Richard traf bei der Schmiedewerkstatt ein, kurz nachdem Victor aufgeschlossen hatte; seine Arbeiter waren noch nicht da. Victor war nicht überrascht, ihn zu sehen, denn Richard erschien des Öfteren sehr früh, und gewöhnlich setzten sich die beiden dann hin und sahen sich den Sonnenaufgang über der Baustelle an.

»Richard! Freut mich, dich zu sehen.«

»Mich auch, Victor. Ich muss mit dir reden.«

Er gab ein mürrisches Brummen von sich. »Über die Statue?«

»Ja, genau«, antwortete Richard leicht verblüfft. »Über die Statue. Du weißt es schon?«

Gefolgt von Richard schlängelte sich Victor durch die dunkle Werkstatt, durch ein wüstes Chaos aus Werkbänken, Werkstücken und Werkzeugen. »O ja, ich habe davon gehört.« Gelegentlich blieb er unterwegs stehen und bückte sich, um hier einen Hammer, dort einen Eisenbarren aufzuheben und sie auf einen Tisch zu legen oder in einem Behälter zu verstauen, so als könnte man Ordnung in eine Landschaft bringen, indem man hier ein paar Kieselsteine umarrangierte und dort einen toten Ast aufsammelte.

»Und was hast du gehört?«

»Gestern Abend war Bruder Narev bei mir. Er teilte mir mit, dass eine offizielle Weihung des Ruhesitzes stattfinden wird, um unserem Schöpfer unsere Ehrerbietung zu bezeugen für all die Dinge, mit denen er uns beschenkt.« Als er an seinem riesigen Quader aus Cavaturamarmor vorüberkam, schaute er kurz über seine Schulter. »Er erklärte mir, dass du eine Statue für den Vorplatz schaffen sollst – eine monumentale Statue. Er sagte, sie sei für die Weihungsfeier bestimmt.

Nach allem, was ich so von den Leuten höre, von Ishaq und auch von anderen, schreibt der Orden den Aufstand der übergroßen Belastung zu, die die gleichzeitige Durchführung eines so gewaltigen Bauvorhabens wie dem Palast und das Führen eines Krieges mit sich bringen. Ganze Heerscharen von Arbeitern sind mit dem Bau beschäftigt – nicht nur hier, sondern auch überall in den Steinbrüchen, in den Gold- und Silberminen sowie in den Wäldern, wo das Bauholz geschlagen wird. Doch selbst Sklaven müssen mit Nahrung versorgt werden. Die Säuberungsaktionen unter den Beamten, Führungskadern und gelernten Arbeitern im Anschluss an den Aufstand waren überaus umfassend. Ich glaube, Bruder Narev möchte mit der Weihungszeremonie dem Volk vor Augen führen, dass es vorangeht, und ihm neuen Mut machen, darüber hinaus möchte er die abseits gelegenen Länder in die Feierlichkeiten einbeziehen, weil er glaubt, damit zukünftigen Schwierigkeiten zuvorkommen zu können.«

Nur das in der hohen Decke eingelassene Oberlicht ließ in das Dunkel des Raumes Licht hinein, das sich über den Steinquader ergoss. Der Marmor schien das Licht tief in seine feine kristalline Struktur zu saugen und es als ein Geschenk der Liebe zurückzugeben.

Victor öffnete die Doppeltür, von der aus man den gesamten Ruhesitz überblicken konnte. »Bruder Narev erklärte mir, dass deine Statue gleichzeitig als Sonnenuhr dienen soll, wobei das Licht des Schöpfers auf die Qualen der Menschheit herniederscheint. Er erklärte mir, ich soll die Herstellung des Sonnenuhrzeigers und des Zifferblatts überwachen, auf das der Schatten fällt. Er erwähnte etwas von einem Blitz…«

Victor wandte sich um und verfolgte mit dem Blick, wie Richard das Modell der Statue auf einem schmalen Werkzeugbord abstellte, das den Raum der Länge nach durchlief.

»Gütige Seelen…«, entfuhr es Victor leise. »Das ist doch lächerlich.«

»Man will, dass ich das hier in Stein haue. Die Statue soll eine so starke Ausstrahlung haben, dass sie in der Lage ist, den Haupteingang zu beherrschen.«

Victor nickte. »Bruder Narev erwähnte etwas in der Art. Er erklärte mir, wie groß das Metallstück für das Zifferblatt werden würde. Er hätte es gerne in Bronze.«

»Kannst du Bronze gießen?«

»Nein.« Victor tippte Richard mit dem Fingerrücken an. »Und jetzt kommt das Beste: Überhaupt nur wenige können ein solches Werkstück gießen. Bruder Narev hat Priskas Freilassung angeordnet, damit er das Gießen übernimmt.«

Richard blinzelte erstaunt. »Priska lebt?«

Victor nickte. »Offenbar wollte man an hoher Stelle nicht, dass er im Himmel begraben wird, weil man auf seine Fachkenntnisse angewiesen ist. Im Orden weiß man ganz genau, dass man auf die Leute mit handwerklichen Fertigkeiten angewiesen ist, deswegen hat man ihn für diesen Auftrag auf freien Fuß gesetzt. Wenn er am Leben bleiben und das Verlies verlassen will, muss er die Bronze gießen, und zwar auf eigene Kosten, als Geschenk an das Volk. Es heißt, das sei seine Buße. Ich soll ihm einen Plan mit genauen Angaben erstellen, mich um ihren Zusammenbau sowie die Montage an der Statue kümmern.«

»Victor, ich möchte deinen Stein kaufen.«

Der Schmied legte missbilligend die Stirn in Falten.

»Kommt nicht in Frage.«

»Narev und Neal haben von meiner Geldstrafe erfahren und sind der Meinung, ich sei zu billig davongekommen. Sie haben verfügt, ich soll als Buße ihre Statue bildhauern – ganz so, wie Priska den Bronzeguss liefern soll. Ich muss den Stein aus eigener Tasche bezahlen und ihn nach meiner täglichen Arbeit auf der Baustelle bearbeiten. Sie wollen ihn für die Weihung des Ruhesitzes in diesem Winter.«

Victors Blick schwenkte zu dem Modell auf dem Regal hinüber, so als wäre es ein Ungeheuer, das ihn in den Untergang treiben wollte. »Du weißt, was mir dieser Stein bedeutet, Richard. Ich werde niemals zulassen…«

»Victor, hör mir zu.«

»Nein.« Er hob abwehrend eine Hand. »Das kannst du unmöglich von mir verlangen. Ich möchte nicht, dass dieser Stein so hässlich wird wie alles, was der Orden anfasst. Das lasse ich nicht zu.«

»Ich ebenso wenig.«

Victor deutete verärgert gestikulierend auf das Modell. »Das sollst du in Stein meißeln. Wie kannst du auch nur mit dem Gedanken spielen, meinen jungfräulichen Marmor mit dieser Hässlichkeit zu strafen?«

»Aber das tue ich doch gar nicht.«

Richard stellte das Gipsmodell auf den Fußboden, schnappte sich einen großen Hammer, der mit dem Stiel an der Wand lehnte, und zertrümmerte die Scheußlichkeit mit einem wuchtigen Hieb in tausend Stücke. Der weiße Staub wallte, gleichsam ein Geist des Bösen auf seiner Rückkehr in die Unterwelt, langsam über die Schwelle, zur Tür hinaus und kroch den Hang hinunter zum Palast.

»Verkauf mir deinen Stein, Victor. Gib mir die Chance, die Schönheit in seinem Inneren zu befreien.«

Victor kniff argwöhnisch die Augen zusammen. »Der Stein hat einen Fehler. Man kann ihn nicht behauen.«

»Darüber habe ich schon nachgedacht. Ich habe eine Möglichkeit gefunden und weiß, wie ich es anfangen kann.«

Victor berührte den Stein mit seiner Hand, fast als wollte er einen lieben, in Not geratenen Menschen trösten.

»Du kennst mich, Victor. Habe ich dich jemals auf irgendeine Weise hintergangen? Dir Schaden zugefügt?«

Er antwortete mit leiser Stimme: »Nein, Richard, hast du nicht.«

»Ich brauche diesen Stein, Victor. So wie er das Licht aufnimmt und wieder abgibt, kann ich mir kein besseres Stück Marmor vorstellen. Er weist eine Körnung auf, in der sich feinste Einzelheiten wiedergeben lassen. Für diese Statue brauche ich das allerbeste Material. Ich schwöre dir, Victor, wenn du ihn mir anvertraust, wird er deinen Vorstellungen gerecht werden. Ich werde deine Liebe zu diesem Stein nicht verraten, das schwöre ich dir.«

Sanft glitt die kräftige, schwielige Hand des Schmieds an dem weißen Marmorquader hinauf, der ihn fast um eine Körperlänge überragte.

»Und wenn du dich weigerst, ihnen ihre Statue zu meißeln?«

»Neal meinte, dann würden sie mich wieder ins Gefängnis werfen, solange, bis sie entweder ein Geständnis von mir bekommen oder ich an den Verhören zugrunde gehe. Ich würde für nichts im Himmel begraben werden.«

»Und wenn du stattdessen deinen Plan verwirklichst und« – Victor deutete auf die Trümmer des Modells – »nicht das bildhauerst, was sie wollen?«

»Vielleicht will ich vor meinem Tod wenigstens noch einmal wahre Schönheit zu Gesicht bekommen.«

»Pah. Was willst du denn in Stein meißeln? Was möchtest du vor deinem Tod noch einmal sehen? Was könnte das sein, das es wert ist, dein Leben dafür herzugeben?«

»Die Würde des Menschen – Schönheit in ihrer erhabensten Form.«

Die Hand des Mannes auf dem Stein zögerte; er suchte Richards Augen, sagte aber nichts.

»Victor, du musst mir helfen. Ich bitte dich nicht, mir etwas zu schenken. Ich bin bereit zu zahlen, was immer du verlangst. Nenn mir deinen Preis.«

Victors liebevoller Blick wanderte zu seinem Stein zurück.

»Zehn Goldtaler«, antwortete er mit einer Mischung aus Dreistigkeit und Zuversicht, da er ganz genau wusste, dass Richard kein Geld besaß.

Richard langte in seine Tasche, zählte zehn Goldtaler ab und reichte Victor das kleine Vermögen. Der Schmied runzelte die Stirn.

»Woher hast du so viel Geld?«

»Ich habe gearbeitet und es gespart. Ich habe es mir verdient, indem ich dem Orden beim Bau seines Palastes geholfen habe. Schon vergessen?«

»Aber man hat dir dein ganzes Geld abgenommen. Nicci hat ihnen verraten, wie viel du besitzt, und sie haben dir alles weggenommen.«

Richard neigte seinen Kopf vielsagend zur Seite. »Du hast doch nicht etwa geglaubt, ich wäre so töricht, mein ganzes Geld an einem einzigen Ort zu verstecken, oder? Ich habe überall Gold verborgen. Sollte das nicht reichen, werde ich dir eben zahlen, was immer du verlangst.«

Richard wusste, dass der Stein kostbar war – wenn auch ganz sicher keine zehn Goldtaler –, aber das Geld ging an Victor, daher wollte er über den Preis nicht verhandeln. Er würde bezahlen, was immer der Mann verlangte.

»Ich kann dein Geld nicht annehmen, Richard.« Er winkte, sich geschlagen gebend, ab. »Ich kann nicht bildhauern; es war doch nur ein Traum. Solange ich den Stein nicht bearbeite, kann ich von der Schönheit träumen, die sich in ihm verbirgt. Er stammt aus meiner Heimat, wo früher einmal so etwas wie Freiheit existierte.« Blind ertasteten seine Finger die Marmorfläche. »Der Stein besitzt Würde. Ich würde gerne sehen, wie die Menschenwürde in diesem Stück Cavaturamarmor Gestalt annimmt. Du sollst den Stein haben, mein Freund.«

»Nein, Victor, ich möchte dir deinen Traum nicht abkaufen; ich möchte ihn, wenn man so will, erfüllen. Als Geschenk kann ich ihn nicht annehmen. Ich will ihn kaufen.«

»Aber warum?«

»Weil ich gezwungen sein werde, ihn dem Orden zum Geschenk zu machen. Ich möchte nicht, dass du ihn dem Orden überlässt, das möchte ich selber tun müssen. Zweifellos werden sie ihn aber sehr viel lieber zerstört sehen wollen. Wenn es dazu kommt, muss er mir gehören; und in diesem Fall möchte ich, dass er bezahlt ist.«

Victor hielt ihm seine Hand hin. »Also dann zehn Goldtaler.«

Richard zählte ihm die zehn Goldtaler in die Hand.

»Danke, Victor«, sagte Richard leise.

Victor musste grinsen. »Wohin möchtest du ihn geliefert haben?«

Richard reichte ihm einen weiteren Goldtaler. »Könnte ich diesen Raum mieten? Ich würde ihn gerne hier bearbeiten. Von hier aus kann er, wenn ich fertig bin, auf einem Schlitten zum Vorplatz hinuntertransportiert werden.«

Victor zuckte mit den Achseln. »Abgemacht.«

Richard gab ihm einen zwölften Goldtaler. »Außerdem möchte ich, dass du die Werkzeuge schmiedest, mit denen ich diesen Stein bearbeiten werde – die besten, die du je hergestellt hast, die Sorte von Werkzeugen, die man in deiner Heimat benutzt, um wahre Schönheit in Stein zu meißeln. Dieser Marmor erfordert das Allerbeste; fertige die Werkzeuge aus dem allerbesten Stahl.«

»Stecheisen, gespleißte Meißel und Meißel für die Feinarbeit – die kann ich dir machen. Außerdem liegen hier genügend Hämmer herum, die du benutzen kannst.«

»Darüber hinaus benötige ich Feilen, ein ganzes Sortiment unterschiedlicher Formen, sowie Raspeln; des Weiteren eine große Auswahl der feinsten Abziehfeilen, gerade und gebogene. Du musst mir Bimssteine besorgen, den feinkörnigen weißen Bimsstein, zurechtgeschliffen zu den gleichen Formen wie die Raspeln und Feilen, und dazu einen ordentlichen Vorrat an pulverisiertem Bimsstein.«

Victor hatte staunend die Augen aufgerissen. Der Schmied stammte aus einer Gegend, wo einst auf diese Art gebildhauert wurde, deshalb wusste er nur zu gut, was Richard vorhatte.

»Du willst nacktes Fleisch in Stein wiedergeben.«

»Allerdings.«

»Weißt du denn, wie man das macht?«

Von den Statuen, die er in D’Hara und Aydindril gesehen hatte, von dem, was einige der anderen Bildhauer ihm erzählt hatten, sowie von den Dingen, die er während seiner Arbeit am Palast des Ordens ausprobiert hatte, wusste Richard, dass hochwertiger Marmor, entsprechend bearbeitet, anschließend geschliffen und auf Hochglanz poliert, das Licht aufzunehmen und auf eine Weise wieder von sich zu geben vermochte, die den Stein von aller Härte zu befreien und weich zu machen schien, sodass er das Aussehen nackter Haut annahm. Bei entsprechender Ausführung schien der Marmor beinahe lebendig zu werden.

»Ich habe gesehen, wie es gemacht wird, Victor. Ich habe schon früher als Bildhauer gearbeitet und gelernt, wie man so etwas macht. Monatelang habe ich darüber nachgedacht. Seit ich angefangen habe, für den Orden zu bildhauern, hat dieses Vorhaben meinen Geist lebendig erhalten. Ich habe meine Arbeiten für den Orden dazu verwendet, auszuprobieren, was ich gesehen habe, was ich gelernt und was ich mir selbst überlegt habe. Sogar vorher schon, während der Verhöre … habe ich immer nur an diesen Stein gedacht und an die Statue, von der ich weiß, dass sie sich in ihm verbirgt, um meine Gedanken von dem abzulenken, was man mir antat.«

»Willst du damit sagen, es hat dir geholfen, ihre Foltern zu ertragen?«

Richard nickte. »Ich kann es schaffen, Victor.« Er ballte fest entschlossen seine Faust. »Ich kann den nackten menschlichen Körper in Stein wiedergeben. Ich brauche dafür nichts weiter als die richtigen Werkzeuge.«

Victor ließ das Gold in seiner Faust klingeln. »Abgemacht. Für das, was du vorhast, kann ich die richtigen Werkzeuge herstellen. Wie man bildhauert, weiß ich nicht, das aber wird mein Beitrag dazu sein, die verborgene Schönheit ans Licht zu bringen.«

Zur Besiegelung ihres Abkommens ergriffen sich Richard und Victor an den Unterarmen.

»Um eins möchte ich dich allerdings bitten – um einen Gefallen.«

Victor lachte sein tief aus dem Bauch kommendes Lachen. »Muss ich dich mit Lardo füttern, damit du kräftig genug bist, um diesen würdigen Stein behauen zu können?«

Richard lächelte. »Nein. Obwohl ich Lardo niemals ablehnen würde.«

»Was ist es dann?«, wollte Victor wissen. Richard berührte den Stein, seinen Stein, fast zärtlich mit den Fingern.

»Niemand darf sie sehen, bevor sie fertig ist. Das gilt auch für dich. Ich hätte gern eine Plane, um sie abzudecken. Und ich möchte dich bitten, sie dir nicht anzusehen, bevor sie vollendet ist.«

»Warum?«

»Weil sie, solange ich sie bearbeite, allein mir gehören muss. Ich brauche dieses Alleinsein mit ihr, während ich sie gestalte. Wenn ich fertig bin, kann die Welt sie haben, aber solange ich noch an ihr arbeite, soll sie allein mein Wunschbild sein. Ich möchte, dass niemand sie zu Gesicht bekommt, bevor sie fertig ist.

Vor allem aber möchte ich nicht, dass du sie siehst, denn ich will dich für den Fall, dass etwas schief geht, nicht mit hineinziehen. Du sollst nicht wissen, was ich tue.

Wenn du sie nicht siehst, kann man dich dafür, dass du es ihnen nicht verrätst, nicht im Himmel begraben.«

Victor gab sich achselzuckend geschlagen. »Wenn das dein ausdrücklicher Wunsch ist, dann soll es so geschehen. Ich werde meinen Leuten erklären, dass der hintere Werkstattraum vermietet ist und niemand dort Zutritt hat. Außerdem werde ich ein Schloss an der Innentür anbringen und eine Kette vor die äußere Doppeltür hier legen und dir den Schlüssel geben.«

»Danke. Du weißt nicht, wie viel mir das bedeutet.«

»Wann brauchst du die Meißel?«

»Zuerst benötige ich den schweren Meißel, um die groben Umrisse herauszuarbeiten. Könntest du ihn bis heute Abend fertig haben? Ich habe nicht viel Zeit.«

Victor tat Richards Sorge mit einer Handbewegung ab. »Der schwere Meißel ist kein Problem, den kann ich kurzfristig herstellen. Er wird fertig sein, wenn du von deiner Arbeit dort unten zurückkommst – von deiner Arbeit an der Hässlichkeit. Die anderen Meißel, mit denen du die Schönheit schaffen wirst, werden lange fertig sein, bevor du sie brauchst.«

»Danke, Victor.«

»Was soll dieses Danke-schön-Gerede? Das ist ein Geschäft. Du hast mich im Voraus bezahlt – Ware gegen Geld, unter ehrlichen Männern. Ich kann dir gar nicht sagen, wie gut es tut, einen Kunden zu haben, der nicht dem Orden angehört.«

Victor kratzte sich am Kopf und wurde ernster. »Sie werden dein Werk sehen wollen, Richard, meinst du nicht? Sie werden sehen wollen, wie du mit ihrer Statue vorankommst.«

»Nein, glaube ich nicht. Sie vertrauen auf meine Arbeit. Außerdem haben sie mir ein Modell gegeben, das sie maßstabgerecht vergrößert haben wollen und das bereits genehmigt ist. Man hat mir erklärt, dass mein Leben davon abhängt. Neal war geradezu entzückt, als er mir erzählte, wie er den Befehl gab, die anderen Bildhauer zu foltern und hinzurichten. Er wollte mir Angst machen. Ich bezweifle, dass sie noch einen weiteren Gedanken daran verschwenden werden.«

»Aber was ist, wenn doch ein Ordensbruder erscheint und sie sehen will?«

»Dann werde ich ihm einen Eisenbarren um den Hals wickeln und ihn in einem Fass mit Salzlake einlegen müssen.«

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