7

»Sieh mir in die Augen, Kind«, sagte Nicci mit ihrer sanften, seidenweichen Stimme, ihre Hand unter das Kinn des Mädchens legend.

Nicci bog das ausgemergelte Gesicht nach oben. Die dunklen, weit auseinander liegenden Augen blinzelten teilnahmslos und wirr; es gab in ihnen nichts zu sehen.

Nicci straffte sich und empfand ein dumpfes Gefühl der Enttäuschung; es war immer dasselbe. Manchmal ertappte sie sich dabei, wie sie den Menschen in die Augen sah, so wie jetzt, und sich dann fragte, warum eigentlich? Falls sie überhaupt nach etwas suchte, so wusste sie zumindest nicht, wonach.

Sie setzte ihr gemächliches Defilee entlang der Reihe aus Stadtbewohnern fort, die alle miteinander auf der einen Seite des staubigen Marktplatzes angetreten waren. Zweifellos kamen mehrmals im Monat Leute von den umliegenden Farmen und aus den kleineren Gemeinden an Markttagen in die Stadt, und manche blieben sogar über Nacht, wenn sie von weit her gekommen waren. Heute war kein Markttag, für ihre Zwecke würde er jedoch vollkommen ausreichen.

Einige wenige der sich dicht aneinander kauernden Gebäude besaßen ein zweites Stockwerk, gewöhnlich ein oder zwei Wohnräume für die Familie über ihrem kleinen Ladenlokal. Nicci erblickte eine Bäckerei, den Laden eines Flickschusters, ein kleines Ladengeschäft, in dem Töpferwaren verkauft wurden, einen Schmied, einen Kräuterhändler, ein Geschäft, in dem Lederwaren feilgeboten wurden – das Übliche. Diese kleinen Ortschaften glichen einander weitest gehend.

Viele der Bewohner aus dem Ort arbeiteten auf den umliegenden Weizen- und Hirsefeldern, hüteten Vieh und besaßen weitläufige Gemüsegärten. Da Mist, Stroh und Lehm im Übermaß vorhanden waren, wohnten sie in Häusern aus grob mit Lehm verputztem Flechtwerk. Einige der Geschäfte mit einem zweiten Stockwerk hatten sogar eine Fachwerkkonstruktion mit Schindelverkleidung aufzuweisen.

Hinter ihr füllten übellaunige, waffenstrotzende Soldaten den größten Teil des Platzes. Der Ritt durch die Hitze hatte sie müde gemacht, schlimmer noch, sie langweilten sich. Nicci wusste, die geringste falsche Bewegung konnte unter ihnen eine wüste Raserei auslösen. Eine Kleinstadt, selbst eine, die nur magere Beute verhieß, bot eine willkommene Ablenkung. Es war weniger die gewaltsame Eroberung als vielmehr das Zerstören, das ihnen Freude machte; manchmal jedoch war es auch das Erobern. Die nervösen Frauen vermieden es nach Möglichkeit, den dreisten Blicken der Soldaten zu begegnen.

Während sie an den abgerissenen Menschen vorüberschlenderte, blickte Nicci in die Augen derer, die sie anschauten. Die meisten waren vor Entsetzen aufgerissen und nicht nur starr auf die Soldaten, sondern auch auf den eigentlichen Grund ihrer Angst gerichtet: Nicci selbst – oder, wie die Menschen es sich angewöhnt hatten, sie zu nennen, die ›Herrin des Todes‹. Der Name gefiel ihr weder, noch störte er sie, er war schlicht eine Tatsache, die sie zur Kenntnis nahm, ein Umstand, dem sie nicht mehr Bedeutung beimaß, als wenn ihr jemand erzählt hätte, er habe eines ihrer Strumpfpaare gestopft.

Einige, das wusste sie, starrten auf den goldenen Ring in ihrer Unterlippe. Der Tratsch dürfte sie bereits davon unterrichtet haben, dass eine auf diese Weise gebrandmarkte Frau eine persönliche Sklavin Kaiser Jagangs war – und damit tiefer stand als einfache Bauern wie sie selbst. Dass sie den goldenen Ring anstarrten, oder was sie deswegen von ihr dachten, war sogar noch weniger von Belang, als ›Herrin des Todes‹ genannt zu werden.

Jagang herrschte ausschließlich in dieser Welt über ihren Körper, in der nächsten würde ihre Seele bis in alle Ewigkeit dem Hüter gehören. Ihre körperliche Existenz in dieser Welt war eine reine Qual, das Dasein ihrer Seele in der nächsten würde es nicht weniger sein. Leben und Qual waren schlicht die beiden Seiten ein und derselben Münze – eine dritte gab es nicht.

Kräuselnder, über ihrer rechten Schulter aus der Feuergrube aufsteigender Rauch wurde von einem launenhaften Wind verweht und erzeugte einen dunklen Streifen am strahlend blauen Nachmittagshimmel. Aufeinander geschichtete Steine zu beiden Seiten der Gemeindekochstelle stützten eine oberhalb des Feuers ruhende Stange. Dort aufgespießt, konnten zwei oder drei Schweine oder Schafe gleichzeitig geröstet werden. Vermutlich ließ sich die Kochstelle mit Hilfe von abnehmbaren Seitenwänden vorübergehend in eine Räucherkammer verwandeln.

Zu anderen Gelegenheiten wurde eine im Freien liegende Feuerstelle – oft in Verbindung mit einer Schlachtung – zur Erzeugung von Seife benutzt, da Seife üblicherweise nicht in geschlossenen Räumen hergestellt wurde. Nicci sah eine hölzerne Aschewanne, wie sie bei der Herstellung von Lauge Verwendung fand, an der Seite des offenen Geländes stehen, neben einem großen Eisenkessel, der zur Fettgewinnung benutzt werden konnte. Lauge und Fett waren die Grundbestandteile von Seife. Manche Frauen verliehen ihrer Seife gerne etwas Wohlgeruch, indem sie Kräuter und Ähnliches, wie Lavendel oder Rosmarin, beigaben.

Als Nicci klein war, hatte ihre Mutter sie jeden Herbst, wenn geschlachtet wurde, gezwungen, den Leuten beim Seifemachen zu helfen. Ihre Mutter behauptete, anderen zu helfen forme den Charakter. Nicci hatte noch immer etliche kleine Flecken und Narben an Handrücken und Unterarmen, wo sie das kochende Fett bespritzt und ihre Haut Blasen geworfen hatte. Stets hatte ihre Mutter sie gezwungen, ein elegantes Kleid anzuziehen – nicht etwa, um bei den anderen, die sich solche Kleidung nicht leisten konnten, Eindruck zu schinden, sondern damit Nicci auffiel und sich unbehaglich fühlte. Die Aufmerksamkeit, die ihr rosa Kleid erregte, hatte mit Bewunderung nichts zu tun. Wenn sie mit dem hölzernen Löffel im brodelnden Kessel rührte, während Lauge zugegeben wurde, versuchten die anderen Kinder, ihr Kleid zu bespritzen und zu ruinieren, und fügten dabei auch ihr Verbrennungen zu. Niccis Mutter hatte dazu bemerkt, die Brandwunden seien die Strafe des Schöpfers.

Während Nicci vorüberdefilierte und die angetretenen Menschen in Augenschein nahm, waren die einzigen Geräusche die weit entfernt jenseits der Gebäude stehenden Pferde, das gelegentliche Husten der Menschen sowie die züngelnden Flammen der Feuergrube, die in der Brise knisterten und schlugen. Die Soldaten hatten sich bereits an den beiden Schweinen schadlos gehalten, die man an der Stange geröstet hatte, daher war der Duft gebratenen Fleisches längst mit dem Wind verflogen, und zurückgeblieben war nur der säuerliche Schweißgeruch sowie der Gestank menschlicher Behausungen. Ob in einer Krieg führenden Armee oder in einer friedlichen Stadt – der Kot der Menschen roch stets gleich.

»Ihr alle wisst, weshalb ich hier bin«, verkündete Nicci. »Wieso habt ihr Leute mich gezwungen, die Mühen einer solchen Reise auf mich zu nehmen?« Sie blickte an der Front aus vielleicht zweihundert Menschen entlang, die in Vierer- oder Fünferreihen dort angetreten waren. Die Soldaten, die ihnen befohlen hatten, ihre Häuser und Felder zu verlassen, waren bei weitem in der Überzahl. Sie blieb vor einem Mann stehen, zu dem die Leute, wie ihr aufgefallen war, immer wieder hinüberschauten.

»Nun?«

Der Wind wehte ihm sein dünnes, graues Haar über den kahl werdenden gesenkten Schädel, während er den Blick auf den Boden vor ihren Füßen heftete. »Wir besitzen nichts, was wir hergeben könnten, Herrin. Wir sind eine arme Gemeinde. Wir haben nichts.«

»Du bist ein Lügner. Ihr hattet zwei Schweine. Ihr hieltet es für angebracht, ein Schlemmerfest zu feiern, statt den Bedürftigen zu helfen.«

»Aber wir müssen doch essen.« Es war weniger ein Argument als eine Entschuldigung.

»Das müssen andere auch, aber die können sich nicht so glücklich schätzen wie ihr. Sie kennen nichts anderes als jede Nacht den nagenden Schmerz des Hungers in ihrem Bauch. Was ist das für ein widerwärtiges Trauerspiel, dass jeden Tag Tausende Kinder sterben, schlicht weil sie nichts zu essen haben, und Millionen andere den nagenden Schmerz des Hungers kennen – während Kerle wie du, in einem Land des Überflusses, nichts anderes vorzubringen haben als selbstsüchtige Ausflüchte. Zu haben, was man zum Leben braucht, ist ein Menschenrecht, das von denen respektiert werden muss, in deren Macht es steht, anderen zu helfen.

Unsere Soldaten müssen ebenfalls essen. Glaubst du vielleicht, unser Kampf zum Wohl der Menschen ist einfach? Tag für Tag setzen diese Männer ihr Leben aufs Spiel, damit du deine Kinder in einer anständigen, zivilisierten Gesellschaft großziehen kannst. Wie kannst du diesen Männern in die Augen sehen? Und wie können wir unsere Truppen auch nur mit Nahrungsmitteln versorgen, wenn nicht jeder Einzelne die gute Sache unterstützt?«

Der bebende Mann blieb stumm.

»Was kann ich tun, um euch den Ernst eurer Verpflichtung gegenüber dem Leben anderer einzuschärfen? Eure Spende an die Bedürftigen ist eine bindende moralische Pflicht – ein Beitrag zum größeren Wohle aller.«

Plötzlich wurde Nicci weiß vor Augen. Mit einem Schmerz wie von glühend heißen Nadeln, die ihr in die Ohren getrieben wurden, drang Jagangs Stimme durch ihren Verstand.

Warum müsst Ihr dieses Spielchen spielen? Bestraft die Menschen exemplarisch! Erteilt ihnen eine Lektion, dass man mich nicht ignorieren darf!

Nicci begann zu wanken. Der explosionsartige Schmerz in ihrem Kopf hatte sie vollständig blind gemacht. Sie ließ ihn durch ihren Körper fließen, als ob sie dies bei einem Fremden beobachtete. Ihre Unterleibsmuskeln zuckten und krampften sich zusammen. Hätte man sie der Länge nach mit einer rostigen, mit Widerhaken versehenen Lanze durchbohrt, die Schmerzen hätten unmöglich schlimmer sein können. Ihre Arme hingen schlaff herab, während sie darauf wartete, dass entweder Jagangs Ungehaltenheit ein Ende nahm oder der Tod sie ereilte.

Sie vermochte nicht zu sagen, wie lange die Marter dauerte. Wenn er dies tat, verlor sie jedes Zeitgefühl – der Schmerz war zu allumfassend. Aus den Erzählungen anderer, die mitbekamen, was ihr angetan wurde, sowie aus eigener Anschauung, wenn es anderen widerfuhr, wusste sie, dass es manchmal nur einen kurzen Augenblick dauerte. Manchmal zog es sich über Stunden hin.

Es über Stunden auszudehnen kam einer Energievergeudung Jagangs gleich – sie vermochte keinen Unterschied zu erkennen und hatte ihm das auch gesagt.

Plötzlich konnte sie nicht mehr einatmen. Es war, als schlösse sich eine riesige Faust um ihr Herz, bis es nicht mehr schlug. Sie glaubte, ihre Lungen müssten bersten. Ihre Knie waren kurz davor, nachzugeben.

Wagt es nicht noch einmal, mir nicht zu gehorchen!

Mit einem tiefen Japsen füllten sich ihre Lungen wieder. Wie stets endete Jagangs Züchtigung mit einem unerträglich strengen, säuerlichen Geschmack auf der Zunge, so als hätte man plötzlich den Mund voll frischen, unreifen Zitronensafts, und einem brennenden Schmerz in den Nerven am Kieferansatz unterhalb der Ohrläppchen. Die Folge war ein dröhnender Schädel und Zähneklappern. Als sie die Augen aufschlug, war sie wie immer überrascht, nicht inmitten einer Blutlache zu stehen. Sie fasste sich an den Mundwinkel und betastete dann ein Ohr ganz leicht mit ihren Fingern. Sie konnte kein Blut entdecken.

Einen kurzen Augenblick fragte sie sich, wieso Jagang ausgerechnet jetzt in ihren Verstand hatte eindringen können, manchmal nämlich konnte er dies nicht. Bei keiner der anderen Schwestern spielte es sich auf diese Weise ab – zu deren Verstand hatte er stets Zugang.

Als ihr Blick sich wieder klärte, gewahrte sie Menschen, die sie anstarrten. Sie wussten nicht, weshalb sie stehen geblieben war. Die jungen Männer – und auch einige der älteren – riskierten verstohlene Seitenblicke auf ihren Körper. Sie waren es gewohnt, Frauen in eintönigen, formlosen Kleidern zu sehen, Frauen, deren Körpern man ansah, wie sehr die endlose Schufterei und die fast unablässige Schwangerschaft vom Zeitpunkt ihrer Fruchtbarkeit an sie mitgenommen hatte. Eine Frau wie Nicci hatten sie noch nicht zu Gesicht bekommen, eine Frau, aufrecht und hoch gewachsen, die ihnen in die Augen sah, die ein elegantes schwarzes Kleid trug, das sich um ihren nahezu makellosen, weder von harter Arbeit noch den Wehen der Geburt gezeichneten Körper schmiegte. Der tiefschwarze Stoff stand in scharfem Kontrast zum blassen Schwung ihres Dekolletes, das der Schnitt ihres spitzenbesetzten Mieders noch betonte. Nicci war gegen solche Blicke gefeit. Manchmal waren sie ihren Zwecken dienlich, meistens jedoch nicht, daher beachtete sie sie gar nicht.

Sie setzte ihren Marsch an den Menschen vorbei fort, Jagangs Befehle ignorierend; sie kam seinen Befehlen nur selten nach. In den meisten Fällen war sie gleichgültig gegenüber seinen Züchtigungen. Wenn überhaupt, so ließ sie sie mit Freuden über sich ergehen.

Vergebt mir, Nicci. Ihr wisst, ich wollte Euch nicht wehtun.

Auch seine Stimme überhörte sie, während sie die zu ihr aufschauenden Augen musterte. Nicht jeder wagte das. Sie mochte es, denen in die Augen zu sehen, die den Mut hatten, heimlich einen Blick auf sie zu riskieren. Die meisten hatten einfach entsetzliche Angst.

Eine Befürchtung, die sich schon bald als überaus berechtigt erweisen würde.

Ihr müsst tun, was ich von Euch verlange, Nicci, sonst zwingt Ihr mich am Ende nur, Euch etwas Grauenhaftes anzutun. Das wollen wir beide nicht. Eines schönen Tages werde ich etwas tun, von dem Ihr Euch nicht mehr erholen werdet.

Wenn das Euer Wunsch ist, bitte, antwortete sie in Gedanken.

Es war nicht als Herausforderung gedacht, es war ihr schlicht egal.

Ihr wisst, das ist nicht mein Wunsch, Nicci.

Ohne die Schmerzen war seine Stimme kaum störender als eine lästige Fliege; sie achtete nicht auf sie. Stattdessen richtete sie das Wort an die Menge.

»Habt ihr eigentlich eine Vorstellung, welche Mühen für den Kampf um eure Zukunft aufgewendet werden? Oder erwartet ihr etwa zu profitieren, ohne selbst etwas zu tun? Viele unserer tapferen Soldaten haben im Kampf gegen die Unterdrücker des Volkes, im Kampf für unseren Neuanfang ihr Leben gelassen. Wir kämpfen, damit alle Menschen gleichermaßen am zukünftigen Wohlstand teilhaben können. Ihr seid verpflichtet, uns in unserem Bemühen um euer Wohl zu unterstützen. So wie jeder Einzelne die moralische Verpflichtung hat, den Bedürftigen zu helfen, so ist auch dies seine Pflicht.«

Commander Kardeef, einen Ausdruck säuerlichen Missfallens im Gesicht, pflanzte sich vor ihr auf. Das schräg in sein zerfurchtes Gesicht einfallende Sonnenlicht tauchte seine halb geschlossenen Augen in tiefe Schatten. Seine Missbilligung ließ sie ungerührt, er war nie mit irgendwas zufrieden. Nun gut, verbesserte sie sich, fast nie.

»Nur durch Gehorsam und Opfer können die Menschen Tugend erlangen. Euer Beitrag zum Orden besteht darin, für ihre Willfährigkeit zu sorgen. Wir sind nicht hier, um Unterricht in Bürgerrecht abzuhalten.«

Commander Kardeef war sich seiner standesbedingten Macht über sie gewiss, auch er hatte ihr bereits Schmerzen zugefügt. Was Kadar Kardeef ihr antat, ließ sie mit derselben Gleichgültigkeit über sich ergehen wie das, was Jagang ihr zufügte.

Nur in den tiefsten Abgründen des Schmerzes vermochte sie ansatzweise etwas zu empfinden; selbst der Schmerz war jener absoluten Leere vorzuziehen, die sie sonst verspürte.

Kadar Kardeef wusste vermutlich nichts von der Züchtigung, die Jagang soeben beendet hatte, oder von seinen Anordnungen. Seine Exzellenz machte von Commander Kardeefs Verstand keinen Gebrauch. Für Jagang war es ein mühevolles Unterfangen, Menschen zu beherrschen, die die Gabe nicht besaßen – er konnte es, doch lohnte es selten die Mühe. Er überließ es denen mit der Gabe, die Menschen für ihn zu kontrollieren. In gewisser Weise bediente sich ein Traumwandler der Gabe bei denen, die sie besaßen, um die Verbindung zu ihrem Verstand herzustellen. Man könnte sagen, wer die Gabe besaß, ermöglichte es Jagang überhaupt erst, ihn so mühelos zu beherrschen.

Kadar Kardeef blickte verärgert auf sie herab, als sie in sein sonnengebräuntes, faltiges Gesicht hinaufsah. Er bot – mit seinen dornenbesetzten Lederriemen quer über seiner massiven Brust, seinem gepanzerten Schulter- und Brustharnisch, seinem Kettenpanzer und seiner Ansammlung viel gebrauchter Waffen – eine eindrucksvolle Erscheinung und wies, als stumme Zeugen seiner Tapferkeit im Kampf, am ganzen Körper zahlreiche Narben auf. Sie hatte sie allesamt gesehen.

Wenige Offiziere standen im Rang höher, wenigen brachte man mehr Vertrauen entgegen als Kadar Kardeef. Er gehörte der Imperialen Ordnung seit seiner Jugend an, hatte sich immer weiter emporgedient, bis er an Jagangs Seite kämpfte, als man das Imperium der Imperialen Ordnung von ihrem Heimatland Altur’Rang ausgehend ausweitete, um nach und nach den Rest der Alten Welt zu unterwerfen. Kadar Kardeef war der Held des Feldzugs ›Kleine Bresche‹, jener Mann, der beinahe ganz allein dem Verlauf der Schlacht eine Wendung gegeben hatte, als er die Feindeslinien durchbrach und persönlich jene drei mächtigen Könige niedermetzelte, die ihre Truppen vereint hatten, um die Imperiale Ordnung in die Falle zu locken und vernichtend zu schlagen, bevor diese Gelegenheit fand, die Fantasie von Millionen in einem Flickenteppich aus Königreichen, Lehngütern, Clans, Stadtstaaten und endlosen, von Bündnissen diverser Kriegsherren kontrollierten Gebieten lebenden Menschen zu besetzen.

Die Alte Welt war ein Pulverfass gewesen, das nur auf den Funken der Revolution gewartet hatte. Diesen Funken bildeten die Predigten der Imperialen Ordnung. Waren die Hohepriester die Seele des Ordens, dann war Jagang sein Skelett und seine Muskeln. Wenige Menschen begriffen Jagangs Genie – entweder sahen sie nur den Traumwandler oder den grimmig kämpfenden Krieger. Er war weit mehr.

Jagang hatte Jahrzehnte gebraucht, um den Rest der Alten Welt in die Knie zu zwingen – und den Orden endlich auf den Weg zu größerem Ruhm zu bringen. Während jener Jahre des Kampfes für den Orden hatte Jagang, obwohl fast ständig in kriegerische Auseinandersetzungen verwickelt, hart am Aufbau jenes Straßensystems gearbeitet, das es ihm ermöglichte, Truppen und Nachschub in Windeseile über große Entfernungen zu transportieren. Je mehr Länder und Völker er sich einverleibte, desto mehr Arbeitskräfte setzte er zum Bau von noch mehr Straßen ein, über die er noch mehr Land erobern konnte. Auf diese Weise konnte er die Verbindungen aufrechterhalten und schneller auf Situationen reagieren, als irgendwer jemals für möglich gehalten hätte. Ehemals entlegene Regionen waren auf einmal mit dem Rest der Alten Welt verbunden, Jagang hatte sie über ein Straßennetz fest miteinander verknüpft. Entlang dieser Straßen hatten sich die Völker der Alten Welt erhoben und sich ihm angeschlossen, als er der Imperialen Ordnung den Weg bereitete.

Bei alledem war Kadar Kardeef dabei gewesen. Mehr als einmal hatte er Verwundungen davongetragen, als er Jagang das Leben rettete. Einmal hatte Jagang den Bolzen einer Armbrust abgefangen, um Kardeef zu retten. Falls man überhaupt davon ausgehen konnte, dass Jagang einen Freund besaß, so traf dies am ehesten auf Kadar Kardeef zu.

Nicci war Kardeef zum ersten Mal begegnet, als er zum Beten in den Palast der Propheten in Tanimura gekommen war. Der alte König Gregor, der damals das Land und damit auch Tanimura regierte, war gerade spurlos verschwunden. Kadar Kardeef galt als ernster und gottesfürchtiger Mann; vor der Schlacht betete er zum Schöpfer für das Blut des Feindes und danach für die Seelen jener Männer, die er getötet hatte. An jenem Tag, so hieß es, hatte er angeblich für die Seele König Gregors gebetet. Plötzlich stellte die Imperiale Ordnung die neuen Herrscher in Tanimura. Die Menschen feierten tagelang in den Straßen.

Im Verlauf von drei Jahrtausenden hatten die Schwestern in ihrem Zuhause im Palast der Propheten in Tanimura Regierungen kommen und gehen sehen. In den meisten Fällen betrachteten die Schwestern unter der Führung ihrer Prälatin Regierungsangelegenheiten als kleinliche Albernheiten, die man am besten gar nicht beachtete; sie glaubten an eine höhere Berufung. Die Schwestern waren überzeugt, sie würden im Palast der Propheten bleiben und ungestört ihrer Arbeit nachgehen können, noch lange nachdem der Orden dem Staub der Geschichte anheim gefallen wäre. Es hatte zahlreiche Revolutionen gegeben, und alle waren wirkungslos verpufft. Diese jedoch riss sie mit.

Damals war Kadar Kardeef – fast zwanzig Jahre jünger – als gut aussehender Eroberer in die Stadt hineingeritten. Viele der Schwestern waren fasziniert von diesem Mann, Nicci nicht. Er dagegen war fasziniert von ihr.

Selbstverständlich sandte Kaiser Jagang Männer von so unschätzbarem Wert wie Commander Kardeef nicht aus, um bereits eroberte Länder zu befrieden. Er hatte Kardeef mit einer sehr viel wichtigeren Aufgabe betraut: Er sollte seinen kostbaren Besitz bewachen – Nicci.

Nicci löste ihre Aufmerksamkeit von Kadar Kardeef und wandte sich wieder den Leuten zu.

Sie richtete ihren festen Blick auf jenen Mann, der zuvor gesprochen hatte. »Wir können nicht zulassen, dass jemand seine Verantwortung auf andere und auf unseren Neuanfang abwälzt.«

»Bitte, Herrin … wir besitzen nichts…«

»Gleichgültigkeit unserer Sache gegenüber ist Verrat.«

Er besann sich eines Besseren und verkniff es sich, dieser Feststellung zu widersprechen.

»Du scheinst nicht zu verstehen. Dieser Mann in meinem Rücken aber will, dass du Folgendes begreifst: Die Imperiale Ordnung lässt sich in der Treue zu ihren Zielen nicht beirren – wenn du deine Pflicht nicht erfüllst. Ich weiß, du hast die Geschichten gehört, dieser Mann aber möchte, dass du die grausame Wirklichkeit kennen lernst. Es sich nur vorzustellen ist niemals ganz dasselbe. Und niemals ganz so grauenhaft.«

Sie starrte den Mann unverwandt an und wartete auf seine Antwort. Er benetzte seine vom Wetter aufgeplatzten Lippen.

»Wir brauchen einfach noch ein wenig Zeit … Unser Getreide gedeiht gut. Sobald die Ernte eingefahren ist … könnten wir unseren angemessenen Teil beisteuern für den … für den…«

»Den Neubeginn.«

»Genau, Herrin«, sagte er unter heftigem Nicken, »den Neubeginn.« Daraufhin senkte sich sein Blick wieder auf den Staub zu seinen Füßen, und sie setzte ihren Weg an der Reihe entlang fort.

Eigentlich war nicht die Kollekte ihre Aufgabe, sondern die Einschüchterung.


Der Augenblick war gekommen.

Ein Mädchen, das unverwandt zu Nicci hochgesehen hatte, versperrte ihr den Weg und lenkte sie von ihrem Vorhaben ab. Die großen, dunklen Augen des Mädchens blinzelten in unschuldigem Staunen. Alles war neu für sie, und sie war begierig, alles in sich aufzunehmen. In ihren Augen leuchtete jene seltene, zerbrechliche und höchst vergängliche Eigenschaft: eine arglose Sicht der Welt, die noch unberührt war von Schmerz, Verlust und Boshaftigkeit.

Nicci nahm das Kinn des jungen Mädchens in ihre Hand und schaute ihr tief in ihre wissbegierigen Augen.

In einer ihrer frühesten Erinnerungen hatte sich Niccis Mutter ebenso über sie gebeugt, ihr Kinn in der Hand, und auf sie herabgeblickt. Auch Niccis Mutter hatte die Gabe besessen. Sie behauptete, die Gabe sei sowohl ein Fluch als auch eine Prüfung. Ein Fluch, weil sie ihr Fähigkeiten bescherte, die andere nicht besaßen, und ein Test, weil man an ihr erkannte, ob man seine Überlegenheit zu Unrecht ausspielte. Niccis Mutter hatte so gut wie nie von ihrer Gabe Gebrauch gemacht. Diener verrichteten die Arbeit, sie verbrachte die meiste Zeit in der Geborgenheit ihres Freundeskreises, wo sie sich höheren Zielen widmete.

»Gütiger Schöpfer, aber Niccis Vater ist ein Monster«, hatte sie sich gewöhnlich händeringend beklagt, woraufhin ihr einige der Freunde murmelnd ihr Mitgefühl versichert hatten. »Warum muss er mir eine so schwere Bürde auferlegen! Ich fürchte, seine ewige Seele ist jenseits aller Hoffnung und Gebete.« Woraufhin die anderen Frauen ihr mit der Zunge schnalzend voller Bitterkeit beipflichteten.

Die Augen ihrer Mutter waren vom selben matten Braun wie der Rückenpanzer einer Kakerlake, für Niccis Empfinden standen sie zu eng beieinander. Auch ihr Mund war schmal, als habe ihre immer währende Missbilligung ihn in dieser Position erstarren lassen. Wenngleich Nicci ihre Mutter nie als wirklich hässlich empfand, so hielt sie sie auch nie für schön, obwohl ihre Freunde ihr genau dies mit schöner Regelmäßigkeit versicherten.

Niccis Mutter behauptete, Schönheit sei für eine fürsorgliche Frau ein Fluch und nur für Huren ein Segen.

Verwirrt vom Ärger ihrer Mutter über ihren Vater hatte Nicci schließlich wissen wollen, was er denn angestellt hatte.

»Nicci«, hatte ihre Mutter an jenem Tag geantwortet und ihr winziges Kinn in die Hand genommen. Nicci harrte der Worte ihrer Mutter voller Spannung. »Du hast wunderschöne Augen, aber du siehst mit ihnen nichts. Die Menschheit besteht aus elenden Schuften – das ist ihr Los. Machst du dir überhaupt eine Vorstellung, wie schmerzhaft es für all die Menschen ohne deine vielen Vorzüge sein muss, in dein hübsches Gesicht zu schauen? Das ist das Einzige, was du anderen bescherst: unerträgliches Leid. Der Schöpfer hat dich aus keinem anderen Grund in die Welt gesetzt, als das Leid der anderen zu lindern, und du kommst daher und bringst ihnen nichts als Unheil.«

Die Freunde ihrer Mutter nickten, nippten an ihrem Tee und versicherten sich untereinander tuschelnd ihrer betrübten, aber unerschütterbaren Zustimmung.

In diesem Augenblick hatte Nicci zum allerersten Mal erfahren, dass sie den unauslöschlichen Makel eines unbestimmten, namenlosen, uneingestandenen Unheils in sich trug.

Nicci blickte in das ungewöhnliche Gesicht, das zu ihr aufsah. Heute würden die dunklen Augen dieses Mädchens Dinge sehen, die es sich noch nicht vorstellen konnte. Diese großen Augen sahen hin, ohne wahrzunehmen. Sie konnte unmöglich begreifen, was ihr bevorstand und warum.

Was für ein Leben hatte sie zu erwarten?

Es wäre nur zu ihrem Besten so…

Der Augenblick war gekommen.

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