Die Arme auf die Oberschenkel gestützt, kauerte Richard im Bauch der Bestie.
»Nun?«, erkundigte sich Nicci vom Sattel ihres Pferdes aus.
Richard stand neben einem Rippenknochen, der ihn gut um eine Körperlänge überragte. Seine Augen gegen das goldene Sonnenlicht abschirmend, ließ er den Blick kurz über den leeren Horizont hinter sich wandern, bevor er sich wieder Nicci zuwandte, deren Haar die tief stehende Sonne einen honigfarbenen Hauch verlieh.
»Ich würde sagen, es war einmal ein Drache.«
Als ihre Stute seitwärts tänzelnd versuchte, ein wenig Abstand zwischen sich und die ausgedehnten Gebeine zu bringen, zog Nicci die Zügel strammer an.
»Ein Drachen«, wiederholte sie mit ausdrucksloser Stimme.
Da und dort hingen noch Fetzen vertrockneten Fleisches an dem Gerippe. Richard schlug mit der Hand nach dem Fliegenschwarm, der ihn umsummte, ein vager Gestank von Verwesung hing über der Fundstelle. Als er aus dem Käfig aus gigantischen, in die Luft gestreckten Rippenknochen heraustrat, deutete er auf den in einem Bett aus braunem Gras ruhenden Kopf. Zwischen den Rippen war Platz genug, um hindurchzugehen, ohne sie mit den Schultern zu berühren.
»Die Zähne erkenne ich wieder. Ich besaß auch mal einen Drachenzahn.«
Nicci schien nicht überzeugt. »Was immer es ist, wenn du genug gesehen hast, sollten wir uns wieder auf den Weg machen.«
Richard wischte sich die Hände ab. Der Hengst wich schnaubend einen Schritt zurück, als er sich ihm näherte; das Tier mochte den Geruch des Todes nicht und misstraute Richard, nachdem er ihm so nahe gekommen war. Richard strich dem Tier über den glänzenden schwarzen Hals.
»Bleib stehen, Junge«, sagte er mit beruhigender Stimme. »Ganz ruhig.«
Als sie Richard endlich aufsitzen sah, ließ Nicci ihre Apfelschimmelstute wenden und setzte sich erneut in Bewegung. Die spätnachmittägliche Sonne warf die langen, krallenartigen Schatten der Rippenknochen in seine Richtung, so als wollten sie nach ihm greifen und ihn an den gespenstischen Schauplatz eines grauenhaften Endes zurücklocken. Er warf noch kurz einen Blick über die Schulter auf die mitten im sanft geschwungenen Gras der Länge nach hingestreckt liegenden Skelettüberreste, dann drängte er sein Pferd, loszutraben und Nicci einzuholen. Der Hengst musste nicht zweimal aufgefordert werden, diese Stätte des Todes zu verlassen, und verfiel geradezu erleichtert in einen leichtfüßigen, weit ausholenden Galopp.
Richard hatte jetzt ungefähr einen Monat mit dem Pferd verbracht, und während dieser Zeit hatten die beiden sich aneinander gewöhnt. Das Tier verhielt sich durchaus willig, war aber nie wirklich zutraulich. Richards Interesse reichte allerdings nicht aus, um sich die Mühe zu machen, mehr zu tun; Freundschaft mit einem Pferd zu schließen, das war so ziemlich seine geringste Sorge. Nicci hatte nicht gewusst, ob die Pferde Namen hatten, auch schien sie nicht daran interessiert, Tieren überhaupt einen zu geben, daher hatte Richard den schwarzen Hengst einfach ›Junge‹, Niccis Apfelschimmelstute ›Mädchen‹ getauft und es dabei belassen. Dass er den Tieren Namen gab, schien Nicci weder zu gefallen noch zu missfallen; sie hielt sich einfach an seine Gepflogenheit.
»Glaubst du wirklich, es handelt sich um die Überreste eines Drachen?«, fragte Nicci, nachdem er sie eingeholt hatte.
Der Hengst wurde langsamer und rieb froh sein Maul an der Flanke der Stute. Mädchen drehte zum Zeichen des Wiedererkennens lediglich das ihm zugewandte Ohr in seine Richtung.
»Die Größe dürfte ungefähr stimmen, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht.«
Nicci warf ihr Haar mit einer ruckartigen Kopfbewegung über die Schultern. »Das ist dein Ernst, nicht wahr?«
Richard runzelte verwirrt die Stirn. »Ihr habt es doch selbst gesehen. Was könnte es sonst sein?«
Sie gab sich seufzend geschlagen. »Ich dachte einfach, es seien die Knochen eines längst ausgestorbenen Tieres.«
»Bei all den Fliegen, die es umschwirren? An den Knochen klebten sogar noch ein paar ausgetrocknete Sehnenreste. Das war kein Wesen aus grauer Vorzeit. Es kann nicht viel länger als sechs Monate dort gelegen haben – wahrscheinlich sehr viel weniger.«
Sie betrachtete ihn abermals aus den Augenwinkeln. »Dann gibt es also tatsächlich Drachen in der Neuen Welt?«
»Jedenfalls in den Midlands; wo ich aufgewachsen bin, gab es keine. Soweit ich weiß, besitzen Drachen Magie, und die existierte in Westland nicht. Als ich hierher kam … habe ich einen roten Drachen gesehen. Nach allem, was ich hörte, sind sie äußerst selten.«
Und jetzt war ihre Zahl um mindestens ein Exemplar geschrumpft.
Die Überreste irgendeines Tieres bereiteten Nicci wenig Kopfzerbrechen, selbst wenn es sich um die eines Drachen handelte. So sehr es ihn danach gelüstete, ihr den Schädel einzuschlagen, war Richard längst zu dem Schluss gekommen, dass seine Aussichten, einen Ausweg aus seiner Lage zu finden, erheblich besser standen, wenn er sie nicht gegen sich aufbrachte. Streit zehrte nur an den eigenen Kräften und erschwerte es einem, durch Nachdenken einen Ausweg zu finden. Deshalb konzentrierte er seine Gedanken auf das, was für ihn am wichtigsten war.
Er brachte es nicht über sich, so zu tun, als sei er Niccis Freund, trotzdem versuchte er ihr keinen Grund zu geben, so in Zorn zu geraten, dass sie Kahlan etwas antat. Bislang gab ihm der Erfolg Recht, ohnehin schien Nicci nicht leicht in Wut zu geraten. Wenn etwas ihr Missfallen erregte, fiel sie in einen Zustand der Gleichgültigkeit zurück, der ihre leichte Erbitterung unter sich zu begraben schien.
Schließlich erreichten sie wieder die Straße, von der aus sie den weißen Punkt erspäht hatten, der sich als die Überreste eines Drachens herausgestellt hatte.
»Wie war das, an einem Ort aufzuwachsen, an dem keinerlei Magie existiert?«
Richard zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. So war es einfach, es war völlig normal.«
»Und warst du glücklich? Ohne Magie aufzuwachsen, meine ich?«
»Ja, sehr sogar.« Der argwöhnische Ausdruck kehrte auf sein Gesicht zurück. »Warum?«
»Und doch kämpfst du für den Fortbestand der Magie in der Welt, damit andere Kinder mit ihr aufwachsen müssen. Das ist doch richtig?«
»Ja.«
»Der Orden möchte die Welt von der Magie befreien, damit die Menschen glücklich und zufrieden aufwachsen können, ohne diesen alles vergiftenden Dunst der Magie vor ihrer Tür.« Sie schaute zu ihm hinüber. »Sie wollen, dass die Kinder ganz ähnlich wie du erwachsen werden. Und doch kämpfst du dagegen an.«
Das war keine Frage, daher beschloss Richard, es nur ihr zuliebe auch nicht zu einer zu machen. Was die Imperiale Ordnung zu tun beliebte, ging ihn nichts an. Er wandte seine Gedanken anderen Dingen zu.
Sie ritten in ost-südöstlicher Richtung auf einer gelegentlich von Händlern bereisten Straße. An diesem Tag hatten sie bereits zwei von ihnen mit einem freundlichen Nicken begrüßt. Da die Straße den einfachsten Weg durch die sanft geschwungene Hügellandschaft wählte, war sie gegen Nachmittag immer mehr nach Süden abgeschwenkt. Als sie eine Anhöhe überquerten, erspähte Richard in weiter Ferne eine Schafherde. Nicht weit vor ihnen, hatte man ihnen erzählt, gab es eine Ortschaft, wo sie ein paar dringend benötigte Dinge kaufen konnten; auch konnten die Pferde etwas Getreidefutter gebrauchen.
Hinter seiner linken Schulter, im Nordosten, ragten schneebedeckte, sich im Licht der späten Sonne rosa verfärbende Berge jenseits des Vorgebirges in die Höhe. Rechts von ihnen erstreckte sich das sanft geschwungene Gelände bis hin zur Wildnis. Hatten sie die Stadt erst hinter sich, würde es nicht mehr allzu lange dauern, bis sie den Fluss Kern querten. Sie waren nicht mehr weit von jenem Gebiet entfernt, das einst die Ödnis bildete, in der die Große Barriere gestanden hatte.
Nicht mehr lange, und sie würden Richtung Süden abschwenken und sich in die Alte Welt hineinbegeben.
Obwohl keine Barriere mehr existierte, die ihn nach ihrem Durchschreiten an der Rückkehr gehindert hätte, versetzte ihn das Verlassen der Neuen Welt in einen Zustand tiefer Niedergeschlagenheit. Es war, als verlasse er Kahlans Welt, als verlasse er sie noch ein klein wenig mehr als zuvor. Bei aller Leidenschaftlichkeit und Liebe, die er für sie empfand – er spürte, wie Kahlan immer weiter in die Ferne rückte.
Niccis blondes Haar flatterte in der Brise, als sie sich zu ihm umwandte. »Angeblich gab es früher auch in der Alten Welt Drachen.«
Richard riss sich aus seinen düsteren Gedanken.
»Und jetzt nicht mehr?«, fragte er. Sie schüttelte den Kopf. »Wie lange liegt das zurück?«
»Sehr lange. Kein Lebender hat jemals einen zu Gesicht bekommen – auch nicht die im Palast lebenden Schwestern.«
Während er auf das gleichförmige Klappern der Hufe lauschend weiterritt, dachte er darüber nach. Nicci hatte sich entgegenkommend gezeigt, daher fragte er: »Wisst Ihr, warum nicht?«
»Ich kann dir nur sagen, was man mir erzählt hat, vorausgesetzt, du willst es hören.« Als Richard daraufhin nickte, fuhr sie fort. »Während des Großen Krieges, zu einer Zeit, als die Barriere zwischen der Alten und der Neuen Welt errichtet wurde, arbeiteten die Zauberer der Alten Welt daran, die in der Welt existierende Magie rückgängig zu machen. Drachen konnten ohne Magie nicht existieren, also starben sie aus.«
»Aber hier existierten sie doch immer noch.«
»Auf der anderen Seite der Barriere, ja. Möglicherweise hatte die Unterdrückung der Magie durch die damaligen Zauberer eine auf ihrer Seite nur örtlich begrenzte, vorübergehende Wirkung. Schließlich existiert Magie noch immer, offenbar ist es ihnen also nicht gelungen, ihr Ziel zu erreichen.«
Eine vage Beklommenheit beschlich Richard, als er Niccis Bemerkung mit den eben gesehenen Knochen in Verbindung brachte.
»Darf ich Euch eine Frage über Magie stellen, Nicci, eine ernst gemeinte Frage?«
Sie schaute zu ihm hinüber, ließ ihr Pferd langsamer und schließlich in leichtem Schritt weitergehen. »Was möchtest du wissen?«
»Wie lange kann ein Drache Eurer Meinung nach ohne Magie überleben?«
Nicci dachte einen Augenblick über seine Frage nach, schließlich seufzte sie. »Ich kenne die Geschichte der Drachen in der Alten Welt nur so, wie man sie uns beigebracht hat. Wie du weißt, sind vor langer Zeit niedergeschriebene Texte nicht immer verlässlich, daher kann ich nur eine intelligente Vermutung äußern. Ich würde sagen, vielleicht gerade mal wenige Augenblicke, möglicherweise auch Tage – vielleicht auch länger, aber nicht sehr viel. Im Grunde ist es eine stark vereinfachte Version der Frage, wie lange ein Fisch auf dem Trockenen überleben kann. Warum fragst du?«
Richard fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Als die Chimären hier in dieser Welt weilten, haben sie die Magie abgezogen. Der Welt des Lebens wurde die gesamte Magie, oder jedenfalls fast die gesamte, für eine gewisse Zeit entzogen.«
Sie schaute wieder auf die Straße. »Meiner Einschätzung nach war der Entzug vollkommen, zumindest zeitweise.«
Genau das hatte er befürchtet. Richard betrachtete ihre Bemerkung im Licht dessen, was er wusste. »Nicht alle Geschöpfe der Magie sind unbedingt auf sie angewiesen. Nehmt zum Beispiel uns; in gewisser Hinsicht sind wir Geschöpfe der Magie, aber wir können auch ohne sie existieren. Ich frage mich, ob Geschöpfe, die für ihre nackte Existenz auf Magie angewiesen sind, nicht vielleicht doch überlebt haben könnten, bis die Chimären vertrieben waren und die Magie in der Welt des Lebens wiederhergestellt war.«
»Die Magie ist nicht wiederhergestellt worden.«
Richard hielt jäh sein Pferd an. »Was?«
»Jedenfalls nicht so, wie du denkst.« Nicci drehte sich herum und sah ihm ins Gesicht, »Ich habe zwar keine unmittelbare Kenntnis davon, was genau geschehen ist, aber ein solches Ereignis hätte unmöglich folgenlos bleiben können.«
»Erzählt mir, was Ihr wisst.«
Sie legte neugierig die Stirn in Falten. »Warum machst du ein so besorgtes Gesicht?«
»Nicci, ich bitte Euch, erzählt mir einfach, was Ihr wisst.«
Sie legte ihre Handgelenke auf dem Sattelknauf übereinander.
»Magie ist eine überaus vielschichtige Angelegenheit, Richard, daher kann es so etwas wie Gewissheit niemals geben.« Sie hob abwehrend eine Hand, um seiner Fragenflut zuvorzukommen. »So viel aber ist sicher: Die Welt bleibt nicht immer gleich, sie unterliegt einem steten Wandel. Magie ist nicht nur ein Teil dieser Welt, sie ist die Verbindung zwischen den Welten. Verstehst du das?«
Zumindest glaubte er es zu verstehen. »Ich habe die Seele meines Vaters versehentlich mit Hilfe von Magie aus der Unterwelt herbeigerufen und ihn mit Hilfe von Magie wieder dorthin zurückverbannt. Die Schlammenschen, zum Beispiel, benutzen Magie, um mit den Seelen ihrer Ahnen jenseits des Schleiers in der Unterwelt in Kontakt zu treten. Ich musste den in einer anderen Welt gelegenen Tempel der Vier Winde aufsuchen, nachdem Jagang eine Schwester dorthin geschickt hatte, um eine Seuche auszulösen, die sie aus jener anderen Welt mitgebracht hatte.«
»Und was haben alle diese Dinge gemeinsam?«
»In allen Fällen wurde die Kluft zwischen den Welten mit Hilfe von Magie überbrückt.«
»Richtig, doch es geht noch weiter. Diese Welten existieren zwar, aber nur in Abhängigkeit von dieser einen, von der sie sich abgrenzen und über die sie sich bestimmen, hab ich Recht?«
»Ihr meint, so wie das Leben in diese Welt hineingeboren wird und die Seelen nach dem Tod vom Hüter in die Unterwelt verschleppt werden?«
»Ganz recht. Aber siehst du darüber hinaus die Verbindung?«
Allmählich konnte Richard nicht mehr folgen, schließlich war er nicht mit dem Wissen um Magie aufgewachsen. »Wir sind zwischen diesen beiden Reichen gefangen?«
»Nein, das nun nicht gerade.« Ihre blauen Augen funkelten vor Eifer und Entschlossenheit. Sie wartete, bis er ihr ruhig in die Augen sehen konnte, dann hob sie einen Finger, um die Bedeutung ihrer Worte zu unterstreichen.
»Magie ist die Verbindung zwischen den Welten. Mit dem Schwinden der Magie rücken diese Welten für uns nicht nur in größere Ferne, auch die Kraft dieser Welten schwindet in unserer Welt. Begreifst du nicht?«
Richard bekam eine Gänsehaut. »Wollt Ihr damit sagen, die anderen Welten verlieren an Einfluss, vergleichbar etwa einem … einem Kind, dessen Eltern weniger Einfluss auf es haben, sobald es erwachsen wird?«
»Genau.« Im schwindenden Licht wirkten ihre Augen blauer als gewöhnlich. »Das Voneinander-Abrücken der Welten ist vergleichbar mit einem Kind, das erwachsen wird und sein Zuhause verlässt. Doch es geht noch weiter.«
Sie beugte sich ganz leicht im Sattel vor. »Man könnte sagen, dass diese anderen Welten nur durch ihr Verhältnis zum Leben existieren – zu dieser Welt.« In diesem Augenblick erschien sie ihm genau als das, was sie tatsächlich war – eine einhunderteinundachtzigjährige Hexenmeisterin. »Man könnte sogar behaupten«, sagte sie leise, mit einer Stimme, die aus den Schatten zu kommen schien, »dass diese anderen Welten ohne die Magie, die sie mit dieser Welt verknüpfen, zu existieren aufhören würden.«
Richard musste schlucken. »Soll das heißen, sobald das Kind erwachsen wird und sein Zuhause verlässt, werden die Eltern für sein Fortbestehen immer unwichtiger? Wenn sie, obwohl einst voller Lebensenergie und mit einer starken Bindung zu ihm, schließlich alt werden, sterben und zu existieren aufhören, lebt es ohne sie weiter.«
»Ganz genau«, zischelte sie.
»Die Welt verändert sich«, sagte er, fast zu sich selbst. »Die Welt bleibt nicht immer gleich. Genau das will Jagang. Er will, dass die Magie und diese anderen Welten zu existieren aufhören, damit er diese eine ganz für sich allein haben kann.«
»Nein«, widersprach sie leise. »Er will sie nicht für sich selbst, sondern für die Menschheit.« Richard wollte widersprechen, doch sie fiel ihm ins Wort. »Ich kenne Jagang, und ich sage dir, was er glaubt. Mag sein, dass er Gefallen am Beutemachen findet, aber in seinem Herzen ist er fest davon überzeugt, dass er dies für die Menschheit tut und nicht für sich selbst.«
Richard glaubte ihr nicht wirklich, sah aber keinen Sinn darin, mit ihr zu streiten. Wie auch immer, aufgrund der sich vollziehenden Veränderungen war es durchaus möglich, dass Geschöpfe wie die Drachen längst ausgestorben waren, durchaus möglich, dass die weißen Knochen die Überreste des allerletzten roten Drachen waren.
»Möglicherweise hat sich die Welt aufgrund von Ereignissen wie im Falle der Chimären bereits so weit unumkehrbar gewandelt, dass bestimmte Geschöpfe der Magie ausgestorben sind«, sagte sie, den starren Blick in das trostlose Zwielicht gerichtet. »Auch in einer sich entwickelnden Welt, wie ich sie beschrieben habe, würde die Magie beizeiten aussterben. Verstehst du jetzt? Ohne diese Verbindung zu anderen Welten, Welten, die es vielleicht gar nicht mehr gibt, würde gar keine Magie mehr entstehen, wenn die Nachkommen derer mit der Gabe geboren werden.«
Eins war sicher: Wenn die Zeit gekommen war, würde er dafür sorgen, dass Niccis Existenz endete.
Während sie weiterritten, warf Richard einen Blick über seine Schulter hinüber zu den Gebeinen, die allerdings seit einer Weile schon nicht mehr zu sehen waren.
Es war bereits lange nach Einbruch der Dunkelheit, als sie in die Ortschaft hineinritten. Als Richard sich bei einem Bürger erkundigte, erklärte dieser ihm, die Ortschaft heiße Wellig, so benannt nach den wellenförmig dahinfließenden Vorbergen. Es war ein ruhiges Städtchen, abseits in einem nahezu vergessenen Winkel der Midlands gelegen, mit der Rückseite jenem Gebiet zugewandt, das einst als Ödnis bekannt war, aus der niemand wiederkehrte. Viele der Einwohner bauten Weizen an und betrieben Schafzucht, um sich mit Waren für den Tauschhandel zu versorgen, während sie sich für den Eigenbedarf kleine Tiere hielten und Gärten angelegt hatten.
Es gab eine Straße, die von Südwesten her – aus Renwold kommend – in den Ort hinein, sowie ein paar andere, die in nördlicher Richtung wieder hinausführten. Wellig war ein Knotenpunkt für den Handel zwischen Renwold, den Menschen aus der Wildnis, die in diesem außenpostenähnlichen Städtchen Handel trieben, und den weiter nördlich und östlich gelegenen Dörfern. Natürlich existierte Renwold mittlerweile längst nicht mehr; die Imperiale Ordnung hatte die Stadt geplündert und geschleift. Jetzt, da nur Gespenster die Straßen Renwolds bevölkerten, litten die Menschen aus der Wildnis, die früher dort ihre Waren eingetauscht hatten, bittere Not. Auch wer aus den Ortschaften und Dörfern nach Wellig kam, litt Not; Wellig erlebte schwere Zeiten.
Richard und Nicci riefen eine kleine Sensation hervor. Seit Renwold nicht mehr existierte, waren durchreisende Fremde zu einer Seltenheit geworden. Die beiden waren müde, und es gab tatsächlich auch ein Gasthaus, dort drinnen fand jedoch ein derbes Trinkgelage statt, und mit Schwierigkeiten dieser Art wollte Richard sich nicht herumschlagen müssen. Auf der vom Gasthaus aus gesehen anderen Seite der Ortschaft gab es einen ordentlich geführten Stall, dessen Besitzer ihnen anbot, sie für einen Silberpfennig pro Kopf auf dem Heuboden schlafen zu lassen. Die Nacht war kalt, und dort oben, windgeschützt auf dem Heuboden, würde es wärmer sein, also bezahlte Richard dem Mann den einen Pfennig pro Kopf für sie selbst sowie drei weitere für das Füttern und Versorgen der Pferde. Der wortkarge Stallbesitzer war über den zusätzlichen Pfennig für die Pferde so erfreut, dass er Richard versprach, ihnen die Schuhe zu putzen, solange sie als Gäste bei ihm weilten.
Als Richard sich daraufhin bedankte und ihm erklärte, sie seien müde, lächelte der Mann zum allerersten Mal und sagte: »Dann werde ich mich also um Eure Pferde kümmern. Ich hoffe, Eure Frau und Ihr schlaft gut. Also gute Nacht.«
Richard folgte Nicci die grobe Holzleiter im rückwärtigen Teil der Scheune nach oben. Im Heu sitzend nahmen sie ein kaltes Abendessen zu sich und hörten dabei zu, wie der Stallbesitzer Hafer und Wasser für ihre Pferde holen ging. Richard und Nicci tauschten nur die allernotwendigsten Bemerkungen aus, bevor sie sich in ihre Umhänge wickelten und schlafen legten. Als sie kurz nach Tagesanbruch aufwachten, erblickten sie eine kleine Ansammlung von ausgemergelten Kindern und hohlwangigen Erwachsenen, die gekommen waren, um die ›reichen‹ Durchreisenden in Augenschein zu nehmen. Offenbar hatten ihre Pferde, besser als alle, die seit langer Zeit in dem Stall in Pflege gegeben worden waren, Anlass zu Tratsch und wilden Vermutungen gegeben.
Als Richard die Menschen begrüßte, erntete er nichts als leere Blicke, und als er und Nicci daraufhin den nicht weit entfernt hinter ein paar düsteren, trostlosen Gebäuden gelegenen Kramladen aufsuchten, liefen ihnen die Menschen hinterher, als seien ein König und eine Königin in die Stadt gekommen, und als ob alle sehen wollten, wie so hochwohlgeborene Persönlichkeiten ihren Tag verbrachten. Ziegen und Hühner, die Welligs Hauptstraße bevölkerten, stoben vor der Prozession auseinander. Ein auf einem Stumpf hockender Hahn flatterte genervt mit seinen Flügeln.
Als die unerschrockeneren Kinder fragten, wer sie denn nun seien, erklärte Nicci ihnen, sie seien bloß Reisende, Mann und Frau, auf der Suche nach Arbeit. Diese Neuigkeit stieß auf skeptisches Gekicher. In ihrem eleganten schwarzen Kleid hielten die Leute Nicci für eine Königin auf der Suche nach einem Königreich, und selbst von Richard hatten sie kaum eine geringere Meinung.
Auf die Frage eines älteren Jungen, wo sie denn nach Arbeit zu suchen gedächten, da in Wellig kaum etwas zu finden sei, erklärte Nicci ihnen, sie seien unterwegs in die Alte Welt; daraufhin griffen sich einige der Erwachsenen ihre Kinder und entfernten sich hastig. Die meisten jedoch folgten Richard und Nicci dicht auf den Fersen.
Ein älterer Mann, der Besitzer des Kramladens, scheuchte die Menschen bei Richards Eintreten von seiner Schwelle fort. Kaum war Richard im Laden verschwunden, konnte er beobachten, wie die Leute dreister wurden und Nicci um Geld, Arznei und etwas zu essen anbettelnd, zu betatschen begannen. Nicci blieb draußen bei den Leuten, erkundigte sich nach ihren Sorgen und Nöten, ging durch die Menge und untersuchte die Kinder. Dabei hatte sie wieder diesen leeren Ausdruck im Gesicht, der Richard überhaupt nicht behagte.
»Womit kann ich Euch dienen?«, erkundigte sich der Ladenbesitzer.
»Äh, was sind das für Leute?«, fragte Richard stattdessen.
Er warf einen Blick durch das blitzsaubere Fenster und sah Nicci inmitten der zerlumpten Menschenmenge stehen und ihnen von der Liebe des Schöpfers berichten. Alles lauschte gebannt, als sei sie eine Gute Seele, die gekommen war, ihnen Trost zu spenden.
»Na ja, alle möglichen Leute eben«, antwortete der Ladenbesitzer. »Die meisten sind nach dem Zusammenbruch der Barriere aus der Alten Welt eingewandert. Ein paar von ihnen sind Nichtstuer hier aus dem Ort – Säufer und dergleichen –, denen es völlig schnuppe ist, ob sie betteln, stehlen oder arbeiten. Als die Fremden aus der Alten Welt in die Stadt kamen, haben sich ein paar von den Leuten hier deren Lebensweise angepasst. Ab und zu kommen Händler durch, und diese Männer, deren Waren bewacht werden müssen, sind offenbar der Meinung, dass sie weniger Scherereien bekommen, wenn sie sich diesem Schlag gegenüber von der großzügigen Seite zeigen. Ein paar von denen da draußen sind Leute aus dem Ort, die in Not geraten sind – Witwen mit Kindern, die keinen Mann finden, und Ähnliches mehr. Ein paar arbeiten gelegentlich für mich, wenn ich Arbeit habe, die meisten allerdings nicht.«
Richard wollte dem Mann gerade eine Liste mit Dingen geben, die sie benötigten, als Nicci zur Tür hereingeschwebt kam.
»Ich brauche etwas Geld, Richard.«
Statt ihr zu widersprechen, reichte er ihr die Satteltaschen mit ihrer Barschaft. Sie griff hinein und holte eine Hand voll Gold- und Silbermünzen hervor. Der Ladenbesitzer bekam große Augen, als er sah, welche Summe sie in der Hand hielt; sie schenkte ihm jedoch keinerlei Beachtung. Offenen Mundes musste Richard mit ansehen, wie Nicci, inzwischen wieder draußen bei den Menschen, das ganze Geld unter die Leute verteilte. Arme winkten und versuchten nach ihr zu greifen, das Gezeter wurde immer lauter, während sich einige mit dem, was sie ihnen gegeben hatte, hastig aus dem Staub machten.
Richard riss die Satteltasche auf und spähte hinein, um festzustellen, wie viel sie noch übrig hatten; viel war es nicht. Er konnte es kaum glauben: Was Nicci soeben getan hatte, ergab keinen Sinn.
»Wie wär’s mit ein wenig Gerstenmehl, Hafergrütze, etwas Reis, einem Stück Speck, Linsen, Zwieback und Salz?«, fragte er an den Ladenbesitzer gewandt.
»Hafergrütze ist aus, aber alles Übrige habe ich da. Wie viel wollt ihr?«
Richard stellte ein paar Berechnungen in seinem Kopf an. Ihnen stand eine lange Reise bevor, und Nicci hatte soeben den größten Teil ihrer Barschaft verschenkt. Zudem hatten sie die meisten ihrer mitgebrachten Vorräte bereits aufgebraucht.
Er legte sechs Silberpfennige auf die Ladentheke. »Nur so viel, wie wir hierfür bekommen.« Dann nahm er seinen Rucksack von seinem Rücken und stellte ihn neben das Geld auf die Theke.
Der Mann heimste die Münzen ein, seufzte über den ihm soeben entgangenen Verdienst und ging daran, die einzelnen Gegenstände aus dem Regal zu nehmen und sie in den Rucksack zu packen. Währenddessen bat Richard noch um ein paar andere Kleinigkeiten, die ihm einfielen, während der Mann bereits die Bestellung zusammenstellte. Er trennte sich von einem weiteren Pfennig.
Jetzt blieben Richard nur noch ein paar Silberpfennige, zwei Silberkronen und kein einziges Goldstück mehr. Nicci hatte mehr Geld unter die Leute verteilt, als die meisten von ihnen in ihrem ganzen Leben jemals zu Gesicht bekommen hatten. Besorgt, wie sie sich in Zukunft Vorräte beschaffen sollten, hängte sich Richard, als der Ladenbesitzer fertig war, den Rucksack um und eilte nach draußen, um nachzusehen, ob er Nicci noch bremsen konnte.
Sie hielt gerade einen Vortrag über die allumfassende Liebe des Schöpfers zu den Menschen und bat die Anwesenden, während sie einem unrasierten, zahnlosen Mann die letzte Goldmünze in die Hand drückte, um Verzeihung für die grausame Herzlosigkeit und Gleichgültigkeit der Menschen. Der Alte bedankte sich grinsend und leckte seine ausgedörrten Lippen. Richard wusste nur zu gut, wie er sie anfeuchten würde. Immer mehr flehende Hände reckten sich ihr entgegen.
Besorgt fasste Richard Nicci am Arm und zog sie zurück. Sie wandte sich zu ihm herum.
»Wir müssen zurück zu den Ställen«, sagte sie.
»Das meine ich auch«, erwiderte Richard, seinen Ärger im Zaum haltend. »Hoffen wir, dass der Stallbursche inzwischen mit den Pferden fertig ist, damit wir von hier verschwinden können.«
»Nein«, sagte sie mit einem Blick wild entschlossener Endgültigkeit in den Augen. »Wir müssen die Pferde verkaufen.«
»Was?« Richard blinzelte sie in einer Mischung aus Ärger und Erstaunen an. »Dürfte ich vielleicht fragen, warum?«
»Um unsere Habe mit denen zu teilen, die nichts besitzen.«
Richard verschlug es die Sprache, er starrte sie bloß an. Wie sollten sie reisen? Nach kurzer Überlegung kam er zu dem Schluss, dass es ihm wirklich ziemlich egal war, wie schnell sie dort eintrafen, wo immer sie ihn hinbrachte. Aber sie würden alles tragen müssen. Als Waldführer war er es gewohnt, mit einem Rucksack zu marschieren, das Laufen würde ihm vermutlich also nichts ausmachen. Er atmete hörbar aus, machte kehrt und begab sich zu den Ställen.
»Wir müssen die Pferde verkaufen«, erklärte Richard dem Stallbesitzer.
Der Mann legte die Stirn in Falten, betrachtete die in den Boxen stehenden Pferde, dann wanderte sein missbilligender Blick wieder zurück zu Richard. Er schien wie vom Donner gerührt.
»Das sind verdammt prächtige Tiere, Herr. Hier in unserer Gegend gibt es solche Pferde nicht.«
»Jetzt doch«, sagte Nicci.
Er blickte verunsichert zu ihr hinüber. Die meisten Menschen wurden unsicher, wenn sie Nicci ansahen, sei es wegen ihrer geradezu erschreckenden Schönheit oder wegen ihres kühlen, oft bedrohlichen Auftretens.
»Was solche Pferde wert sind, kann ich nicht bezahlen.«
»Das haben wir auch nicht von dir verlangt«, erwiderte Nicci mit gleichgültiger Stimme. »Wir haben lediglich darum gebeten, sie dir zu verkaufen. Da wir sie verkaufen müssen, werden wir nehmen, was du uns geben kannst.«
Die Augen des Mannes wanderten von Richard zu Nicci und wieder zurück. Richard spürte, dass dem Mann nicht wohl in seiner Haut war, sie so zu übervorteilen, andererseits schien er keine Möglichkeit zu sehen, ein solches Angebot abzulehnen.
»Ich bringe höchstens vier Silbertaler für beide zusammen.«
Richard wusste, dass sie das Zehnfache wert waren.
»Und für das Zaumzeug?«, wollte Nicci wissen.
Der Mann kratzte sich an der Wange. »Ich denke, ich kann noch ein Silberstück drauflegen, aber das ist alles, was ich besitze. Tut mir Leid, ich weiß, sie sind mehr wert, aber wenn Ihr absolut darauf besteht, dass ich sie Euch abkaufen soll – ist das alles, was ich habe.«
»Gibt es sonst noch jemanden in der Stadt, der sie uns vielleicht für einen höheren Preis abnimmt?«, fragte Richard.
»Ich glaube nicht, aber um die Wahrheit zu sagen, junger Mann, ich wäre nicht gekränkt, wenn Ihr Euch umhören würdet. Ich betrüge nicht gerne, und mir ist durchaus bewusst, dass man fünf Silbertaler für diese Pferde samt Zaumzeug nur als Betrug bezeichnen kann.«
Der Mann blickte immer wieder zu Nicci hinüber, er schien zu ahnen, dass diese Transaktion Richards Einflussmöglichkeiten überstieg. Der feste Blick ihrer blauen Augen vermochte jeden Mann nervös zu machen.
»Wir nehmen dein Angebot an«, sagte Nicci ohne jedes Zögern, ohne Unsicherheit. »Ich bin sicher, es ist durchaus angemessen.«
Der Mann seufzte unglücklich über seinen unerwarteten Gewinn. »So viel Geld trage ich nicht bei mir. Wenn Ihr die Freundlichkeit hättet, einen Augenblick zu warten, werde ich ins Haus gehen« – er deutete mit einem Daumen über seine Schulter – »dort hinter der Scheune, und es holen.«
Nicci nickte, und er machte sich hastig auf den Weg, weniger, weil er so darauf versessen war, den Handel unter Dach und Fach zu bringen, überlegte Richard, sondern eher, weil er es kaum erwarten konnte, sich Niccis Blicken zu entziehen.
Richard wandte sich zu ihr herum und spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. »Was hat das alles zu bedeuten?« Durch die halb geöffnete Stalltür sah er, dass die Menschenmenge, die ihnen gefolgt war, noch immer draußen stand.
Sie überging seine Frage. »Hol deine Sachen – was immer du tragen kannst. Sobald er zurückkommt, wird es Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«
Richard riss seinen wütenden Blick von ihr los. Er stapfte hinüber zu seinen vor Junges Stall liegenden Sachen und machte sich daran, so viel wie möglich davon in seinen Rucksack zu stopfen. Die Wasserschläuche schnallte er sich um die Taille und die Satteltaschen warf er sich über die Schultern. Er war sicher, der Stallbesitzer würde sich nicht beschweren, wenn er die Satteltaschen nicht zusammen mit dem übrigen Zaumzeug bekam. Vielleicht konnte er wenigstens sie zu einem vernünftigen Preis verkaufen, sobald sie in eine etwas wohlhabendere Stadt gelangten. Während er damit beschäftigt war, verstaute Nicci ihre Habseligkeiten in einem Rucksack, den sie tragen konnte.
Als der Mann mit dem Geld zurückkam, wollte er es Richard geben. Nicci hielt ihre Hand auf.
»Das nehme ich«, sagte sie.
Nach einem flüchtigen Blick in Richards Augen händigte er Nicci das Geld aus. »Ich habe noch die Silberpfennige draufgelegt, mit denen Ihr mich gestern Abend bezahlt habt. Das ist alles, was ich habe, ich schwöre es.«
»Danke«, sagte Nicci. »Es war sehr großzügig von dir, deinen Besitz zu teilen. Das ist die Art des Schöpfers.«
Ohne ein weiteres Wort machte Nicci kehrt und schritt entschlossen durch den schlecht beleuchteten Stall und zur Tür hinaus.
»Das ist meine Art«, murmelte der Mann ihr kaum hörbar hinterher. »Der Schöpfer hat damit nichts zu tun.«
Draußen in der Sonne begann Nicci, das soeben für die Pferde erhaltene Geld zu verteilen. Die Leute wetteiferten um ihre Gunst, während sie zwischen ihnen hindurchschritt, zu ihnen sprach und ihnen Fragen stellte, bis sie hinter der Kante des Scheunentors nicht mehr zu sehen war.
Richard strich Junge noch schnell über die Blesse auf seiner Stirn, wuchtete die Satteltaschen auf seine Schultern und wandte sich dem völlig verblüfft dreinblickenden Stallbesitzer zu. Er und Richard wechselten einen hilflosen Blick.
»Ich hoffe, sie ist Euch eine gute Frau«, meinte der Mann schließlich.
Am liebsten hätte Richard ihm erzählt, sie sei eine Schwester der Finsternis und er ihr Gefangener, zu guter Letzt entschied er aber, dass das vollkommen sinnlos wäre. Nicci hatte ihm in aller Deutlichkeit zu verstehen gegeben, dass er Richard Cypher sei, ihr Ehemann, und sie Nicci Cypher, seine Frau. Sie hatte von ihm verlangt, bei dieser Geschichte zu bleiben – Kahlan zuliebe.
»Sie ist einfach nur großzügig«, sagte Richard. »Deswegen habe ich sie geheiratet. Sie ist gut zu den Menschen.«
Richard hörte den Aufschrei einer Frau, gefolgt von Schimpfen. Er schoss zur halb geöffneten Tür und rannte hinaus in die strahlend helle Morgensonne. Es war niemand zu sehen. Dann lief er um die Ecke zur Seite der Scheune, von wo er Füßescharren und die Geräusche eines Handgemenges vernahm.
Ein halbes Dutzend Männer hatte Nicci zu Boden geworfen, einige von ihnen prügelten mit den Fäusten auf sie ein, während sie versuchte, sie mit bloßen Händen abzuwehren. Andere begrapschten sie auf der Suche nach einem Geldbeutel. Sie stritten sich um ihren unverdienten Lohn, noch bevor sie ihn überhaupt aus der Hand gegeben hatte. Eine Menschenmenge aus Frauen, Kindern und weiteren Männern hatte einen Ring um das Spektakel gebildet, Geier, die nur darauf warteten, die Knochen abzunagen.
Richard wühlte sich durch den Ring aus Menschen, packte den nächstbesten Kerl hinten am Kragen und schleuderte ihn zurück. Er war knochendürr, segelte durch die Luft und schlug krachend gegen die Seitenwand der Scheune, so dass das ganze Gebäude erzitterte. Dem nächsten versetzte Richard einen Tritt in die Rippen, der ihn von Nicci herunter und in den Staub warf. Ein dritter wirbelte herum und holte zu einem wuchtigen Schlag gegen Richard aus. Richard fing die Faust ab und drehte sie nach unten, bis er ein Knacken spürte und der Mann aufschrie. Daraufhin stoben die Männer in alle Himmelsrichtungen davon.
Richard machte Anstalten, einem von ihnen hinterher zurennen, doch plötzlich warf Nicci sich auf ihn und hielt ihn zurück.
»Nein, Richard!«
In seiner Raserei, sich auf die Männer zu stürzen, hätte Richard ihr fast das Gesicht zertrümmert, doch als er sah, dass sie es war, ließ er die Fäuste sinken und starrte wütend in die Menge.
»Ich bitte Euch, mein Lord, meine Dame«, jammerte eine der Frauen, »habt Erbarmen mit uns. Wir sind doch nichts weiter als beklagenswerte Kinder des Schöpfers. Habt Erbarmen.«
»Ihr seid eine Bande von Dieben!«, brüllte Richard. »Ihr bestehlt einen Menschen, der euch zu helfen versucht!«
Er unternahm einen weiteren Versuch, sich auf die ganze Bande zu stürzen, doch Nicci hielt seine Handgelenke fest. »Nicht, Richard!«
Die Leute sprengten auseinander wie Mäuse beim Anblick einer fauchenden Katze.
Als Nicci seine Fäuste fallen ließ, sah Richard, dass sie am Mund blutete.
»Was ist nur los mit Euch? Ihr verschenkt Geld an Menschen, die Euch lieber ausrauben würden, als abzuwarten, dass Ihr es ihnen freiwillig gebt? Warum verschenkt Ihr Geld an dieses Ungeziefer?«
»Das reicht. Ich werde nicht hier stehen und mir anhören, wie du die Kinder des Schöpfers beleidigst. Wer bist du, dass du andere verurteilst? Wer bist du, mit deinem vollen Bauch, dass du dir anmaßt zu beurteilen, was richtig ist? Du hast keine Ahnung, was diese Menschen durchgemacht haben, und doch bist du mit deinem Urteil schnell zur Hand.«
Richard atmete befreiend durch und ermahnte sich noch einmal, was er mehr als alles andere bedenken musste: in Wirklichkeit war es nicht Nicci, die er beschützte.
Aus seinem Rucksack förderte er einen Hemdsärmel zu Tage, befeuchtete ihn mit Wasser aus einem um seine Taille geschlungenen Schlauch und wischte ihr behutsam den blutverschmierten Mund und das Kinn ab. Sie zuckte zusammen, als er sich an ihr zu schaffen machte, ließ ihn ihre Wunde aber untersuchen, ohne zu protestieren.
»Es ist nicht schlimm«, erklärte er ihr. »Nur eine Platzwunde im Mundwinkel. Haltet jetzt still.«
Ruhig ließ sie über sich ergehen, wie er mit einer Hand ihren Kopf festhielt, während er ihr übriges Gesicht mit der anderen vom Blut säuberte.
»Danke, Richard.« Sie zögerte. »Ich war sicher, einer von ihnen würde mir die Kehle durchschneiden.«
»Warum habt Ihr nicht Euer Han benutzt, um Euch zu schützen?«
»Hast du schon vergessen? Dafür hätte ich der Verbindung, die Kahlan am Leben hält, Kraft entziehen müssen.«
Er sah in ihre blauen Augen. »Ja, wahrscheinlich. In diesem Fall möchte ich Euch danken, dass Ihr Euch zurückgehalten habt.«
Nicci schwieg, als sie zu Fuß und ihre gesamten Habseligkeiten auf dem Rücken tragend die Stadt Wellig verließen. Trotz der Kälte dauerte es nicht lange, bis seine Stirn mit Schweißperlen übersät war.
Schließlich hielt er es nicht länger aus. »Würde es Euch etwas ausmachen, mir zu erklären, was das eben zu bedeuten hatte?«
Ihre Stirn zuckte. »Diese Menschen waren bedürftig.«
Richard fasste seinen Nasenrücken zwischen Daumen und Zeigefinger und musste sich zusammenreißen, um nicht ausfallend zu werden. »Und deswegen habt Ihr ihnen unser ganzes Geld geschenkt?«
»Bist du so eigensüchtig, dass du deinen Besitz mit niemandem teilen willst? Bist du so eigensüchtig, von den Hungernden zu verlangen, dass sie verhungern, von denen ohne Kleidung, dass sie erfrieren, von den Kranken, dass sie sterben? Bedeutet dir Geld mehr als ein Menschenleben?«
Richard biss sich auf die Wangen, um seinen Zorn im Zaum zu halten. »Und die Pferde? Ihr habt sie praktisch verschenkt.«
»Mehr konnten wir für sie nicht bekommen. Diese Menschen waren in Not. Unter den gegebenen Umständen war das das Beste, was wir tun konnten. Wir haben aus den edelsten Motiven gehandelt. Es war unsere Pflicht, unsere Selbstsucht hinten anzustellen und diesen Menschen mit Freuden das zu geben, was sie dringend benötigen.«
Dort, wo sie in jenes Gebiet hineinmarschierten, das vor noch nicht langer Zeit die Ödnis, ein Ort ohne Wiederkehr, gewesen war, existierte keine in ihre Richtung führende Straße.
»Was wir hatten, brauchten wir dringend«, erwiderte er.
Nicci sah ihm kurz in die Augen. »Du musst noch sehr viel lernen, Richard.«
»Was Ihr nicht sagt.«
»Du warst dein Leben lang vom Glück verfolgt, du hattest Möglichkeiten, die sich gewöhnlichen Menschen niemals bieten. Ich will, dass du erkennst, wie gewöhnliche Menschen gezwungen sind zu leben, wie sie um ihr blankes Überleben kämpfen müssen. Wenn du lebst wie sie, wirst du begreifen, warum die Imperiale Ordnung so wichtig ist, warum dieser Orden für die Menschen der einzige Lichtblick ist.
Wenn wir an unserem Bestimmungsort angelangt sind, werden wir nichts mehr besitzen. Wir werden genauso sein wie all die anderen unglücklichen Menschen in dieser niederträchtigen Welt, die kaum darauf hoffen können, es aus eigener Kraft zu schaffen. Du machst dir keine Vorstellung, wie das ist. Ich möchte, dass du begreifst, wie das Mitgefühl des Ordens den gewöhnlichen Menschen jenes Leben in Würde ermöglicht, auf das sie ein Anrecht haben.«
Richard richtete seinen Blick wieder auf das menschenleere Land, das sich vor ihnen erstreckte. Eine Schwester der Finsternis, die von ihrer Kraft keinen Gebrauch machen konnte, und ein Zauberer, dem es verboten war, seine zu benutzen; gewöhnlicher konnten sie vermutlich nicht mehr werden.
»Ich dachte, Ihr wolltet etwas lernen«, sagte er.
»Ich bin auch deine Lehrerin. Manchmal lernen Lehrerinnen mehr als ihre Schüler.«