39

Kahlan zwängte einen Stiefel in den Steigbügel, ergriff den Knauf und zog sich schwungvoll in den Sattel. Das kalte Leder knarzte, als sie sich zur Seite beugte und Verna eine Hand entgegenstreckte, um ihr heraufzuhelfen. Kaum hatte sich die Prälatin dicht hinter Kahlan geschmiegt, reichten ihr zwei Schwestern behutsam den schweren Holzeimer hinauf. Cara und Schwester Philippa saßen bereits auf ihrem Pferd bereit; die Schwester balancierte den Eimer auf den Oberschenkeln.

»Schafft die Kinder über den Pass«, befahl Verna.

Schwester Dulcinias grauer Haarschopf bewegte sich heftig auf und ab. »Ich werde mich darum kümmern, Prälatin.«

»Was immer Ihr noch bis zum Aufbruch der Mutter Konfessor und mir an zusätzlichem Glasstaub fertigstellen könnt, solltet ihr zur Sicherheit noch in den Wind streuen, anschließend verteilt ihr euch hinter unseren Linien und fasst mit an, falls der Imperialen Ordnung ein Durchbruch gelingen sollte. Sollten wir keinen Erfolg haben, müssen die Schwestern alles tun, um den Feind aufzuhalten, während sich so viele wie möglich über den Pass in Sicherheit bringen.«

Schwester Dulcinia versicherte abermals, die Befehle der Prälatin ausführen zu wollen.

Schweigend wartete alles einige Minuten, um Zedd den nötigen Vorsprung zu geben, sodass er mit seinen Anweisungen zu Warren gelangen konnte. Alles schien gesagt. Kahlan konzentrierte sich lieber auf das, was sie zu tun hatte, statt sich den Kopf zu zerbrechen, ob es gelingen würde. In einem entlegenen Winkel ihres Verstandes jedoch wusste sie, wie unausgereift solche im letzten Augenblick entwickelten Schlachtpläne bekanntermaßen waren.

Als sie ihrer Einschätzung nach solange gewartet hatten, wie sie dies riskieren durften, gab Kahlan Cara das Zeichen zum Aufbruch. Die beiden wechselten einen letzten Blick, und Cara wünschte ihr mit einem kurzen Lächeln viel Glück – dann jagte sie mit Schwester Philippa davon, die einen Arm um die Hüfte der Mord-Sith geschlungen hatte und mit ihrer anderen Hand den Eimer auf dem Oberschenkel festhielt.

Noch während das Getrappel der Hufe von Caras Pferd allmählich in der Nacht verklang, nahm Kahlan in der Ferne zum allerersten Mal bewusst die vereinten Schreie hunderttausender Soldaten der Imperialen Ordnung wahr. Als ihr Angriff näher rückte, verschmolzen die unzähligen Stimmen zu einem einzigen, unablässigen Gebrüll. Fast klang es wie das Stöhnen eines unheimlichen Windes, der durch die fangzahnähnlichen Felsen einer Bergschlucht weht. Ihr Pferd schnaubte und scharrte auf dem gefrorenen Boden. Das entsetzliche, monotone Summen ließ Kahlans Puls noch schneller schlagen. Am liebsten wäre sie auf und davon gerast, bevor die Männer zu nahe kamen, sie musste jedoch warten, bis der Wind den von Cara und Schwester Philippa freigesetzten Glasstaub fortgetragen hatte.

»Ich wünschte, wir könnten Magie zu unserem Schutz einsetzen«, meinte Verna gefasst, fast so, als wollte sie auf Kahlans Gedanken antworten.

Kahlan nickte, sie hatte kaum gehört, was die Frau sagte. Verna plapperte einfach drauflos, was ihr gerade in den Sinn kam, nur um nicht dasitzen und darauf lauschen zu müssen, wie der Feind immer näher rückte.

Die bittere Kälte längst vergessen, saß Kahlan vollkommen still, während ihr das Herz bis in die Ohren schlug, starrte hinaus in die leere Nacht und versuchte, sich bis in alle Einzelheiten auszumalen, was sie gleich tun musste, versuchte, alles vorab in Gedanken durchzuspielen, um nicht von unabwägbaren Risiken überrascht zu werden und erst dann entscheiden zu können, was zu tun war. Besser, man kam, sofern man die Möglichkeit hatte, den Ereignissen zuvor, als auf sie zu reagieren.

Bewegungslos auf ihrem Pferd sitzend, ließ sie den Zorn in sich hochkochen; Zorn machte einen zu einem besseren Krieger als Angst.

Diesen Zorn speiste Kahlan mit den Bildern von all den entsetzlichen Dingen, die sie die Imperiale Ordnung der Bevölkerung der Midlands hatte antun sehen. In Gedanken ließ sie all die Toten, die sie gesehen hatte, an sich vorüberziehen, so als träten sie vor die Mutter Konfessor hin, um mit stummer Zunge um Vergeltung zu flehen. Sie rief sich all die Frauen ins Gedächtnis, die ihre ermordeten Kinder, Ehemänner, Geschwister, Mütter und Väter beklagten. Sie erinnerte sich, wie bärenstarke Männer in hilfloser Seelenqual das sinnlose Abschlachten ihrer Freunde und Lieben mitansehen mussten. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie diese Männer, Frauen und Kinder durch die Hände eines Volkes bestraft wurden, dem sie nicht das Geringste angetan hatten.

Die Imperiale Ordnung war nichts weiter als eine Bande von gefühllosen Mördern, sie verdienten keine Gnade. Und man würde ihnen keine gewähren!

Sie dachte an Richard, der sich in der Hand dieses Feindes befand, und ließ sich ihr Versprechen auf der Zunge zergehen, wenn es sein musste, jeden Einzelnen von ihnen zu töten, bis sie Richard zurückbekam.

»Es ist soweit«, sagt Kahlan zähneknirschend. Ohne über die Schulter zu schauen, fragte sie: »Seid Ihr bereit?«

»Ich bin bereit. Lasst Euch von nichts aufhalten, sonst werden wir am Ende auch noch ein Opfer des Staubes. Unsere einzige Chance ist ein steter Luftzug über unseren Köpfen, der das Glas von uns fort trägt. Wir sind erst in Sicherheit, wenn wir auf der anderen Seite angelangt sind und ich alles verstreut habe. Bis dahin dürfte sich unter den Truppen der Imperialen Ordnung massenhafte Verwirrung, wenn nicht gar vollständige Panik ausgebreitet haben.«

Kahlan nickte. »Haltet Euch fest, es geht los.« Das Pferd, vermutlich wegen der immer näher kommenden Schreie bereits in höchster Erregung, schoss viel zu schnell davon, so dass Verna beinahe abgeworfen wurde. Kahlan langte rechtzeitig nach hinten, bekam Vernas Ärmel zu fassen und hielt sie fest. Während sie dahinjagten, hatte Verna alle Mühe, ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen; der Eimer drohte zu kippen, Verna gelang es jedoch, ihn wieder gerade zu halten. Glücklicherweise ging nichts verloren.

Der kräftige Wallach raste ihrem Kommando gehorchend davon, doch das Gewicht der beiden Reiter machte ihn scheu und unberechenbar. Er war gut trainiert und hatte oft genug Schlachten mitgemacht; die immer lauter werdenden Schlachtrufe machten ihn vermutlich deshalb nervös, weil er genau wusste, was sie bedeuteten. Kahlan wusste nur, er war stark und schnell, und bei dem, was sie vorhatten, bedeutete Schnelligkeit Überleben.

Kahlans Herz schlug im Rhythmus des galoppierenden Pferdes, als sie durch das nachtschwarze Tal donnerten. Der Feind war mittlerweile sehr viel näher als bei Caras Ritt quer durch das Tal. Manchmal übertönten die Hufschläge des Pferdes das Schlachtgebrüll der unzähligen feindlichen Soldaten zu ihrer Linken.

Beängstigende Erinnerungssplitter von schlagenden Fäusten und Stiefeltritten kamen ihr ungebeten in den Sinn, als sie Männer blutrünstig brüllend im Dunkeln auf sie zukommen hörte. Noch nie war sie sich ihrer Verletzbarkeit so bewusst gewesen. Kahlan verwandelte die angstbesetzten Erinnerungen in Wut über die Greueltaten dieser Rohlinge, die in die Midlands eingefallen waren und ihr Volk abschlachteten. Jeder Einzelne von ihnen sollte leiden, jedem Einzelnen von ihnen wünschte sie den Tod.

Es war unmöglich, genau zu orten, wie weit der Feind bereits vorgerückt war, oder, mit dem Mondlicht im Rücken, ihre eigene Richtung zu bestimmen. Kahlan befürchtete, den Abstand zu knapp bemessen zu haben und sich unerwartet einer Mauer aus blutrünstigen Soldaten gegenüberzusehen. Sie wollte ganz nahe heran, um innen den blendenden Staub unmittelbar ins Gesicht zu streuen, zweifellos versprach das die größten Aussichten auf Erfolg, wenn sie ihren Angriff zurückschlagen wollten. Sie widerstand dem Drang, ihr Pferd nach rechts zu lenken, fort von den feindlichen Soldaten.

Plötzlich ließ ein grelles, gelbes Licht die Nacht erglühen. Die eben noch grauen Wolken erstrahlten leuchtend gelborange; weißer Schnee loderte in grellbunten Farben. Ein Furcht einflößendes Dröhnen vibrierte tief in ihrem Brustkorb.

Einhundert Fuß vor ihr und vielleicht zehn Fuß über dem Boden schoss ein flüssiges, gelbblaues Licht sich überschlagend quer über ihren Pfad, das, einen Schweif aus wallendem, schwarzem Qualm hinter sich herziehend, Feuer in sämigen Tropfen verlor. Der brodelnde Ball aus Zaubererfeuer ließ den Boden unter sich taghell erglühen. Obwohl nicht auf sie gerichtet, war das Geräusch allein schlimm genug, dass Kahlan am liebsten verängstigt zurückgeschreckt wäre.

Sie wusste genug über Zaubererfeuer und wie hartnäckig es auf der Haut haftete, um mehr als vorsichtig darauf zu reagieren. Hatte einen dieses lebendige Feuer erst einmal gestreift, ließ es sich nicht mehr entfernen. Oft fraß sich schon ein einziger Tropfen durch das Fleisch bis auf die Knochen. Kein Mensch war mutig oder dumm genug, sich nicht davor zu fürchten. Nur wenige, die je mit einer solchen durch Zauberei erzeugten Flamme in Berührung gekommen waren, hatten überlebt, um von dieser grauenhaften Erfahrung zu berichten; und wer es überlebte, den verfolgte seine Besessenheit nach Rache bis an sein Lebensende. Schließlich erblickte Kahlan im Schein dieser grellen, quer über das Tal schießenden Flamme die ihre Schlachtrufe herausbrüllende, ihre Schwerter, Morgensterne, Langspieße und Lanzen in die Luft reckende Horde. All diese Männer, die wild, Angst einflößend und voller Ingrimm aus der Nacht hervorstürzten, waren ergriffen von einer völlig enthemmten Lust auf diesen Kampf. Jetzt, im Schein des Mondes, erblickte Kahlan zum allerersten Mal, seit sie sich der Armee angeschlossen hatte, die feindlichen Truppen in ihrem vollen Ausmaß. Die Berichte hatten nicht gelogen, und doch waren sie der Wirklichkeit dieses Anblicks nicht gerecht geworden. Die Zahl der Soldaten überstieg jedes ihr bekannte Maß, und ihr Begriffsvermögen versagte. Augen und Mund aufgerissen, entfuhr ihr ein ehrfürchtiges Stöhnen.

Erschrocken stellte Kahlan fest, dass der Feind viel näher war als erwartet. Überall auf diesem weiten Soldatenmeer funkelten zum Legen von Bränden mitgeführte Fackeln, so als spiegelte sich der Schein des Mondes auf einem endlosen, das gesamte Tal überflutenden Meer. Am Horizont verschmolz das Mondlichtschimmern auf den zahllosen Waffen zu einer einzigen horizontalen Fläche, auf der sie beinahe erwartete, Schiffe segeln zu sehen.

Die in Wellen verlaufende erste Frontlinie, die von Schilden und Speeren nur so strotzte, drohte ihr den Weg abzuschneiden. Kahlan drückte ihrem Pferd die rechte Ferse in die Flanke, um es ein wenig mehr nach rechts zu lenken und der ersten Angriffswelle der Soldaten auszuweichen. Nachdem sie seinen Lauf korrigiert hatte, trommelte sie ihre Fersen in die Flanke des Tieres und trieb es weiter.

Dann plötzlich, als die ersten Pfeile vorübersirrten und Speere sich unmittelbar vor ihr mit dumpfem Geräusch ins Erdreich bohrten, wurde ihr schlagartig bewusst, dass der Feind im Licht des Zaubererfeuers auch sie erkennen konnte.

Die Kugel des Zaubererfeuers, die sie den Feinden offenbart hatte, verschwand heulend und zischend in der Dunkelheit und ließ sie, zehntausende von Soldaten, über deren Köpfe sie hinwegsegelte, auf einen Schlag beleuchtend, im Schatten zurück. Weit in der Ferne, im Rücken der angreifenden Horden, ging das Feuer schließlich krachend zu Boden und löste inmitten der Kavallerie eine Feuersbrunst aus. Oft hielt man die Reiter zurück, damit sie, sobald ihre Infanterie auf die d’Haranischen Linien traf, zum Sturmangriff bereit waren. Ferne Todesschreie von Mensch und Tier erhoben sich in die Nacht.

Ein Pfeil prallte von ihrem Beinpanzer ab, andere sirrten vorüber. Einer bohrte sich unmittelbar unter ihrem Bauch ins Sattelleder, als sie sich über den Widerrist des galoppierenden Pferdes beugte.

»Wieso sind sie nicht geblendet?«, rief Kahlan über ihre Schulter.

Sie sah, wie sich hinter ihnen eine Wolke bildete, die sich kaum vom Staub des galoppierenden Pferdes unterschied; Verena presste den Eimer an ihre Oberschenkel und kippte mal mehr, mal weniger in Richtung der feindlichen Linien, um die herausströmende Menge so zu dosieren, dass sich ein gleichmäßiger Schweif ergab. Obwohl Cara längst vorüber war, zeigte sich bei den Soldaten keine unheilvolle Wirkung.

»Es dauert eine Weile, bis er wirkt«, rief Verna in Kahlans Ohr. »Sie müssen erst ein wenig blinzeln.«

Unmittelbar hinter ihnen raste ein Feuerball vorbei. Feurige Tropfen klatschten in den Schnee, zerspritzten beim Aufprall und zischten wie Regen auf dem heißen Steinkranz um ein Lagerfeuer. Der Panik nahe, raste das Pferd schnaubend weiter. Kahlan beugte sich über seinen Widerrist und strich ihm beruhigend über den Hals, um es daran zu erinnern, dass es nicht allein war.

Kahlan ließ ihren Blick über die anrückenden Frontlinien des Feindes schweifen, während sie vor ihnen herraste, und stellte fest, dass die Männer kaum blinzelten. Ihre Augen waren im Eifer der bevorstehenden Schlacht weit aufgerissen.

Das Zaubererfeuer, das das Pferd so in Angst und Schrecken versetzt hatte, schlug explodierend eine Schneise in die feindlichen Reihen. Flüssiges Feuer ergoss sich über die Masse der Soldaten und löste ein schrilles Getöse entsetzlicher Schreie aus, brennende Soldaten stürzten scheppernd gegen ihre Kameraden und bespritzten auch sie mit Feuer, wodurch die Panik noch weiter um sich griff. Wieder andere Männer traten, kopflos durch die Nacht rennend, auf die am Boden Liegenden, nur um gleich darauf selbst den Stand zu verlieren und hinzuschlagen.

Wieder dröhnte eine Feuerkugel vorbei, ging krachend nieder und verspritzte ihre Flammen wie ein geborstener Damm sein Wasser. Die Explosion war so gewaltig, dass die Druckwelle Soldaten fortschleuderte und sie in einer brennenden Flut mitriss.

Ein gewaltiger Feuerball brach zwischen den feindlichen Linien unweit vor Kahlan hervor und hielt auf die d’Haranische Front zu. Sofort näherte sich von rechts dröhnend eine kleine blaue Feuerkugel und prallte mitten in der Luft gegen den trägen, gelben Flammenball. Der Zusammenprall ließ um sie herum einen Feuerschauer niedergehen, als sie die Stelle passierte. Erschrocken verriss Kahlan die Zügel nach links, als ein dicker Klumpen des herabstürzenden Feuers unmittelbar vor ihnen zu Boden krachte und seine Flammen ringsum verteilte.

Sie verfehlten das Feuer um Haaresbreite, mussten aber feststellen, dass sie sich dem Feind in beängstigendem Tempo näherten. Kahlan konnte ihnen bereits die ersten obszönen Flüche von den Lippen ablesen. Sie gab dem völlig verängstigten Tier die Sporen und drängte es nach rechts, woraufhin es ein wenig zur Seite abdrehte, wenn auch nicht genug, um zu verhindern, dass sie schräg in die feindlichen Linien hineingaloppierten.

Glühende Feuerpartikel gingen sowohl über den Soldaten als auch im offenen Gelände nieder. Von Panik ergriffen raste das Pferd dahin, es war viel zu verängstigt, um auf Kahlans Kommandos zu reagieren. Der Gestank brennenden Leders schürte die Angst des Tieres noch zusätzlich. Sie schaute nach unten und erblickte einen brennenden Feuerpartikel auf ihrer ledernen Beinmanschette. Die kleine, aber giftig lodernde Flamme flackerte wild im Wind. Kahlan traute sich nicht, den glühenden Feuertropfen fortzuwischen, aus Angst, er könnte an ihrer Hand kleben bleiben. Die Vorstellung, wie er sich schließlich brennend durch das Leder fraß, machte ihr Angst. Sollte es dazu kommen, würde sie die Schmerzen ertragen müssen; sie hatte keine andere Wahl.

Verna hatte von alldem nichts mitbekommen; den Körper zur Seite gedreht, ließ sie noch immer den Glasstaub aus dem Eimer herausrieseln. Kahlan konnte sehen, wie die Wolke hinter ihnen fortgetragen wurde. Die lange Staubspur krümmte sich, vom Wind getragen, bis hin zu den feindlichen Soldaten, vorbei an den ersten feindlichen Linien, und verlor sich inmitten der Soldatenmassen in der Dunkelheit. Weiter hinten in den Reihen der Ordenstruppen beschienen Fackeln die Staubwolke, als diese sich mit dem vom gefrorenen Boden aufgewirbelten Staub vermengte.

Ein Pfeil streifte das Pferd an der Schulter und wurde nach oben abgelenkt. Eine vorwärts drängende Masse von Männern sah sie kommen und kam unbeherrscht und wie von Sinnen angerannt, um ihr den Weg zu versperren. Kahlan zerrte an den Zügeln und versuchte, den Kopf des kräftigen Pferdes nach rechts zu verreißen. Das Tier, gepackt von wildem Entsetzen, galoppierte geradeaus weiter. Mit dem Gefühl wachsender Hilflosigkeit versuchte sie es zum Abschwenken zu bewegen. Es half nichts – sie hielten genau auf eine Wand aus Männern zu.

»Wir kommen zu nah!«, brüllte Verna ihr ins Ohr.

Kahlan war zu beschäftigt, um zu antworten. Ihr Arm zitterte vor Anstrengung, als sie an den Zügeln zerrte und versuchte, den Kopf des Pferdes nach rechts hinüber zu lenken, doch das Pferd hatte sich in die Trense verbissen und war sehr viel kräftiger als sie. Schweiß rann ihr in den Nacken. Sie streckte ihr rechtes Bein nach hinten und bohrte dem Tier ihren Absatz in die Flanke, um es zu lenken. Die Männer vor ihnen schwenkten ihre Langspieße und Schwerter, um auf sie loszugehen. Kämpfen war eine Sache, etwas völlig anderes war es, ohne jede Möglichkeit der Einflussnahme mitansehen zu müssen, wie das Schicksal seinen Lauf nahm.

»Kahlan, was tut Ihr da?«

Mit dem Druck ihres Absatzes unmittelbar vor seinem rechten Hinterbein zwang sie das Pferd schließlich herum, doch es reichte nicht, sie würde das durchgegangene Pferd nicht von seinem Kurs abbringen können. Der Feind glich einem stählernen Stachelschwein, das auf sie zugeflogen kam.

Drei Schritte entfernt senkte das Pferd seinen Kopf.

»Guter Junge!«, schrie sie.

Vielleicht hatte es eine Chance, über die Langspieße hinwegzusetzen. Kahlan nahm ihr Gewicht aus dem Sattel und beugte sich mit durchgedrücktem Rücken nach vorn. Die Arme angewinkelt, legte sie ihre Hände zu beiden Seiten neben seinen Hals und ließ die Zügel schießen. Mit den Unterschenkeln wahrte sie den Druck, doch davon abgesehen ließ sie ihm die Freiheit, die es brauchte.

Sie wusste nicht, ob es mit dem zusätzlichen Gewicht funktionieren würde. Wenn nur die Langspieße kürzer wären! Kahlan schrie Verna zu, sie solle sich festhalten.

Plötzlich zischte ein tief fliegendes Zaubererfeuer genau vor ihnen vorüber. Die Männer, die in einer geschlossenen Reihe herangestürmt waren, um Kahlan den Weg zu versperren, warfen sich zu Boden; die gesamte Front vor ihnen brach zusammen. Das Feuer segelte heulend unmittelbar über ihre Köpfe hinweg, um schließlich ein Stück weit links neben Kahlans Bein einzuschlagen. Das Gebrüll von mehr als tausend Mann klang ihr in den Ohren.

Das Pferd streckte seinen gesenkten Kopf und zog die Fesselgelenke unter seinen Körper. Im allerletzten Augenblick verkürzte sich sein Hals, und sein Kopf kam hoch, als es sich mit seinen kraftvollen Hinterbeinen nach vorne schnellte und absprang. Sein Rücken wurde rund, als sie über die erste Angriffsreihe aus Soldaten hinwegsegelten. Verna, den Arm wie einen Haken um Kahlans Hüfte geschlungen, stieß einen Schrei aus. Sie landeten inmitten der Soldaten, die sich flach zu Boden geworfen hatten. Das Gewicht in den Steigbügeln, federte Kahlan den Aufprall mit den Beinen ab – Verna konnte das nicht. Wegen des zusätzlichen Gewichts geriet das Pferd bei der Landung um ein Haar ins Straucheln, fing sich jedoch wieder und raste weiter. Endlich hatten sie die Soldaten der Imperialen Ordnung hinter sich gelassen.

»Was fällt Euch ein!«, schrie Verna. »Macht so was nicht, sonst kann ich den Staub nicht gleichmäßig verteilen!«

»Tut mir Leid«, rief Kahlan über ihre Schulter.

Trotz des beißend kalten Windes auf ihrem Gesicht lief ihr der Schweiß aus den Haaren. Die Soldaten der Imperialen Ordnung schienen links hinter ihnen zurückzufallen. Eine Woge überschäumender Erleichterung überkam sie, als sie sah, dass sie die Ausbuchtung der vordersten Angriffsreihe der Imperialen Ordnung hinter sich gelassen hatten.

Weit hinter ihnen erhellte ein Feuersturm die Nacht. Zedd und Warren lieferten ihnen ein gutes, altmodisches Feuergefecht, wie Zedd sich ausgedrückt hatte. Es war eine beängstigende Demonstration, wenn auch kaum ausreichend, um einen so übermächtigen Feind wie die Imperiale Ordnung aufzuhalten. Als die mit der Gabe Gesegneten des Ordens an den Schauplatz des Geschehens eilten und in aller Eile ihre Schilde errichteten, schränkte dies Tod und Zerstörung ein, doch da hatten die beiden Zauberer Kahlan und Verna längst die Zeit verschafft, die sie benötigten.

Im Herangaloppieren hörte Kahlan, wie Cara ihr Pferd anhalten ließ.

Da Caras Pferd ihnen den Weg verstellte, blieb das mit schaumigem Schweiß bedeckte Pferd augenblicklich stehen. Das Tier war völlig ausgelaugt, genau wie Kahlan. Als sie neben Cara und Schwester Philippa abstiegen, ließ Verna den leeren Eimer auf den Boden fallen. Kahlan war froh, dass es dunkel genug war, damit die anderen nicht sehen konnten, wie ihre Beine zitterten. Erleichtert stellte sie fest, dass der Feuertropfen verglüht war, bevor er sich durchs Leder hatte brennen können.

Die vier beobachteten, wie die Nacht in einem flammenden Inferno versank; zwar explodierten die meisten Feuerbälle an den magischen Schilden, doch wer zu nahe stand, dem fügten sie immer noch beträchtlichen Schaden zu. Zedd und Warren schleuderten einen sich überschlagenden Feuerball nach dem anderen; die Schreie der Soldaten waren entlang der gesamten Front zu hören. Das Feuer wurde erwidert und brannte eine Schneise des Todes in die d’Haranischen Reihen, doch mittlerweile errichteten auch hier die Schwestern ihre Schilde.

Die gewaltige Armee war noch immer im Vormarsch begriffen. Die tödlichen Flammen bremsten ihren Vormarsch bloß bedingt und rissen ihre geordnete Angriffsformation nur teilweise auseinander.

Schließlich bekamen die mit der Gabe auf beiden Seiten das Geschehen in den Griff, und es gelang ihnen, ihre feurigen Attacken gegenseitig aufzuheben. Kahlan war sich darüber im Klaren, dass die vordersten Reihen der D’Haraner nicht darauf hoffen konnten, den heranstürmenden Massen der Ordenstruppen standzuhalten; sie konnten nicht einmal darauf hoffen, ihren Vormarsch abzubremsen. Im Schein des Mondes konnte sie erkennen, wie sie begannen, ihre Stellungen aufzugeben.

»Wieso funktioniert es nicht?«, fragte Kahlan leise, halb bei sich. Sie beugte sich hinüber zu Verna. »Seid Ihr sicher, dass Euch bei der Herstellung kein Fehler unterlaufen ist?«

Verna, die das ungestüme Anrennen des Feindes, noch dazu im Getöse der Schlachtrufe, beobachtete, schien die Frage überhört zu haben. Kahlan sah nach ihrem Schwert, doch gleichzeitig wurde ihr klar, wie sinnlos der Versuch zu kämpfen wäre. Sie spürte Richards Schwert auf ihrem Rücken und spielte mit dem Gedanken es zu ziehen, entschied aber, dass es besser wäre, die Flucht zu ergreifen. Sie drängte Verna zu ihrem völlig verausgabten Pferd, während Cara dasselbe bei Schwester Philippa tat.

Bevor sie den Fuß in den Steigbügel stellen konnte, bemerkte Kahlan, wie die Imperiale Ordnung langsamer wurde. Sie sah Männer straucheln; einige hatten die Arme blindlings tastend ausgestreckt, andere stürzten hin.

Verna zeigte. »Seht doch!«

Ein endloses Stöhnen, hervorgerufen durch Angst und grauenhafte Schmerzen, begann sich in die Nacht zu erheben und gewann immer mehr an Heftigkeit. Männer fielen taumelnd übereinander, manche schlugen mit dem Schwert nach einem unsichtbaren Feind und verstümmelten stattdessen ihre blinden Kameraden.

Der Vormarsch an vorderster Front verlangsamte sich zum Kriechtempo. Immer mehr Soldaten drängten nach und kollidierten mit der stecken gebliebenen ersten Angriffswelle. Kavalleriepferde gerieten in Panik und warfen ihre Reiter ab. Die völlig verängstigten Pferde stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander, blind für die Soldaten, die sie niedertrampelten. Rasende Karren überschlugen sich. Bestürzung und Chaos machte sich in den feindlichen Reihen breit.

Der Vormarsch brach in sich zusammen. Stockend kam die Imperiale Ordnung zum Stillstand.

Zedd und Warren kamen angeritten und stiegen ab, beide trotz der eiskalten Nachtluft schweißgebadet. Kahlan drückte Zedds knochige Hand.

»Ihr beide habt uns da draußen den Hals gerettet.«

Zedd deutete auf Warren. »Das war er, nicht ich.«

Warren zuckte mit den Achseln. »Ich habe gesehen, in welch misslicher Lage Ihr wart.«

Staunenden Blicks verfolgten sie, wie der Armee das Augenlicht genommen wurde.

»Ihr habt es geschafft, Verna«, sagte Kahlan. »Ihr habt uns mit Eurem Glas gerettet.«

Schließlich umarmten sich Verna und Kahlan, während ihnen Tränen der Erleichterung über die Wangen liefen.

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