»Eine Vision?«, fragte Kahlan mit unverhohlenem Erstaunen.
Richard verabscheute alles, was mit Prophezeiungen zu tun hatte; sie hatten ihm stets nichts als Ärger eingebracht.
Prophezeiungen waren immer zweideutig und für gewöhnlich rätselhaft, egal, wie eindeutig sie nach außen hin erschienen. Ungeübte ließen sich leicht von ihrer oberflächlich einfachen Struktur in die Irre führen. Das gedankenlose Festhalten an der wortwörtlichen Auslegung von Prophezeiungen hatte in der Vergangenheit zu gewaltigen Unruhen geführt, angefangen von Mord bis hin zu Krieg. Wer mit Prophezeiungen befasst war, scheute infolgedessen keine Mühe, diese geheim zu halten.
Prophezeiungen bedeuteten Vorherbestimmtsein, zumindest auf den ersten Blick. Richard dagegen war der Überzeugung, dass der Mensch sein Schicksal selbst in der Hand hatte. Einmal hatte er zu ihr gesagt: »Eine Prophezeiung vermag lediglich vorherzusagen, dass morgen die Sonne aufgehen wird, aber was du mit diesem Tag anfangen wirst, kann sie dir nicht sagen. Der Vorgang, seinem Tagwerk nachzugehen, hat nichts mit der Erfüllung von Prophezeiungen zu tun, sondern mit dem Erreichen persönlicher Ziele.«
Die Hexe Shota hatte vorhergesagt, Richard und Kahlan würden einen unehelichen Sohn bekommen. Mehr als ein Mal hatte Richard nachgewiesen, dass Shotas Sicht der Zukunft wenn nicht auf verhängnisvolle Weise fehlerhaft, so doch zumindest weitaus vielschichtiger war, als Shota dies erscheinen lassen wollte. Kahlan war ebenso wenig wie Richard bereit, Shotas Vorhersage einfach hinzunehmen.
Bei einer Reihe von Gelegenheiten hatte sich Richards Ansicht über Prophezeiungen als korrekt erwiesen. Richard ignorierte die Aussage einer Prophezeiung schlicht und tat, was er glaubte tun zu müssen. Oft erfüllte sich die Prophezeiung durch sein Handeln, wenn auch auf unvorhersehbare Weise. Somit wurde die Prophezeiung gleichzeitig bewiesen und widerlegt, was nichts klärte und lediglich unterstrich, welch unergründliches Rätsel sie in Wahrheit darstellte.
Richards Großvater, Zedd, der mitgeholfen hatte, ihn unweit ihres gegenwärtigen Aufenthaltsortes großzuziehen, hatte nicht nur seine Identität als Zauberer geheim gehalten, sondern ihm zu seinem eigenen Schutz auch verschwiegen, dass er von Darken Rahl abstammte und nicht von Richard Cypher, dem Mann, der ihn geliebt hatte und bei dem er aufgewachsen war. Seinerzeit war Darken Rahl, ein Zauberer von gewaltiger Macht, der gefährliche und gewalttätige Herrscher des weit entfernten D’Hara gewesen. Die Gabe der Magie schien Richard von zwei verschiedenen Blutlinien vererbt worden. Nachdem er Darken Rahl getötet hatte, war auch die Herrschaft über D’Hara auf ihn übergegangen, ein Land, das ihm in vielerlei Hinsicht ein ebenso großes Rätsel war wie seine eigene Kraft.
Kahlan stammte aus den Midlands und war demzufolge mit Zauberern groß geworden; dennoch unterschieden sich Richards Fähigkeiten von denen aller Zauberer, die sie jemals kennen gelernt hatte. Er verfügte nicht nur über einen Aspekt der Gabe, sondern über viele, und nicht nur über eine Seite der Magie, sondern über beide: er war ein Kriegszauberer. Ein Teil seiner Ausstattung und Insignien stammte aus der Burg der Zauberer und war seit dreitausend Jahren – also seit Lebzeiten des letzten Kriegszauberers – nicht mehr getragen worden.
Mit dem allmählichen Verschwinden der Gabe bei den Menschen waren auch Zauberer selten geworden; Kahlan hatte weniger als ein Dutzend gekannt. Propheten waren überaus selten unter den Zauberern; sie wusste lediglich von der Existenz von zweien. Einer von ihnen war Richards Vorfahr, wodurch Visionen umso mehr in den Wirkungskreis seiner Gabe fielen, und das, obwohl Richard sich gegenüber Prophezeiungen immer so verhalten hatte, als seien sie Giftschlangen in seinem Bett.
Zärtlich, so als gäbe es auf der ganzen Welt nichts Kostbareres, ergriff Richard ihre Hand. »Weißt du noch, wie ich dir von den wundervollen Orten weit jenseits der Berge im Westen des Landstrichs, wo ich aufgewachsen bin, erzählt habe, die nur ich allein kenne? Von den ganz besonderen Orten, die ich dir immer zeigen wollte? Dorthin werde ich dich bringen, sobald wir in Sicherheit sind.«
»Die D’Haraner sind Euch über die Bande verbunden, Lord Rahl«, erinnerte ihn Cara, »und werden Euch mit Hilfe dieser Bande überall aufspüren können.«
»Aber unsere Feinde sind nicht über die Bande mit mir verbunden. Sie werden also nicht wissen, wo wir uns befinden.«
Diese Überlegung schien Caras Zustimmung zu finden. »Wenn niemand diesen Ort aufsucht, wird es auch keine befestigten Wege geben. Wie sollen wir den Wagen dorthin schaffen? Die Mutter Konfessor kann unmöglich zu Fuß gehen.«
»Ich werde eine Tragbahre bauen, in der wir beide sie tragen werden.«
Cara nickte nachdenklich. »Das wäre eine Möglichkeit. Wenn sonst niemand dort ist, dann seid wenigstens Ihr beide in Sicherheit.«
»Jedenfalls sicherer als hier. Ich hatte gedacht, die Menschen hier würden uns in Ruhe lassen. Ich hatte nicht erwartet, dass die Imperiale Ordnung so weit entfernt noch Unruhe stiften würde – jedenfalls nicht so schnell. Normalerweise sind diese Männer keine schlechten Kerle, aber im Augenblick sind sie im Begriff, sich in eine gefährliche Stimmung zu versetzen.«
»Diese Feiglinge haben sich unter den Rockschößen ihrer Weiber verkrochen. Vor morgen sind sie nicht zurück. Wir können der Mutter Konfessor ein wenig Ruhe gönnen und dann kurz vor Tagesanbruch aufbrechen.«
Richard warf Cara einen vielsagenden Blick zu. »Einer dieser Männer, Albert, hat einen Sohn namens Lester. Lester und sein Kumpel Tommy Lancaster haben vor einiger Zeit versucht, mich mit Pfeilen zu durchbohren, weil ich Tommy den Spaß verdorben hatte, als er jemandem gerade sehr wehtun wollte. Jetzt fehlen sowohl Tommy als auch Lester eine ganze Menge Zähne. Albert wird Lester berichten, dass wir hier sind, und kurz darauf wird es auch Tommy wissen.
Jetzt, da ihnen die Imperiale Ordnung mit ihrem Gerede von einem gerechten Krieg für eine gute Sache die Köpfe voll gequasselt hat, werden diese Männer gerne herausfinden wollen, was es heißt, ein Kriegsheld zu sein. Normalerweise sind sie nicht gewalttätig, aber so unvernünftig wie heute habe ich sie noch nie erlebt.
Sie werden sich Mut antrinken gehen. Bis dahin werden sich Tommy und Lester ihnen angeschlossen haben, und ihr Gerede, ich hätte ihnen Unrecht getan und sei zu einer Gefahr für anständige Menschen geworden, wird alle in helle Aufregung versetzen. Aufgrund ihrer zahlenmäßigen Überlegenheit werden sie schon bald erkennen, wie vorteilhaft es wäre, uns umzubringen – sie werden glauben, damit ihre Familien zu schützen und das Richtige für die Gemeinde und den Schöpfer zu tun. Aufgestachelt vom Schnaps und ihrer eigenen Großartigkeit werden sie nicht bis zum Morgen warten und noch in dieser Nacht wiederkommen. Wir müssen sofort aufbrechen.«
Cara wirkte gelassen. »Und ich sage, wir erwarten sie und machen dem Spuk ein Ende, sobald sie hier erscheinen.«
»Ein paar von ihnen werden noch ihre Freunde mitbringen, sie werden bei ihrer Rückkehr überaus zahlreich sein. Wir müssen an Kahlan denken, ich möchte nicht riskieren, dass einer von uns verletzt wird. Dadurch, dass wir gegen sie kämpfen, wäre nichts gewonnen.«
Richard streifte den uralten Waffengurt aus geprägtem Leder, an dem die mit Gold und Silber durchwirkte Scheide und das Schwert befestigt waren, über seinen Kopf und hängte ihn an einen aus einem gefällten Stamm ragenden Aststumpf. Cara wirkte unzufrieden und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie würde einen Menschen, der sie bedrohte, lieber nicht am Leben lassen. Richard nahm sein gefaltetes schwarzes Hemd neben sich vom Boden auf, wo es Kahlans Blick entgangen war, steckte seinen Arm durch einen Ärmel und zog es an.
»Eine Vision?«, wiederholte Kahlan schließlich ihre Frage. So viel Ärger die Männer auch bedeuten mochten, im Augenblick waren sie nicht ihre größte Sorge.
»Wegen ihrer überraschenden Klarheit war mein erster Gedanke, es sei eine Vision, aber eigentlich war es mehr eine Offenbarung.«
»Eine Offenbarung.« Wie gerne hätte sie mehr als nur ein heiseres Flüstern zu Stande gebracht. »Und welche Gestalt hat diese Vision oder Offenbarung angenommen?«
»Die einer Einsicht.«
Kahlan starrte zu ihm hoch. »Einsicht in was?«
Er begann sein Hemd zuzuknöpfen. »Die Erkenntnis hat mich in die Lage versetzt, den größeren Zusammenhang zu begreifen. Ich habe endlich verstanden, was ich tun muss.«
»Ja«, murmelte Cara, »und jetzt hört gut zu. Redet schon, erzählt es ihr.«
Richard bedachte Cara mit einem zornigen Blick, den sie mit gleicher Münze heimzahlte; schließlich wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Kahlan zu.
»Wir werden verlieren, wenn ich uns in diesen Krieg führe, und eine große Zahl von Menschen wird sinnlos sterben. Die Folge wird eine von der Imperialen Ordnung unterjochte Welt sein. Auch wenn ich unsere Truppen nicht in die Schlacht führe, wird die Welt unter die Herrschaft der Imperialen Ordnung fallen, allerdings werden dabei sehr viel weniger Menschen ums Leben kommen. Demzufolge werden wir nur so eine Chance haben.«
»Indem wir verlieren? Du willst erst verlieren und dann kämpfen? … Wie können wir auch nur in Erwägung ziehen, den Kampf für die Freiheit aufzugeben?«
»Was in Anderith geschehen ist, hat mir die Augen geöffnet«, erwiderte er. Seine Stimme klang verhalten, so als täten ihm seine Worte Leid. »Ich kann diesen Krieg nicht erzwingen. Es bedarf großer Anstrengungen, die Freiheit zu erringen, und äußerster Wachsamkeit, wenn sie erhalten bleiben soll. Die Menschen wissen die Freiheit immer erst dann zu schätzen, wenn man sie ihnen nimmt.«
»Aber doch nicht alle«, wandte Kahlan ein.
»Es gibt immer ein paar wenige, aber die meisten wissen nicht einmal, was das ist, und wollen es auch gar nicht wissen – genau wie bei Magie, vor der die Menschen auch gedankenlos zurückschrecken, ohne zu erkennen, um was es wirklich geht. Die Imperiale Ordnung bietet ihnen eine Welt ohne Magie, dafür mit vorgefertigten Antworten auf alle Fragen. Unfreiheit macht das Leben einfach. Ich hatte geglaubt, die Menschen vom Wert ihres eigenen Lebens und der Freiheit überzeugen zu können, in Anderith haben sie mir bewiesen, wie naiv ich war.«
»Anderith ist nur ein einzelnes Land…«
»Anderith selbst war gar nicht so bemerkenswert. Sieh doch, wie viele Schwierigkeiten wir woanders hatten. Selbst hier, wo ich aufgewachsen bin, legt man uns ständig Steine in den Weg.« Richard ging daran, sein Hemd in die Hose zu stopfen. »Die Menschen zu zwingen, für ihre Freiheit zu kämpfen, ist einer der schlimmsten Widersprüche. Was ich auch sage, nichts wird die Menschen zur Anteilnahme bewegen – ich habe es versucht. Wer Wert auf seine Freiheit legt, wird fliehen oder sich verstecken, wird versuchen müssen, irgendwie zu überleben und das zu ertragen, was ihm zweifellos bevorsteht. Ich kann nichts dagegen tun, ich kann den Menschen nicht helfen. Das ist mir jetzt klar geworden.«
»Aber Richard, wie kannst du nur denken…«
»Ich muss tun, was für uns das Beste ist. Ich muss egoistisch sein; das Leben ist viel zu kostbar, um es einfach so für sinnlose Ziele zu vergeuden. Das ist die größte Sünde, die es gibt. Die Menschen können nur dann vor dem nahenden finsteren Zeitalter der Unterwerfung und Unfreiheit bewahrt werden, wenn sie endlich begreifen, wenn sie Interesse am Wert des Lebens und der Freiheit bekunden und bereit sind, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen. Wir müssen versuchen zu überleben und darauf hoffen, dass dieser Tag irgendwann kommen wird.«
»Aber wir können diesen Krieg gewinnen. Wir müssen ihn gewinnen.«
»Glaubst du wirklich, ich könnte einfach losziehen und Soldaten in den Krieg führen, und wir würden diesen Krieg gewinnen, nur weil ich es will? Ausgeschlossen, dazu gehört mehr als nur ein frommer Wunsch, dazu braucht man gewaltige Menschenmassen, die sich diesen Zielen voll und ganz verschrieben haben, aber die stehen uns nicht zur Verfügung. Wenn wir unsere Truppen der Imperialen Ordnung entgegenwerfen, werden wir vernichtet, und jede Chance, in Zukunft die Freiheit zu erlangen, wird ein für alle Mal verspielt sein.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Wir dürfen unsere Truppen auf keinen Fall gegen die Armee der Imperialen Ordnung marschieren lassen.«
Er drehte sich herum, um seinen an den Seiten offenen Waffenrock über den Kopf zu ziehen. Kahlan bemühte sich, ihrer Stimme und damit der Tiefe ihrer Besorgnis Nachdruck zu verleihen.
»Aber was ist mit all den anderen, die bereit sind zu kämpfen – mit all den Armeen, die bereits an der Front stehen. Es gibt gute, fähige Männer, die bereit sind, gegen Jagang in die Schlacht zu ziehen, seiner Imperialen Ordnung Einhalt zu gebieten und sie in die Alte Welt zurückzutreiben. Wer soll unsere Soldaten führen?«
»Führen? Wohin denn? In den Tod? Sie haben keine Chance zu gewinnen.«
Kahlan war entsetzt. Sie langte nach oben und packte den Ärmel seines Hemdes, bevor er sich bücken konnte, um seinen breiten Übergurt aufzuheben. »So redest du nur, weil mir etwas zugestoßen ist, das ist der einzige Grund, weshalb du die Auseinandersetzung scheust, Richard.«
»Nein. Bereits an jenem Abend, als du überfallen wurdest, hatte ich mich so entschieden. Als ich nach der Abstimmung allein das Haus verließ, um spazieren zu gehen, habe ich lange nachgedacht. Ich kam zu ebendiesem Schluss und traf eine Entscheidung. Was dir zugestoßen ist, hatte darauf keinen Einfluss, außer dass es bewies, wie Recht ich hatte und dass ich eigentlich viel früher hätte darauf kommen müssen. Dann wäre dir das gar nicht erst passiert.«
»Aber wenn die Mutter Konfessor nicht verletzt worden wäre, hättet Ihr Euch am nächsten Morgen besser gefühlt und Eure Meinung geändert.«
Durch die Tür in seinem Rücken fiel ein Lichtstrahl, der die uralten, den rechteckig geschnittenen Saum seines Überwurfs verzierenden Symbole in goldenem Glanz erstrahlen ließ. »Was wäre geschehen, Cara, wenn ich mit ihr zusammen überfallen und wir beide getötet worden wären? Was würdet ihr alle dann tun?«
»Das weiß ich nicht.«
»Eben deswegen ziehe ich mich zurück. Ihr hängt euch alle immer nur an mich dran, ohne euch selbst am Kampf um eure Freiheit zu beteiligen. Endlich ist mir klar geworden, welch ein Fehler das war und dass wir auf diese Weise niemals siegen können. Die Imperiale Ordnung ist ein viel zu mächtiger Gegner.«
Kahlans Vater, König Wyborn, hatte ihr gezeigt, wie man gegen eine solche Übermacht kämpft, und sie besaß praktische Erfahrung darin. »Vielleicht ist ihre Armee uns zahlenmäßig überlegen, aber das macht es nicht unmöglich. Wir müssen sie eben überlisten. Ich werde dir zur Seite stehen, Richard. Unsere Offiziere sind kampferprobt, wir können es schaffen. Wir haben gar keine andere Wahl.«
»Sieh doch, wie die Imperiale Ordnung ihre Ziele mit wohlklingenden Worten verbreitet« – Richard machte eine ausladende Armbewegung – »sogar bis an entlegene Orte wie diesen. Wir sind uns jenseits allen Zweifels über die Schlechtigkeit der Imperialen Ordnung im Klaren, und doch schlagen sich die Menschen überall begeistert auf ihre Seite – trotz der Schauderhaftigkeit all dessen, wofür die Imperiale Ordnung steht.«
»Richard«, erwiderte Kahlan leise, um nicht den letzten Rest ihrer Stimme zu verlieren, »ich habe seinerzeit blutjunge galeanische Rekruten gegen eine Armee erfahrener Soldaten der Ordnung geführt, die uns zahlenmäßig haushoch überlegen war, und wir haben uns trotzdem behaupten können.«
»Genau das meine ich. Sie hatten kurz zuvor ihre Heimatstadt gesehen, nachdem die Imperiale Ordnung dort gewütet hatte. Alle ihre Lieben waren ermordet, ihre ganze Welt vernichtet worden. Diese Männer haben in dem Bewusstsein gekämpft, genau zu wissen, was sie tun und weshalb. Sie hätten sich dem Feind entgegengeworfen, ganz gleich, ob du sie befehligst oder nicht. Aber sie waren die Einzigen, und obwohl sie gesiegt haben, wurden die meisten von ihnen in der Schlacht getötet.«
Kahlan war fassungslos. »Du willst also zulassen, dass die Imperiale Ordnung an einem anderen Ort dasselbe tut, nur um den Menschen einen Grund zu geben, sich zu wehren? Du willst tatenlos mit ansehen, wie die Ordnung hunderttausende unschuldiger Menschen abschlachtet? Du willst aufgeben, weil mir etwas zugestoßen ist. Bei den Gütigen Seelen, ich liebe dich, Richard, aber tu mir das nicht an. Ich bin die Mutter Konfessor, ich bin für das Leben der Menschen in den Midlands verantwortlich. Tu es nicht nur deswegen, weil mir etwas zugestoßen ist.«
Richard schnallte seine ledergepolsterten Manschetten um. »Ich tu es nicht, weil dir etwas zugestoßen ist, ich trage damit auf die einzig Erfolg versprechende Weise dazu bei, diese Menschenleben zu retten. Ich tue das Einzige, was ich tun kann.«
»Nein, Ihr wählt den einfachen Weg«, warf Cara ein.
Richard begegnete ihrem Einwand ruhig und voller Offenheit. »Nein, Cara, ich treffe damit die schwerste Entscheidung meines Lebens.«
Jetzt war Kahlan sicher, dass ihn ihre Ablehnung durch die Bevölkerung Anderiths härter getroffen hatte als angenommen. Sie nahm zwei seiner Finger und drückte sie verständnisvoll. Er hatte von ganzem Herzen versucht, diesen Menschen die Unterwerfung durch die Imperiale Ordnung zu ersparen, hatte versucht, ihnen den Wert ihrer Freiheit aufzuzeigen, indem er ihnen die Freiheit ließ, über ihr Schicksal selbst zu entscheiden. Somit hatte er seinen Glauben in ihre Hände gelegt.
In einer vernichtenden Abstimmungsniederlage hatten sie sein Angebot mit überwältigender Mehrheit voller Verachtung zurückgewiesen und diesen Glauben zerstört.
Vielleicht, überlegte Kahlan, würde sein Schmerz – wie in ihrem Fall – nachlassen, wenn er nur ein wenig Zeit hätte, darüber hinwegzukommen. »Du darfst dir nicht die Schuld für den Fall Anderiths geben, Richard. Du hast getan, was du konntest.«
Er nahm seinen breiten ledernen Übergurt mit den golddurchwirkten Taschen vom Boden auf und schnallte ihn über seinem prachtvollen Überwurf fest.
»Wenn man der Anführer ist, liegt die Schuld immer bei einem selbst.«
Kahlan wusste, wie sehr dies stimmte. Sie überlegte, wie sie ihn davon abbringen konnte, und versuchte einen anderen Weg.
»Welche Gestalt hat diese Vision angenommen?«
Richard heftete seine stechend grauen Augen auf sie, fast als wollte er sie warnen.
»Vision, Offenbarung, Erkenntnis, Ahnung, Prophezeiung … Einsicht – nenn es, wie du willst, denn in einem Punkt sind diese Begriffe alle gleich und unmissverständlich. Ich kann es nicht anders beschreiben, als dass ich den Eindruck hatte, es immer schon gewusst zu haben. Vielleicht stimmt das sogar. Es waren nicht so sehr Worte, sondern vielmehr ein in sich abgeschlossener Gedanke, eine Schlussfolgerung, eine Wahrheit, die sich mir in aller Klarheit offenbart hat.«
Sie wusste, er erwartete von ihr, dass sie es dabei beließ. »Wenn es sich so deutlich gezeigt hat und unzweideutig war«, hakte sie nach, »müsstest du es eigentlich in Worte fassen können.«
Richard ließ den Waffengurt über seinen Kopf gleiten und führte ihn über seine rechte Schulter. Als er das Schwert an seiner linken Hüfte zurechtrückte, funkelte das Licht auf dem erhabenen Golddraht, der so mit dem Silberdraht des Heftes verwoben war, dass er das Wort WAHRHEIT buchstabierte.
Seine Stirn war eben und sein Gesicht ruhig. Sie wusste, dass sie ihn endlich auf den Kern der Sache gestoßen hatte. Seine Selbstsicherheit verbot ihm, ihr etwas vorzuenthalten, wenn sie es hören wollte, und das tat sie. Seine Worte kamen ruhig und voller Kraft, wie eine zum Leben erwachte Prophezeiung.
»Ich bin zu früh zum Anführer geworden. Nicht ich muss mich den Menschen beweisen, sondern sie müssen sich jetzt mir beweisen. Bis dahin darf ich ihre Führung nicht übernehmen, sonst ist alles verloren.«
Wie er dort stand, aufrecht, ein Bild von einem Mann, gebieterisch in seiner schwarzen Kriegszaubererausrüstung, schien er für ein Standbild dessen zu posieren, der er war: der Sucher der Wahrheit, rechtmäßig ernannt von Zeddicus Z’ul Zorander persönlich, dem Obersten Zauberer und Richards Großvater. Die Ernennung hatte Zedd fast das Herz gebrochen, denn oft starben Sucher jung und eines gewaltsamen Todes.
Solange er aber lebte, war ein Sucher sein eigenes Gesetz. Gestützt auf die Ehrfurcht gebietende Macht seines Schwertes, konnte ein Sucher ganze Königreiche zu Fall bringen. Unter anderem deswegen war es so wichtig, die richtige Person – eine rechtschaffene Person – für dieses Amt zu ernennen. Zedd behauptete, in gewisser Weise ernenne der Sucher sich durch seine Art zu denken und zu handeln selbst, und die Aufgabe des Obersten Zauberers bestehe lediglich darin, seinen Beobachtungen gemäß zu handeln, ihn offiziell zu ernennen und ihm die Waffe zu überreichen, die ihn sein Leben lang begleiten würde.
In diesem Mann, den sie liebte, trafen so viele unterschiedliche Eigenschaften und Verantwortungen aufeinander, dass sie sich manchmal fragte, wie er sie alle in Einklang bringen konnte.
»Bist du dir sicher, Richard?«
Wegen der Bedeutung des Amtes hatten erst Kahlan und dann Zedd geschworen, Richard, den frisch ernannten Sucher der Wahrheit, mit ihrem Leben zu verteidigen. Das war geschehen, kurz nachdem Kahlan ihn kennen gelernt hatte. Als Sucher hatte Richard zum ersten Mal die ganze ihm aufgebürdete Verantwortung übernommen und sich des in ihn gesetzten Vertrauens würdig erwiesen.
Seine grauen Augen leuchteten geradezu vor Klarheit und Entschlossenheit, als er ihr antwortete.
»Ich darf mich nur einer einzigen Macht unterwerfen, der Vernunft, und das erste Gesetz der Vernunft besagt: was existiert, existiert; es gibt, was es gibt. Auf dieses unabänderliche, unerschütterliche Prinzip gründet sich alles Wissen. Das ist das Fundament, von dem aus man das Leben in die Arme schließt. Vernunft bedeutet die Möglichkeit der Wahl. Wünsche und Launen sind weder Tatsachen, noch stellen sie eine Möglichkeit dar, diese zu entdecken. Vernunft ist unsere einzige Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erfassen – sie ist unser elementares Werkzeug im Überlebenskampf. Es steht uns frei, die Mühen des Denkens zu umgehen und die Vernunft abzulehnen, doch ob wir der Strafe des Abgrunds entgehen, den zu sehen wir uns weigern, steht nicht in unserer Macht.
Wenn es mir nicht gelingt, diesen Kampf mit den Mitteln der Vernunft zu führen, wenn ich meine Augen vor der Wirklichkeit dessen, was existiert, zu Gunsten dessen, was ich mir lieber wünsche, schließe, dann werden wir beide an diesem Kampf zu Grunde gehen, noch dazu vergeblich. Wir werden bei diesem grauen, trostlosen Untergang der Menschheit nur zwei weitere in einem Heer aus zahllosen Millionen von Toten sein. In der sich daran anschließenden Finsternis werden unsere Knochen nichts sein als bedeutungsloser Staub.
Irgendwann, von jetzt an in vielleicht eintausend Jahren, vielleicht auch mehr, wird die Fackel der Freiheit möglicherweise wieder über einem freien Volk erstrahlen, bis dahin jedoch werden Millionen und Abermillionen von Menschen in hoffnungsloses Elend hineingeboren und keine andere Wahl haben, als das Joch der Imperialen Ordnung auf sich zu laden. Wenn wir die Vernunft missachten, werden wir es sein, die sich diese Berge zerschundener Körper, diesen Trümmerhaufen aus erduldeten, aber nicht gelebten Leben, eingehandelt haben.«
Kahlan merkte, dass sie nicht den Mut aufbrachte, etwas zu erwidern, geschweige denn zu widersprechen; hätte sie es in diesem Augenblick getan, wäre das der Bitte gleichgekommen, sein Urteil um einen Preis zu revidieren, der seiner Ansicht nach aus einem Meer von Blut bestand. Doch wenn sie sich so verhielten, wie er dies als zwingend erachtete, würden sie ihr Volk hilflos in den Rachen des Todes werfen.
Kahlan, deren Blickfeld unter wässrigen Schlieren verschwamm, sah fort.
»Cara«, sagte Richard, »spannt die Pferde vor den Wagen. Ich werde einen Rundgang machen und dafür sorgen, dass wir keine Überraschung erleben.«
»Ich werde einen Erkundungsgang machen, während Ihr die Pferde einspannt. Ich bin Eure Wächterin.«
»Und Ihr seid meine Freundin. Ich kenne das Land besser als Ihr. Spannt die Pferde ein und macht keine Schwierigkeiten.«
Cara verdrehte die Augen und tat beleidigt, marschierte aber los, um seiner Bitte nachzukommen.
Das Zimmer hallte von Stille wider. Richards Schatten glitt von der Decke. Als Kahlan ihm mit leiser Stimme ihre Liebe gestand, hielt er inne und drehte sich um. Seine Schultern schienen das Gewicht zu verraten, das auf ihm lastete.
»Ich wünschte, ich könnte es, aber ich kann die Menschen nicht zwingen, zu verstehen, was Freiheit heißt. Tut mir Leid.«
»Vielleicht ist es ja gar nicht so schwer.« Kahlan deutete auf den Vogel, den er in die Wand geschnitzt hatte. »Zeige ihnen einfach dieses Bild, und sie werden verstehen, was Freiheit wirklich bedeutet: Dahingleiten auf den eigenen Schwingen.«
Richard lächelte, dankbar, wie sie fand, bevor er durch die Tür nach draußen verschwand.