Ann spähte in den kleinen Hain aus Birken, die sich in den tiefen Schatten jenes rötlich schimmernden Felsenkliffs drängten, nach dem der Ort benannt war. Der dichte Wald war reich an Bäumen, deren sich schälende, mit dunklen Flecken gesprenkelte weiße Rinde einen verwirrte und die Orientierung erschwerte. Hier die Orientierung zu verlieren und sich ungeladen am falschen Ort zu zeigen, wäre der letzte Fehler, den man je begehen würde.
Das letzte Mal war sie in ihrer Jugendzeit hierher, zu den Heilern von Redcliff gekommen. Sie hatte sich fest vorgenommen, niemals zurückzukehren, und dasselbe den Heilern versprochen, doch hoffte sie, dass sie es in den nahezu eintausend Jahren, die seitdem verstrichen waren, vergessen hatten.
Nur wenigen war dieser Ort bekannt, noch weniger trauten sich jemals hierher – und das aus gutem Grund.
Der Begriff ›Heiler‹ war eine etwas seltsame und irreführende Bezeichnung für einen derart gefährlichen Menschenschlag, und doch war er nicht völlig unzutreffend. Die Heiler von Redcliff befassten sich nicht etwa mit den körperlichen Leiden der Menschen, sondern mit dem Wohlergehen von Dingen, die für sie selber von Bedeutung waren – und das waren in der Tat bemerkenswerte Dinge. Um die Wahrheit zu sagen: Nach all dieser Zeit festzustellen, dass sie überhaupt noch existierten, hatte sie überrascht.
Sosehr sie hoffte, ihre Fähigkeiten könnten ihr eine Hilfe sein, und so dringend sie Hilfe benötigte, hoffte sie im Grunde, dass die Heiler nicht mehr die Redcliff-Wälder unsicher machten.
»Bessssucher…«, zischelte eine lockende Stimme aus den trüben Schatten in den Spalten des Felsenkliffs jenseits der Bäume.
Ann blieb stehen und rührte sich nicht, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Im Gewirr der von den Bäumen erzeugten Linien und Punkte vermochte sie die Bewegung, die sie dort gesehen hatte, nicht eindeutig zuzuordnen. Im Grunde brauchte sie sie nicht zu sehen; sie hatte die Stimme gehört, und die war unverwechselbar. Sie schluckte und versuchte, gefasst zu klingen.
»Richtig, ich bin ein Besucher. Freut mich zu sehen, dass ihr wohlauf seid.«
»Wir sind nur noch wenige«, erwiderte die Stimme, deren Echo von den Felswänden widerhallte. »Die meisten von uns haben die Chiiiimären geraubt.«
Genau das hatte Ann befürchtet … und gleichzeitig gehofft.
»Tut mir Leid«, log sie.
»Wir haben es versucht«, erwiderte die Stimme, die sich zwischen den Bäumen zu bewegen schien. »Aber durch Heilen waren die Chiiiimären nicht zu beseitigen.«
Sie fragte sich, ob sie des Heilens überhaupt noch fähig waren, und wie lange sie noch überdauern würden.
»Kommt sieee wegen einer Heilung?«, erkundigte sich die Stimme neckisch aus den Tiefen der schroffen Einschnitte auf der gegenüberliegenden Seite.
»Ich bin gekommen, um euch einen Blick zu gewähren«, erwiderte sie, um klar zu stellen, dass auch sie Bedingungen stellte. Man durfte ihnen keinesfalls in jedem Punkt ihren Willen lassen.
»Dasss hat seinen Preisss, musst du wissen.«
Ann nickte. »Ist mir bekannt.«
Sie hatte bereits alles versucht; nichts hatte etwas genützt. Ihr blieb keine andere Wahl, jedenfalls keine, die ihr eingefallen wäre. Sie war sich längst nicht mehr sicher, ob es sie kümmerte, was geschah, ob es ihr etwas ausmachte, ob sie jemals aus dem Redcliff-Wald wiederkehrte.
Längst war sie nicht mehr sicher, ob sie in ihrem ganzen Leben jemals etwas Gutes bewirkt hatte.
»Nun?«, fragte sie in die lautlosen Schatten hinein.
Irgendwo blitzte etwas auf, hinten, jenseits der Bäume, im Schatten unter den niedrigen Felsvorsprüngen, wie um sie aufzufordern, den Pfad weiterzugehen, tiefer hinein in die verschlungene Bergschlucht. Sich die von den längst verheilten Verbrennungen noch immer schmerzenden Knöchel reibend, folgte sie dem Pfad und dem Geraschel im Unterholz. Kurz darauf gelangte sie an eine Stelle, wo sich eine Lücke zwischen den Bäumen auftat. Durch diese Lücke konnte sie die Öffnung einer Höhle erkennen.
Augen beobachteten sie aus diesem dunklen Schlund.
»So trete sssie doch ein«, zischelte die Stimme.
Sich in das Unabänderliche fügend, verließ Ann seufzend den Pfad und trat ein in einen Ort, den sie niemals aus ihrer Erinnerung hatte streichen können, sosehr sie es auch versucht hatte.
Kahlans Haar peitschte nach vorn und klatschte ihr ins Gesicht. Es mit einer Hand vor ihrer gepanzerten Schulter raffend, bahnte sie sich einen Weg durch das hektische Feldlager. An der Ostseite des Tales stießen die Unwetter heftig mit den Bergen zusammen, schleuderten Blitz und Donner und bescherten ihnen immer wieder aufs Neue einsetzende Regengüsse. Vereinzelte Böen beugten die Bäume, deren Blätter schimmerten, so als zitterten sie aus Angst vor diesen wütenden Naturgewalten.
Gewöhnlich ging es im Lager vergleichsweise ruhig zu, damit man dem Feind nicht ungewollt irgendwelche Informationen lieferte. Verglichen damit herrschte jetzt, da das Lager abgebrochen wurde, ein geradezu Nerven aufreibender Lärm. Der Krach allein genügte, ihren Puls zu beschleunigen. Wenn das nur alles wäre.
Während Kahlan durch das Chaos eilte, das dem ungeübten Auge wie eine Massenpanik erscheinen musste, stieß Cara in ihrer roten Lederkleidung Soldaten beiseite, um der Mutter Konfessor einen deutlich erkennbaren Pfad zu bahnen. Kahlan war klug genug, die Mord-Sith nicht davon abhalten zu wollen. Die meisten Soldaten gingen ihr auch ohne Caras Zutun aus dem Weg, wenn sie die Mutter Konfessor in ihrer Lederrüstung mit dem d’Haranischen Schwert an ihrer Seite und dem Heft des Schwertes der Wahrheit, das hinter ihrer Schulter hervorlugte, erblickten.
Ganz in der Nähe bäumten sich Pferde auf, die vor einen Wagen gespannt werden sollten. Unter wüstem Gerufe und Gefluche versuchten Soldaten, das Gespann unter Kontrolle zu bekommen, doch die Tiere protestierten mit heftigem Gebrüll. Andere Soldaten rannten, über Lagerfeuer und Gerät hinwegsetzend, quer durchs Lager, um Nachrichten zu überbringen. Männer sprangen aus dem Weg, als Wagen, Schlamm und Wasser spritzend, vorüberrasten. Eine lange, fünf Mann starke Kolonne aus Lanzenträgern marschierte bereits aus dem Lager und verschwand in der Unheil verkündenden Düsterkeit. Die Bogenschützen, die ihnen Schützenhilfe leisten sollten, waren hektisch bemüht, mit ihnen Schritt zu halten.
Der Pfad hinauf zur Hütte war mit Steinen ausgelegt, sodass niemand, der sich dorthin begab, durch Schlamm waten musste, der Spießrutenlauf durch die Mückenplage jedoch blieb niemandem erspart. Sie waren gerade bei der Tür angelangt, als sie ein peitschender Regenguss überraschte. Zedd war dort, zusammen mit Adie, General Meiffert und verschiedenen seiner Offiziere, sowie Verna und Warren. Alle hatten sich zwanglos um den in die Mitte des Raumes geschobenen Tisch versammelt; ein halbes Dutzend Karten lag kunterbunt übereinander auf dem Tisch.
Die Stimmung im Raum war angespannt.
»Wie lange ist das her?«, erkundigte sich Kahlan, auf jede Begrüßung verzichtend.
»Vielleicht ein paar Minuten«, antwortete General Meiffert. »Sie lassen sich mit dem Abbruch des Lagers Zeit. Sie ordnen sich nicht etwa für einen Angriff, sondern formieren sich für einen Abzug.«
Kahlan rieb sich mit den Fingerspitzen über die Stirn. »Liegen irgendwelche Informationen vor, was ihre Marschrichtung anbelangt?«
Der General veränderte seine Körperhaltung und verriet dadurch seine Verzweiflung. »Die Kundschafter behaupten, alles deute darauf hin, dass sie Richtung Süden marschieren werden, aber etwas Genaueres wissen wir zurzeit noch nicht.«
»Dann haben sie also nicht vor, uns hinterher zumarschieren?«
»Sie können ihre Marschrichtung natürlich jederzeit ändern oder eine Armee herschicken, im Augenblick aber deutet alles darauf hin, dass sie nicht die Absicht haben, uns bis hierher zu verfolgen.«
»Jagang hat es nicht nötig, uns nachzulaufen«, warf Warren ein. Kahlan fand, dass er ein wenig blass aussah, was kaum verwundern konnte; vermutlich wirkten sie alle ein wenig blass. »Jagang muss wissen, dass wir ihn angreifen werden. Er wird sich nicht die Mühe machen, uns bis hierher entgegenzukommen.«
Seiner Logik vermochte Kahlan nicht zu widersprechen. »Wenn er Richtung Norden marschiert, muss er wissen, dass wir hier nicht still sitzen bleiben und ihm zum Abschied nachwinken werden.«
Der Kaiser hatte seine Taktik geändert – wieder einmal. Noch nie war Kahlan einem Befehlshaber seines Schlages begegnet. Die meisten Militärs hatten ihre bevorzugten Methoden; hatten sie einmal auf eine bestimmte Weise eine Schlacht gewonnen, nahmen sie – in der festen Überzeugung, was einmal geklappt hatte, müsse wieder funktionieren – gewöhnlich ein Dutzend Niederlagen nach derselben Taktik in Kauf. Manchen waren auf Grund ihres Denkvermögens Grenzen gesetzt; diese waren leicht auszurechnen. Für gewöhnlich unternahmen sie einen stümperhaften Feldzug und gaben sich damit zufrieden, ihre Männer in den großen Fleischwolf zu schicken, in der Hoffnung, ihn durch schiere Masse zu verstopfen. Andere Heerführer waren gerissen und entwickelten ihre Taktik aus dem Stegreif; diese wiederum überschätzten sich oft selbst und endeten an der Spitze einer schlichten Lanze. Wieder andere hielten sich sklavisch an die Taktiken aus dem Kriegshandbuch; für sie war der Krieg eine Art Spiel, in der jede Seite der jeweils anderen verpflichtet war, sich an die Regeln zu halten.
Jagang war anders. Er hatte gelernt, den Feind auszurechnen. Er besaß keine bevorzugte Methode. Nachdem Kahlan ihm mit schnell vorgetragenen, begrenzten Überfällen mitten in sein Feldlager zugesetzt hatte, hatte er sich eben diese Taktik zu eigen gemacht und, statt sich auf seine überwältigende Übermacht zu verlassen, die d’Haranische Armee mit derselben Art von überfallartigen Attacken angegriffen – mit durchschlagendem Erfolg. Manche Männer ließen sich durch eine Schmach zu törichten Fehlern verleiten; Jagang dagegen machte denselben Fehler nie zweimal. Er hatte seinen Stolz im Griff, wechselte abermals die Taktik und tat Kahlan nicht den Gefallen, sich zu unsinnigen Gegenangriffen hinreißen zu lassen.
Trotzdem war es den D’Haranern gelungen, Breschen in seine Reihen zu schlagen und Truppen der Imperialen Ordnung in nicht vorhersehbarer Zahl auszuschalten. Ihre eigenen Verluste, obschon schmerzlich, waren, verglichen mit den erreichten Zielen, bemerkenswert gering.
Allerdings waren sehr viel mehr Feinde dem Winter zum Opfer gefallen als allen Einfallen Kahlans oder ihrer Männer. Da die Imperiale Ordnung weit unten aus dem Süden stammte, war sie mit dem Winter in der neuen Welt nicht vertraut und ungenügend auf ihn vorbereitet. Weit mehr als eine halbe Million Soldaten waren erfroren, mehrere hunderttausend waren Fieberanfällen und anderen durch das harte Leben an der Front hervorgerufenen Krankheiten erlegen.
Allein der Winter hatte Jagang nahezu eine Dreiviertel Million Mann gekostet. Es überstieg fast jedes Vorstellungsvermögen.
Kahlan befehligte in den südlichen Gebieten der Midlands derzeit ungefähr dreihunderttausend Mann. Unter normalen Umständen hätte eine solche Streitmacht jeden Feind vernichtend schlagen können.
Die Männer, die in Massen aus der Alten Welt heraufströmten, hatten die feindlichen Verluste jedoch um ein Vielfaches wettgemacht. Jagangs Armee bestand jetzt aus weit mehr als zweieinhalb Millionen Soldaten und wurde mit jedem Tag größer.
Jagang hatte sich damit begnügt, sich den Winter über nicht von der Stelle zu rühren. Kämpfen war unter solchen Bedingungen meist unmöglich. Klugerweise hatte er das Ende der ungünstigen Witterungsverhältnisse abgewartet, und als der Frühling kam, hielt er noch immer seine Stellung. Offenbar war er klug genug zu wissen, dass Krieg im Frühling ein tödliches Unterfangen war, denn in der morastigen Jahreszeit schwollen kleine Bäche zu unpassierbaren Fluten an. Man konnte seine Vorratskarren verlieren, wenn sie eine Kolonne bildeten, und der Verlust von Vorratskarren hatte einen langsamen Tod durch Verhungern zur Folge. Kavallerie war im Morast nahezu nutzlos, Stürze während eines Kavallerieangriffs kosteten wertvolle Reittiere, von den Männern ganz zu schweigen. Natürlich konnte die Infanterie einen Angriff durchführen, doch ohne die Unterstützung der nicht kämpfenden Einheiten drohte ein solcher Angriff in ein Blutbad ohne echten Nutzen auszuarten.
Jagang hatte den Morast des Frühlings ausgesessen. Seine Günstlinge hatten die Zeit genutzt und derweil die Kunde von ›Jagang, dem Gerechten‹ verbreitet. Kahlan geriet außer sich, als Wochen später Berichte von so genannten ›Gesandten des Friedens‹ sie erreichten, die in verschiedenen Städten überall in den Midlands aufgetaucht waren und Reden darüber gehalten hatten, sie wollten die Welt zum Wohle der gesamten Menschheit vereinen. Sie versprachen Frieden und Wohlstand, wenn man sie in den Städten willkommen hieß.
Jetzt, da der Sommer sie endlich eingeholt hatte, ließ Jagang seinen Feldzug erneut anlaufen. Offenbar beabsichtigte er jetzt, seine Truppen in jene Städte einmarschieren zu lassen, die seine Gesandten bereits aufgesucht hatten.
Die Tür flog auf, und es war nicht der Wind, sondern Rikka. Die Mord-Sith sah aus, als hätte sie seit Tagen nicht geschlafen. Rikka trat Kahlan gegenüber an den Tisch und warf zwei Strafer auf die dort liegende Karte.
Kahlan schloss für einen Moment die Augen, dann blickte sie hoch in Rikkas wütende blaue Augen. »Was ist passiert?«
»Ich weiß es nicht, Mutter Konfessor. Ich fand ihre Köpfe auf Lanzen aufgespießt. Die Strafer waren an den Lanzen festgebunden.«
Kahlan hielt ihren Zorn im Zaum. »Seid Ihr jetzt zufrieden, Rikka?«
»Galina und Solvig sind einen Tod gestorben, wie ihn Mord-Sith sich wünschen.«
»Galina und Solvig sind für nichts gestorben, Rikka. Nach den ersten vier wussten wir, dass es nicht funktionieren würde. Solange der Traumwandler in ihrem Verstand weilt, sind die mit der Gabe für Mord-Sith nicht so verwundbar, wie dies sonst der Fall wäre.«
»Es hätte auch etwas anderes sein können. Wenn wir ihre mit der Gabe Gesegneten dort aufgreifen, wo die Mord-Sith an sie herankommen, gelingt es uns vielleicht, sie auszuschalten. Das Risiko lohnt sich. Die mit der Gabe können mit einer einzigen Handbewegung tausende von Soldaten niederstrecken.«
»Ich habe Verständnis für Euren Wunsch, Rikka, aber der Wunsch allein macht es nicht möglich. Wir haben bereits sechs tote Mord-Sith zu beklagen, was uns zeigt, wie die Wirklichkeit aussieht. Wir werden nicht auch noch das Leben von weiteren fortwerfen, nur weil wir die Realität nicht wahrhaben wollen.«
»Ich bin trotzdem der Meinung…«
»Wir haben wichtige Entscheidungen zu treffen; für so etwas habe ich jetzt keine Zeit.« Kahlan stemmte ihre Fäuste auf den Tisch und beugte sich hinüber zu der Frau. »Ich bin die Mutter Konfessor und die Gemahlin des Lord Rahl. Entweder Ihr tut, was ich sage, oder Ihr verlasst die Truppe. Habt Ihr verstanden?«
Rikkas blaue Augen wechselten zu Cara. Schließlich sah Rikka Kahlan wieder an und seufzte schwer.
»Ich möchte bei unseren Streitkräften bleiben und weiter meine Pflicht erfüllen.«
»Ausgezeichnet. Und jetzt besorgt Euch etwas zu essen, solange Ihr noch Gelegenheit dazu habt. Ihr müsst bei Kräften bleiben.«
Für eine Mord-Sith kam Rikkas knappes Nicken einem förmlichen Salut so nahe, wie dies möglich schien. Als sie gegangen war, machte Kahlan der Moskitoplage mit ein paar gezielten Schlägen ein Ende und richtete ihr Augenmerk wieder auf die Karte.
»Also«, begann sie, die beiden Strafer von der Karte nehmend, »wer hat irgendwelche Vorschläge?«
»Ich würde sagen, wir müssen sie weiter am äußeren Rand attackieren«, meinte Zedd. »Einer direkten Auseinandersetzung mit ihnen können wir uns ganz offensichtlich nicht stellen. Wir haben keine andere Wahl, als sie auf dieselbe Weise zu bekämpfen wie bisher.«
»Derselben Ansicht bin ich auch«, meinte Verna.
Sich das Kinn reibend, blickte General Meiffert angestrengt auf die Karte, die ausgebreitet vor ihnen auf dem Tisch lag. »Wir werden uns über ihre Größe Gedanken machen müssen.«
»Nun, natürlich müssen wir uns über die Größe der Armee der Imperialen Ordnung Gedanken machen«, erwiderte Kahlan. »Sie ist groß genug, um sich aufteilen zu können und immer noch zu gewaltig zu sein, als dass man sich ihr entgegenstellen könnte. Davon spreche ich ja gerade – was tun wir, wenn er sie teilt? Ich an seiner Stelle würde es tun. Er weiß genau, dass er uns damit das Leben erschweren würde.«
Ein dringliches Klopfen an der Tür. Mit einem flüchtigen Faustschlag auf sein Herz salutierend, trat Captain Zimmer ein und schleppte, völlig außer Atem, beim Hereinkommen einen warmen, nach Pferd riechenden Luftschwall mit herein.
»Er teilt seine Truppen«, verkündete Captain Zimmer, so als hätten ihre Befürchtungen diese Entwicklung erst möglich gemacht.
Die meisten im Raum Anwesenden nahmen die Nachricht mit einem unglücklichen Seufzen auf.
»Kennen wir schon ihre Marschrichtung?«, erkundigte sich Kahlan.
Captain Zimmer nickte. »Allem Anschein nach lässt er etwa ein Drittel, vielleicht auch ein paar mehr, das Tal des Callisidrin hinauf nach Galea marschieren. Die Hauptstreitmacht hält nach Nordosten zu, wahrscheinlich, um das Tal des Kern zu erreichen und dann weiter nach Norden zu marschieren.«
Alle kannten sein mögliches späteres Ziel.
Zedd ballte eine Hand zur Faust. »Es macht keinen Spaß, Recht zu behalten, aber genau davon sprachen Kahlan und ich gerade. Genau das war unsere Vermutung.«
Captain Meiffert studierte, sich noch immer das Kinn reibend, die Karte. »Es ist ein offensichtlicher Schachzug, aber bei der Größe seiner Streitmacht ist das Offensichtliche keineswegs zwingend.«
Da offenbar niemand auf den Punkt zu sprechen kommen wollte, entschied Kahlan die Angelegenheit. »Galea steht völlig allein. Wir werden keine Truppen dorthin entsenden, um ihnen zu helfen.«
Schließlich deutete Captain Zimmer mit einer fuchtelnden Bewegung auf die Karte. »Wir müssen unsere Truppen vor ihre Hauptstreitmacht verlegen, wenn wir sie aufhalten wollen. Bleiben wir ihnen stattdessen auf den Fersen, können wir bestenfalls das Chaos aufräumen, das sie hinterlassen.«
»Da muss ich zustimmen.« Der General verlagerte das Gewicht auf seinen anderen Fuß. »Uns bleibt nichts weiter übrig, als zu versuchen, sie aufzuhalten. Wir werden immer wieder zurückweichen müssen, aber zumindest können wir ihren Vormarsch ein wenig verzögern. Tun wir das nicht, werden sie mit der Geschwindigkeit und Wucht einer Springflut bis ins Zentrum der Midlands vordringen.«
Zedd beobachtete den jungen Zauberer, der ein wenig abseits für sich am Fenster stand. »Wie denkst du darüber, Warren?«
Als er seinen Namen hörte, sah Warren auf, als hätte er überhaupt nicht zugehört; irgendetwas stimmte mit ihm nicht.
Er holte Luft und drückte den Rücken durch, während sich seine Miene aufhellte, sodass Kahlan schon glaubte, sie hätte sich getäuscht. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt, trat er mit großen Schritten an den Tisch.
Er blickte über Vernas Schulter auf die Karte. »Vergesst Galea der Fall ist verloren. Wir können den Menschen dort nicht helfen. Sie werden die Strafe verbüßen müssen, die ihnen die Mutter Konfessor auferlegt hat – nicht etwa, weil sie die Worte ausgesprochen hat, sondern weil ihre Worte schlicht die Wahrheit waren. Alle Truppen, die wir zur Hilfe dorthin entsenden würden, wären verloren.«
Zedd bedachte seinen Zaubererkollegen mit einem versteckten Seitenblick. »Und weiter?«
Endlich trat Warren näher an den Tisch heran und zwängte sich zwischen Verna und den General. Mit Nachdruck legte er einen Finger hoch oben im Norden auf die Karte – von ihrem gegenwärtigen Feldlager aus fast drei Viertel der Strecke bis nach Aydindril.
»Dorthin müsst Ihr marschieren.«
General Meiffert runzelte die Stirn. »So weit nach Norden? Warum?«
»Weil Ihr«, erklärte Warren, »Jagangs Armee nicht aufhalten könnt – nicht seine Hauptstreitmacht. Bestenfalls könnt Ihr darauf hoffen, sie auf ihrem Marsch nach Norden im Tal des Kern zu bremsen. An der Stelle müsst Ihr ihnen Widerstand leisten, wenn Ihr sie bis zum nächsten Winter aufhalten wollt. Haben sie Euch erst einmal überrannt, stehen sie vor den Toren Aydindrils.«
»Uns überrannt?«, fragte General Meiffert missgelaunt.
Warren hob den Kopf und sah ihn an. »Glaubt Ihr etwa, Ihr wärt in der Lage, ihnen Einhalt zu gebieten? Ich wäre nicht überrascht, wenn sie bis dahin dreieinhalb bis vier Millionen Mann zählen würden.«
Der General schnaufte übellaunig. »Wieso glaubt Ihr dann, dass wir uns an dieser Stelle einfinden sollen – mitten auf ihrer Marschroute?«
»Aufhalten könnt Ihr sie nicht, aber wenn Ihr ihnen auf ihrem Marsch nach Norden schwer genug zusetzt, könnt Ihr vielleicht verhindern, dass sie Aydindril noch in diesem Jahr erreichen. Mit einer gehörigen Portion verbissenen Widerstandes könnt Ihr ihren Vormarsch bis zum Wintereinbruch zum Stillstand bringen und damit Aydindril einen weiteren Winter in Freiheit erkaufen.«
Warren hob den Kopf und sah Kahlan in die Augen. »Im Sommer darauf, von jetzt an gerechnet also in einem Jahr, wird Aydindril fallen. Bereitet Euch darauf in jeder Euch möglichen Weise vor, aber macht Euch keine Illusionen: Die Stadt wird an die Imperiale Ordnung fallen.«
Kahlan gefror das Blut in den Adern. Es war erschütternd, diese Worte aus seinem Mund zu hören. Am liebsten hätte sie ihn geohrfeigt.
Die Vorstellung, die Imperiale Ordnung könnte ihren Angriff bis ins Herz der Midlands tragen, war entsetzlich; dass die Imperiale Ordnung den Mittelpunkt der Neuen Welt erobern könnte, war absolut nicht hinnehmbar. Kahlan wurde schlecht, als sie sich vorstellte, wie Jagang und seine blutrünstige Mörderbande durch die Korridore des Palastes der Konfessoren schlenderten.
Warren beugte sich um den General herum und sah Zedd an. »Die Burg der Zauberer muss unbedingt gesichert werden – das weißt du besser als ich. Wenn die mit der Gabe in ihren Reihen die Burg und die dort aufbewahrten gefährlichen Gegenstände der Magie in ihre Gewalt bringen, bedeutet dies das Ende aller Hoffnungen. Ich glaube, der Zeitpunkt ist gekommen, dass wir diesem Gedanken oberste Dringlichkeit einräumen müssen. Die Burg zu halten ist von entscheidender Bedeutung.«
Zedd strich sich sein widerspenstiges weißes Haar aus dem Gesicht. »Falls nötig, könnte ich die Burg ganz allein halten.«
Warren wich Zedds haselbraunen Augen aus. »Das wirst du vielleicht auch müssen«, sagte er leise. »Sobald wir diesen Ort erreicht haben« – er tippte abermals auf die Karte –, »kannst du nichts mehr für die Armee tun, Zedd, und musst dich um die Sicherung der Burg der Zauberer und der dort aufbewahrten magischen Gegenstände kümmern.«
Kahlan spürte, wie ihr das Blut heiß ins Gesicht schoss. »Du redest darüber, als sei das alles längst besiegelt – als sei dies alles vom Schicksal entschieden und wir hätten keinerlei Einfluss mehr darauf. Mit einer derart defätistischen Einstellung können wir unmöglich siegen.«
Warren lächelte, plötzlich trat seine Schüchternheit wieder zutage. »Es tut mir Leid, Mutter Konfessor, es war nicht meine Absicht, diesen Eindruck bei Euch zu erwecken. Ich trage lediglich meine Analyse der bekannten Tatsachen vor. Es wird uns nicht möglich sein, ihnen Einhalt zu gebieten – es hat keinen Sinn, uns diesbezüglich irgendwelchen Selbsttäuschungen hinzugeben. Ihre Zahl wächst mit jedem Tag. Zumal wir in Betracht ziehen müssen, dass Länder wie Anderith und Galea die Imperiale Ordnung fürchten und sich ihr eher anschließen werden, als das brutale Schicksal derer zu erleiden, die ihr eine Kapitulation verweigern.
Ich habe in der Alten Welt gelebt, als sie Stück für Stück an die Imperiale Ordnung fiel. Ich habe Jagangs Methoden genau studiert und weiß, wie geduldig dieser Mann sein kann. Er hat die gesamte Alte Welt zu einem Zeitpunkt erobert, als ein solches Kunststück völlig unvorstellbar schien. Viele Jahre lang ließ er Straßen errichten, nur um seine Pläne ausführen zu können. Wenn er sich einmal etwas vorgenommen hat, lässt er nie wieder davon ab. Manchmal lässt er sich durch eine Provokation oder Demütigung zu übereilten Handlungen verleiten, aber er kommt stets schnell wieder zur Besinnung. Und zwar deswegen, weil er ein Ziel hat, das ihm wichtiger ist als seine eigene Person.
Über einen entscheidenden Punkt müsst Ihr Euch, was Jagang betrifft, im Klaren sein; es ist das Wichtigste, das ich Euch über diesen Mann erzählen kann: Er ist von ganzem Herzen überzeugt, das Richtige zu tun. Er sonnt sich im Ruhm des Sieges und der Eroberung, ganz ohne Frage, aber seine inbrünstigste Freude ist es, derjenige zu sein, der den Menschen, die in seinen Augen Heiden sind, das zu bringen, was er für Gerechtigkeit hält. Seiner Ansicht nach können sich die Menschen nur dann ethisch weiterentwickeln, wenn man sie samt und sonders der moralischen Autorität der Imperialen Ordnung unterstellt.«
»Das ist doch Unsinn«, protestierte Kahlan.
»So denkt Ihr vielleicht, er dagegen ist ehrlich davon überzeugt, dem höheren Wohl der Menschheit zu dienen. Das ist sein frommer Glaube. Für ihn und seinesgleichen ist das eine heilige, naturgegebene Wahrheit.«
»Er glaubt allen Ernstes, dass Mord, Vergewaltigung und Sklaverei etwas mit Gerechtigkeit zu tun haben?«, fragte General Meiffert. »Dann muss er den Verstand verloren haben.«
»Er ist unter den Priestern der Bruderschaft des Ordens aufgewachsen.« Warren hob einen Finger, um sicher zu gehen, dass alle verstanden, was er sagen wollte. »Er ist der festen Überzeugung, dass all diese Dinge, und sogar noch mehr, völlig gerechtfertigt sind. Er ist überzeugt, dass nur die nächste Welt zählt, weil wir dort im ewigen Licht des Schöpfers stehen werden. Es ist der Glaube des Ordens, dass man sich diesen Lohn in der nächsten Welt verdient, indem man seinen Mitmenschen in dieser Welt Opfer bringt. Alle, die sich dieser Erkenntnis verweigern – also wir –, müssen entweder gezwungen werden, sich den Methoden des Ordens zu unterwerfen, oder eben sterben.«
»Dann betrachtet er es also als seine heilige Pflicht«, sagte General Meiffert, »uns zu vernichten. Er ist nicht in erster Linie auf Kriegsbeute aus, sondern will seine abwegige Vision von der Errettung der Menschheit verwirklichen.«
»So ist es.«
»Also schön«, seufzte Kahlan. »Was wird dieser heilige Mann der Gerechtigkeit deiner Meinung nach also tun?«
»Ich denke, im Wesentlichen hat er zwei Möglichkeiten. Wenn er die Neue Welt erobern und die gesamte Menschheit unter der Herrschaft des Ordens vereinen will, muss er unbedingt zwei entscheidende Orte einnehmen: Aydindril, weil es der Sitz der Macht in den Midlands ist, und den Palast des Volkes in D’Hara, weil das d’Haranische Volk von dort aus regiert wird. Fallen diese beiden Orte, bricht alles andere in sich zusammen. Beide Möglichkeiten standen ihm offen; jetzt hat Kaiser Jagang seine Entscheidung getroffen, was als erstes fallen soll.
Die Imperiale Ordnung hat es auf Aydindril abgesehen, um die Midlands zu spalten. Warum sonst sollte sie nach Norden marschieren? Wie ließe sich ein Feind besser besiegen, als ihn in zwei Hälften aufzuspalten? Hat sie Aydindril erst eingenommen, wird sie ihr Schwert gegen das isolierte D’Hara erheben. Wie ließe sich ein Feind besser demoralisieren, als ihm zuerst sein Herz herauszureißen?
Ich will damit nicht behaupten, dies ist schicksalhaft vorherbestimmt, ich erkläre Euch nur, wie die Imperiale Ordnung ihr schauerliches Werk versieht. Zu denselben Schlüssen war auch Richard bereits gekommen. Wenn man davon ausgeht, dass wir realistischerweise nicht darauf hoffen können, ihnen Einhalt zu gebieten, halte ich es nur für klug, der Wirklichkeit ins Auge zu sehen, so wie sie ist, meint Ihr nicht auch?«
Kahlan ließ den Blick auf die Karte sinken. »Ich denke, in der finstersten Stunde dürfen wir nicht den Glauben an uns selbst verlieren. Ich habe nicht die Absicht, das D’Haranische Reich der Imperialen Ordnung kampflos abzutreten. Wir müssen ihnen so wirkungsvoll wie möglich zusetzen, bis wir den Spieß herumdrehen können.«
»Die Mutter Konfessor hat Recht«, beharrte Zedd mit leisem Nachdruck. »Der letzte große Krieg, in dem ich in meiner Jugendzeit kämpfte, schien eine Zeit lang gleichermaßen aussichtslos. Und doch haben wir gesiegt und die Eindringlinge wieder dorthin zurückgejagt, woher sie gekommen waren.«
Keiner der d’Haranischen Offiziere sprach ein Wort, denn damals waren diese Eindringlinge D’Haraner gewesen.
»Aber jetzt liegen die Dinge anders. Der Krieg damals war uns von einem böswilligen Herrscher aufgezwungen worden.« Zedd sah General Meiffert, Captain Zimmer und den anderen d’Haranischen Offizieren in die Augen. »In jedem Krieg gibt es auf beiden Seiten sowohl gute als auch schlechte Menschen.
Als der frisch ernannte Lord Rahl hat Richard diesen guten Menschen Gelegenheit gegeben sich zu bewähren.
Wir müssen uns in dieser Auseinandersetzung unbedingt durchsetzen. So schwer es zurzeit auch sein mag, das zu glauben, auch in der Alten Welt gibt es rechtschaffene Menschen, die weder unter die Stiefel der Imperialen Ordnung geraten noch einen Krieg um die Ziele des Ordens vom Zaun brechen wollen. Nichtsdestoweniger müssen wir ihnen Einhalt gebieten.«
»Und wie«, wandte Kahlan ein und zeigte dabei auf die vor Warren liegende Karte, »wird Jagang deiner Meinung nach diesen Krieg vom Zaun brechen wollen?«
Warren tippte abermals auf die Karte, auf die Gegend südlich von Aydindril. »Da ich Jagang und seine Methoden kenne, mit denen er seine Widersacher unterwirft, glaube ich, dass er im Großen und Ganzen an seinem Plan festhalten wird. Er hat ein Ziel, und das wird er auch weiterhin mit aller Verbissenheit verfolgen. Bislang haben wir ihm nichts entgegengesetzt, das er nicht sein ganzes Leben lang auch schon von anderen Gegnern kennt. In Anbetracht dieser Erfahrung wird er diesen Krieg, da bin ich ganz sicher, für wenig außergewöhnlich halten. Ich will unsere Leistung nicht schmälern – jeder Krieg hat seine Überraschungen, und wir haben ihm ein paar überaus unangenehme beschert. Aber ich möchte behaupten, dass er im Großen und Ganzen so verläuft wie von ihm erwartet.
Ausgehend von ihrem üblichen Marschtempo sowie der Tatsache, dass Ihr der Imperialen Ordnung zusetzt, wird sie den ganzen Sommer benötigen, um bis zu jener Stelle vorzurücken, die ich Euch gezeigt habe. Normalerweise marschiert Jagang stets langsam, wenn auch mit unaufhaltsamer Macht. Er wird einfach genügend Soldaten einmarschieren lassen, um jeden Widerstand zerschlagen zu können, denn er spürt, je länger er sich Zeit lässt, bis zu seinen Feinden vorzudringen, desto mehr Zeit haben sie, aus Angst vor ihm zu zittern. Wenn er dann schließlich kommt, hat die quälend lange Wartezeit seine Feinde bereits zermürbt.
Wenn Ihr Eure Truppen dort, wo ich es Euch gezeigt habe, aufmarschieren lasst, werdet Ihr Aydindril den nächsten Winter über schützen können, da Jagang gewillt sein wird, einen günstigen Zeitpunkt abzuwarten. Er hat lernen müssen, wie beschwerlich die Winter in der Neuen Welt sind, und wird nicht ohne Not auf einen Winterfeldzug drängen. Im Sommer aber, wenn sie sich wie jetzt wieder in Marsch setzen, wird Aydindril fallen – ob Ihr Euch nun der Wucht der Hauptstreitmacht entgegenstellt oder nicht. Wenn sie gegen Aydindril marschieren, müssen wir die Burg der Zauberer unbedingt halten. Mehr können wir nicht tun.«
Im Raum herrschte Schweigen. Das Feuer war längst ausgegangen. Warren und Verna hatten bereits gepackt und waren aufbruchbereit, wie auch der größte Teil der übrigen Armee. Warren und Verna waren im Begriff, ihr Zuhause zu verlieren. Kahlan warf einen Blick zur Seite und verweilte kurz auf den Vorhängen, die sie vor langer Zeit für sie genäht hatte. Die Hochzeit war kaum noch mehr als eine blasse Erinnerung.
Ihre eigene Hochzeit dagegen schien nicht mehr zu sein als ein unwirklicher Traum. Jedesmal, wenn sie aufwachte, kam ihr Richard vor wie ein Gespenst. Außer diesem den Verstand betäubenden, unerbittlichen und endlosen Krieg schien nichts zu existieren. Manchmal, ein paar flüchtige Augenblicke lang, glaubte sie, dass er am Ende nur ein Traum war, in Wirklichkeit gar nicht existiert haben konnte und dass ihr glückliches Zuhause in jenem Sommer vor so langer Zeit nichts als Einbildung war. Diese Augenblicke des Zweifelns machten ihr mehr Angst als Jagangs Armee.
»Warren«, fragte Kahlan mit leiser Stimme, »was geschieht danach? Was wird deiner Meinung nach im nächsten Sommer passieren, wenn sie Aydindril erobert haben?«
Warren zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Vielleicht begnügt sich Jagang damit, Aydindril eine Weile zu verdauen, um die Midlands ganz in seine Gewalt zu bringen. Er glaubt, es sei seine Pflicht dem Schöpfer gegenüber, die gesamte Menschheit unter der Imperialen Ordnung zu vereinen. Früher oder später wird er nach D’Hara weiterziehen.«
Schließlich richtete Kahlan ihre Aufmerksamkeit auf Captain Zimmer.
»Macht Eure Männer bereit, Captain. Während wir unsere Vorräte und alles andere auf den Weg bringen, könnt Ihr Jagang ebenso gut noch einmal daran erinnern, dass unsere Klingen nach wie vor gewetzt sind.«
Grinsend schlug der Captain sich mit der Faust aufs Herz.
Kahlan ließ ihren Blick über alle im Raum Anwesenden wandern.
»Ich bin fest entschlossen, die Imperiale Ordnung für jeden Zoll Land, den sie erobert, bluten zu lassen. Wenn das alles ist, was ich tun kann, dann werde ich genau dies tun, bis zu meinem allerletzten Atemzug.«