23

Kahlan spürte, dass Cara in ihrem blutroten Lederanzug in der Tür zu ihrem Schlafzimmer stand und beobachtete, wie Richard seine Siebensachen in den Rucksack stopfte. Auf Richards knappe Anweisungen reagierte sie nur mit einem Nicken; sie hatten sich längst damit abgefunden, dass es stets um Fragen von Leben und Tod ging. Offenbar hatten beide Angst, irgendeine folgenschwere Bemerkung zu machen, da sie befürchteten, sie könnten die heiklen, aus der Verzweiflung geborenen und schwierigen Vereinbarungen beeinträchtigen, die sie getroffen hatten.

Das spärliche Licht, das durch das kleine Fenster hereinfiel, trug nur wenig zur Aufheiterung der bedrückten Stimmung bei, zumal Cara, drüben in der Tür, noch einen Teil des Lichtes aussperrte. Das Zimmer hatte die Atmosphäre eines Verlieses, und Richard wirkte in seiner dunklen Kleidung wie ein Schatten. Während der Zeit, die sie im Bett gelegen und versucht hatte, wieder gesund zu werden, hatte Kahlan das Zimmer oft so gesehen: als ihr Verlies. Jetzt war diese Atmosphäre geradezu mit Händen greifbar, wenn man davon absah, dass statt des üblen Gestanks einer steinernen Zelle, aus der zitternde, schwitzende Gefangene zur ihrer Hinrichtung abgeholt wurden, der säuberliche Duft von Fichtenholzwänden vorherrschte.

Cara wirkte abwechselnd elend und hilflos und gleich darauf wie ein Blitz kurz vor dem Einschlag. Kahlan ahnte, dass die Gefühle der Mord-Sith ebenso aufgewühlt sein mussten wie ihre eigenen, die zwischen Verzweiflung einerseits und Zorn andererseits auf des Messers Schneide schwankten. Mord-Sith waren solche Situationen nicht gewöhnt, allerdings war Cara mittlerweile mehr als nur eine Mord-Sith.

Kahlan sah zu, wie Richard seine schwarze Hose, seinen schwarzgoldenen Überwurf, die silbernen Armreifen, den Übergurt mit den Taschen und das goldene Cape in seinen Rucksack packte, wo sie einen Großteil des zur Verfügung stehenden Platzes einnahmen. Er trug seine dunkle Waldkleidung, zum Umziehen war keine Zeit. Kahlan hoffte, er werde bald Gelegenheit haben, zu fliehen und wieder die Kleidung eines sie in den Kampf gegen die Imperiale Ordnung führenden Kriegszauberers anzulegen. Sie alle waren darauf angewiesen, dass er das d’Haranische Reich gegen die einfallenden Horden aus der Alten Welt führte.

Aus nicht immer vollkommen einleuchtenden Gründen war Richard zum Dreh- und Angelpunkt ihres Kampfes geworden. Kahlan wusste, dass sein Empfinden in diesem Punkt – dass die Menschen bereit sein mussten, für sich selbst zu kämpfen und nicht für ihn – nach wie vor Gültigkeit hatte. War eine Idee richtig, dann musste sie auch ohne einen Anführer tragen, sonst war dieser Anführer gescheitert.

Während er Kleidungsstücke und kleinere Habseligkeiten in den Rucksack warf, machte Richard Kahlan den Vorschlag, sie könne doch Zedd aufsuchen, vielleicht habe der eine Idee. Sie versprach es nickend, obwohl sie ganz genau wusste, dass auch Zedd nichts würde tun können. Dieses entsetzliche Dreieck würde sich gegen Einflüsse von außen aller Voraussicht nach als immun erweisen – dafür hatte Nicci gesorgt. Richard wollte ihr damit nur Hoffnung machen, es war seine einzige Möglichkeit, ihr in der freudlosen Leere ihrer Wirklichkeit Trost zu spenden.

Kahlan wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Sie stand da, die Finger ineinander verflechtend, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen. Es musste doch irgendetwas geben, das man sagen konnte, irgendetwas Bedeutsames, ein letztes Wort, solange sie noch die Gelegenheit dazu hatte, aber ihr fiel einfach nichts ein. Vermutlich wusste er, was sie in diesem Augenblick empfand, wie ihr ums Herz war, und dem war nichts hinzuzufügen. Sie presste ihre geballte Faust auf den schmerzhaften Kummerknoten in ihrer Magengrube.

Ein Gefühl verhängnisvoller Schicksalhaftigkeit drängte sich in den Raum wie eine vierte Person, wie ein erbarmungsloser Aufseher, der nur darauf wartet, Richard abzuführen. Dies war der Tiefpunkt des Grauens: etwas ausgeliefert zu sein, das man nicht sehen konnte, mit dem man nicht vernünftig reden, das man weder überzeugen noch bekämpfen konnte. Das Schicksal wartete – unerbittlich, unerreichbar, gleichgültig.

Als Cara aus der Türöffnung verschwand, zog Richard eine Handvoll Gold und Silber aus einer Innentasche seines ledernen Rucksacks. Hastig warf er ungefähr die Hälfte zurück in den Rucksack, dann hielt er ihr das Übrige hin.

»Nimm das. Kann sein, dass du es brauchst.«

»Ich bin die Mutter Konfessor. Ich brauche kein Gold.« Offenbar nicht gewillt, mit ihr in den letzten gemeinsamen Augenblicken, die ihnen noch blieben, zu streiten, warf er es ihr trotzdem aufs Bett.

»Möchtest du einige der Schnitzereien mitnehmen?«, fragte sie. Die Frage war albern, das war ihr klar, aber sie musste die entsetzliche Stille füllen, und abgesehen von einer aussichtslosen Bitte kam ihr nichts in den Sinn.

»Nein, ich habe keine Verwendung dafür. Denk an mich, wenn du sie anschaust, und vergiss niemals, dass ich dich liebe.« Er rollte eine Decke fest zusammen, wickelte sie in ein kleines Stück Öltuch und zurrte beides mit Lederriemen an der Unterseite seines Rucksacks fest. »Wenn ich wirklich eine will, kann ich sie mir jederzeit schnitzen.«

Kahlan reichte ihm ein Stück Seife.

»Ich brauche deine Schnitzereien nicht, um an deine Liebe zu denken. Schnitze etwas, damit Nicci einsieht, dass du frei sein solltest.«

Richard sah bitter lächelnd auf. »Ich habe die Absicht, ihr unmissverständlich zu verstehen zu geben, dass ich mich weder ihr noch der Imperialen Ordnung jemals unterwerfen werde, dazu brauche ich keine Schnitzereien. Sie glaubt, sie hat sich das alles wunderbar zurechtgelegt, aber sie wird feststellen müssen, dass ich sehr unangenehme Gesellschaft sein kann.« Richard rammte seine Faust in den Rucksack, um mehr Platz zu schaffen. »Überaus unangenehme Gesellschaft.«

Cara kam ins Zimmer zurückgestürzt, kleine, obenauf an den Ecken zusammengebundene Pakete in den Händen, die sie nacheinander aufs Bett fallen ließ.

»Ich habe Euch ein paar Vorräte zusammengestellt, Lord Rahl, Kleinigkeiten für unterwegs, die sich halten – Trockenfleisch und -fisch und Ähnliches. Etwas Reis mit Bohnen. Obenauf habe ich … ein selbst gebackenes Brot gelegt, das esst bitte zuerst, solange es noch frisch ist.«

Er dankte ihr, stopfte die kleinen Pakete in seinen Rucksack und hielt das Brot schnuppernd unter die Nase, bevor er es verstaute. Dann bedachte er Cara mit einem anerkennenden Lächeln.

Richard straffte sich. Sein Lächeln erlosch, auf eine Weise, die Kahlan aus irgendeinem Grund das Blut gefrieren ließ. Offenkundig mit sich ringend, ob er sich zu einem letzten, grausamen Schritt hinreißen lassen sollte, streifte Richard den Waffengurt über den Kopf. Mit der Linken die in Gold und Silber gehaltene Scheide festhaltend, zog er das Schwert der Wahrheit mit seiner rechten Hand, deren Knöchel sich weiß verfärbten.

Mit einem einzigartigen, metallischen Klirren verkündete die Klinge ihre Freiheit.

Richard krempelte seinen Ärmel hoch und zog das Schwert über seinen Unterarm. Kahlan zuckte zusammen, als sie es sah; sie wusste nicht, ob er sich aus Versehen oder mit Absicht einen so tiefen Schnitt beigebracht hatte. Dann fiel ihr ein, dass Richard jede scharfe, stählerne Klinge präzise zu führen wusste, und ein eiskalter Schauder überlief sie.

Er drehte die Klinge und zog beide Seiten durch das sanft hervorsprudelnde, leuchtend rote Blut. Anschließend tauchte die Klinge darin ein, ließ sie ausgiebig davon kosten und weckte ihre Gier nach mehr. Kahlan hatte keine Ahnung, was er damit bezweckte oder warum er es ausgerechnet in diesem Augenblick tat, trotzdem war es beängstigend, Zeugin dieses Rituals zu sein. Hätte er das Schwert doch nur früher gezogen und Nicci niedergemetzelt; vor ihrem Blut hätte sich Kahlan nicht gefürchtet.

Richard nahm die Scheide in die Hand und rammte das Schwert der Wahrheit hinein. Das über seine Hand rinnende Blut hinterließ auf der Waffe schmierig rote Flecken, als er der Länge nach, bis hin zur Spitze, mit der Hand darüberfuhr und sie mitsamt Scheide anschließend in der Mitte mit der Faust umschloss. Den Kopf gesenkt, die Augen auf die matten, silbernen und goldenen Spiegelbilder gerichtet, deren Glanz selbst noch durch sein eigenes Blut hindurchschimmerte, beugte er sich näher zu ihr.

Als Richard aufblickte, sah Kahlan den tödlichen Zorn der Magie in seinen Augen flackern. Er hatte den fürchterlichen Zorn des Schwertes beschworen, ihn auf den Plan gerufen, und es wieder zurückgeschoben.

Richard reichte ihr das Schwert in seiner Scheide. Vor Anstrengung traten die Sehnen auf seinem Handrücken hervor, und durch das Blut waren seine weißen Knöchel zu erkennen.

»Nimm es«, sagte er mit heiserer Stimme, die verriet, wie sehr er mit sich rang.

Wie gebannt wog Kahlan die Scheide in den Händen. In diesem kurzen Augenblick, bevor er seine blutverschmierte Hand zurückzog, verspürte sie einen vibrierenden Schlag, so als habe ein bislang ungekannter, glühend heißer Zorn sie mit der Waffe verschweißt; fast erwartete sie, Funken stieben zu sehen. Sie spürte, wie der kalte Stahl einen Zorn verströmte, der sie fast auf die Knie warf. Hätte sie sie loslassen können, sie hätte die Waffe um ein Haar fallen lassen. Doch sie konnte es nicht.

Als Richard seine Hand zurückgezogen hatte, büßte das in seiner Scheide steckende Schwert seinen leidenschaftlichen Zorn ein und fühlte sich nicht anders an als jede andere Waffe auch.

Richard hob warnend einen Finger, den gefährlichen Glanz der Magie noch immer in den Augen. Seine Kiefermuskeln spannten sich, bis sie hinauf bis zu den Schläfen deutlich hervortraten.

»Ziehe dieses Schwert niemals«, warnte er mit jener Ehrfurcht gebietend rauen, leisen Stimme, »es sei denn, dein Leben steht auf dem Spiel. Du weißt, welch grauenhafte Dinge diese Waffe anrichten kann, nicht nur bei dem, der durch die Macht der Klinge fällt, sondern auch bei dem, der der Macht ihres Heftes ausgeliefert ist.«

Kahlan, wie gelähmt von seinem eindringlichen Blick, konnte bloß nicken. Nur zu deutlich erinnerte sie sich an das erste Mal, als Richard einen Mann mit diesem Schwert getötet hatte. Er hatte es – damals, als er zum ersten Mal mit dem Grauen des Tötens Bekanntschaft gemacht hatte – zu ihrem Schutz getan.

Als die Waffe damals das erste Mal zum Einsatz kam und ihre Magie zum ersten Mal entfesselt wurde, hätte dies um ein Haar auch Richard das Leben gekostet. Er hatte sich sehr schwer getan, zu lernen, wie man den vom Schwert der Wahrheit entfesselten Sturm der Magie beherrschte.

Auch ohne den magischen Zorn des Schwertes konnten Richards Augen Bedrohlichkeit vermitteln; Kahlan erinnerte sich an mehrere Gelegenheiten, als er allein mit seinem Raubtierblick einen ganzen Saal zum Schweigen gebracht hatte. Es gab nur wenig Schlimmeres als das Gefühl, sich dem Blick aus diesen Augen entziehen zu müssen. Jetzt gierten sie danach zu töten.

»Sei zornig, wenn du es benutzen musst«, knurrte er. »Sei sehr zornig, denn das wird deine einzige Rettung sein.«

Kahlan musste schlucken. »Verstehe.« Sie nickte. »Ich werde es beherzigen.«

Aufrichtiger Zorn war der einzige Schutz gegen die lähmenden Schmerzen, die das Schwert als Preis für seine Dienste forderte.

»Leben oder Tod, es gibt keinen anderen Grund. Was geschehen wird, weiß ich nicht, und mir wäre es sehr recht, du müsstest es nicht erfahren. Aber lieber das, als dass du ohne diese fürchterliche Waffe bist, wenn du sie brauchst. Ich habe sie Blut kosten lassen, sie wird unersättlich danach gieren. Wird sie gezogen, wird sie im Blutrausch sein.«

»Verstehe.«

Endlich beruhigte sich sein Blick. »Es tut mir Leid, dich mit der fürchterlichen Verantwortung dieser Waffe belasten zu müssen, erst recht auf diese Weise, aber es ist der einzige Schutz, den ich dir bieten kann.«

Die Hand sachte zum Trost auf seinen Arm gelegt, erwiderte Kahlan: »Ich werde es nicht benutzen müssen.«

»Gütige Seelen, das will ich auch hoffen.« Über seine Schulter schauend warf er einen letzten Blick auf ihr gemeinsames Zimmer und schließlich auf Cara. »Ich muss aufbrechen.«

Sie überging seine Worte. »Gebt mir zuerst noch Euren Arm.«

Er sah, dass sie von Kahlans Genesung noch Verbände übrig hatte, und reichte ihr widerspruchslos seinen blutverschmierten Arm. Cara tupfte ihn rasch mit einem feuchten Lappen ab, bevor sie ihn mit frischen Verbänden umwickelte.

Als sie fertig war, bedankte Richard sich bei ihr. Cara riss das Endstück auseinander, wand die Enden um sein Handgelenk und band rasch einen Knoten. »Wir werden Euch ein Stück des Weges begleiten.«

»Nein, Ihr bleibt hier.« Richard krempelte seinen Ärmel herunter. »Das möchte ich nicht riskieren.«

»Aber…«

»Ich möchte, dass Ihr Kahlan beschützt, Cara, deswegen lasse ich sie in Eurer Obhut zurück. Ihr werdet mich bestimmt nicht enttäuschen.«

Caras wunderschöne blaue, tränennasse Augen spiegelten jene Art von Schmerz wider, den sie, da war Kahlan sicher, niemals einem anderen Menschen zeigen würde.

»Ich schwöre sie ebenso zu beschützen, wie ich Euch beschützen würde, Lord Rahl, vorausgesetzt, Ihr schwört zu fliehen und zurückzukommen. «

Um ihren Schmerz ein wenig zu lindern, lächelte Richard ihr kurz zu. »Ich bin Lord Rahl – ich muss Euch nicht daran erinnern, dass ich mich schon aus weitaus brenzligeren Situationen herausgewunden habe.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich schwöre es, Cara, ich werde den Versuch zu fliehen niemals aufgeben.«

Kahlan merkte, dass er keinen Eid auf Caras Worte geleistet hatte, er wollte kein Versprechen geben, das er vielleicht nicht würde einlösen können.

Über das Bett gebeugt, zog er seinen Rucksack heran. »Ich muss gehen.« Er hielt die Riemen fest umklammert, wie in einem Würgegriff. »Ich darf auf keinen Fall zu spät kommen.«

Kahlans Finger schlossen sich fester um seinen Arm, Cara legte ihm eine Hand auf die Schulter. Richard drehte sich um und fasste Kahlan bei den Schultern.

»Hör mir jetzt gut zu. Am liebsten wäre es mir, wenn du hier in diesem Haus bliebest, hier in den Bergen, wo du in Sicherheit bist, aber ich glaube nicht, dass dich etwas anderes als mein letzter Wille davon überzeugen kann. Bleib wenigstens noch vier oder fünf Tage, für den Fall, dass es mir gelingt herauszufinden, was gespielt wird, und ich Nicci entkommen kann. Sie mag eine Schwester der Finsternis sein, aber auch mir sind magische Dinge längst nicht mehr fremd. Es wäre nicht das erste Mal, dass ich einer mächtigen Person entkomme. Ich habe Darken Rahl in die Unterwelt zurückverbannt und den Tempel der Vier Winde in einer anderen Welt aufgesucht, um einer Pest Einhalt zu gebieten. Ich habe mich folglich schon aus gefährlicheren Situationen befreien können. Wer weiß – vielleicht ist es einfacher, als es aussieht. Sollte ich ihr tatsächlich entwischen, werde ich hierher zurückkehren, also warte bitte, wenigstens eine Weile. Falls ich Nicci im Augenblick nicht entkommen kann, versuche Zedd zu finden. Vielleicht hat er eine Idee, was man tun kann. Bei unserem letzten Treffen war Ann bei ihm, sie ist die Prälatin der Schwestern des Lichts und kennt Nicci schon seit langem. Vielleicht weiß sie etwas, das uns zusammen mit Zedds Ideen weiterhelfen kann.«

»Mach dir keine Sorgen um mich, Richard, pass nur auf dich auf. Wenn du fliehen kannst, werde ich auf dich warten, sei also in diesem Punkt ganz unbesorgt und konzentriere dich ganz darauf, dieser Frau zu entkommen. Wir werden eine Weile hier auf dich warten – das verspreche ich.«

»Ich werde auf sie aufpassen, Lord Rahl. Macht Euch um die Mutter Konfessor keine Sorgen.«

Richard nickte, dann wandte er sich noch einmal an Kahlan. Seine Finger schlossen sich fester um ihre Arme und seine Miene verfinsterte sich.

»Ich kenne dich und weiß, was du jetzt empfindest, trotzdem musst du mir zuhören. Die Zeit ist noch nicht reif, und vielleicht wird sie es niemals sein. Du denkst vielleicht, ich täusche mich in diesem Punkt, aber wenn du die Augen zugunsten deiner frommen Wünsche vor der Wirklichkeit verschließt, nur weil du die Mutter Konfessor bist und dich für die Menschen in den Midlands verantwortlich fühlst, dann brauchen wir uns keine Hoffnungen mehr zu machen, jemals wieder vereint zu sein – denn dazu wird es nicht kommen. Wir werden gestorben sein, und mit uns der Kampf für den Frieden.«

Sein Gesicht kam bedrohlich näher. »Vor allem dürfen unsere Streitkräfte nicht das Herz der Armee der Imperialen Ordnung angreifen, das wäre voreilig. Sollten sie – oder du – in der Überzeugung, gewinnen zu können, einen Angriff unmittelbar gegen das Herzstück der Armee führen, wäre dies das Ende unserer Streitkräfte und damit das Ende aller unserer Möglichkeiten. All unsere Hoffnung auf Freiheit und darauf, die Imperiale Ordnung endgültig in die Knie zu zwingen, wären auf Generationen hinaus verspielt. In derselben Weise müssen wir in Niccis Fall unseren Verstand gebrauchen und dürfen sie auf keinen Fall unmittelbar und offen attackieren, denn das wäre unser beider Tod. Du hast versprochen, dich nicht selbst zu töten, um mich zu befreien. Schlag dieses Versprechen nicht unnötig in den Wind, indem du dem zuwiderhandelst, um was ich dich jetzt bitte.«

Das alles kam ihr im Augenblick so unbedeutend vor, nur dass sie ihn verlieren würde, zählte. Sie hätte die ganze restliche Welt den Wölfen vorgeworfen, hätte sie ihn dafür behalten können.

»Also gut, Richard.«

»Versprich es mir.« Seine Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Arme. Er rüttelte sie. »Es ist mir ernst. Wenn du nicht auf meine Warnung hörst, machst du womöglich alles zunichte und zerstörst Hoffnungen der Menschen für die nächsten fünfzig Generationen. Du könntest diejenige werden, die die Freiheit ausrottet und die Welt in ein finsteres Zeitalter stürzt. Versprich mir, dass du das nicht tust.«

Tausend Gedanken wirbelten ihr in einem chaotischen Durcheinander durch den Kopf. Ihm unverwandt in die Augen blickend, hörte Kahlan sich sagen: »Ich verspreche es, Richard. Ohne auf deinen ausdrücklichen Wunsch hin werden wir keinen direkten Angriff führen.«

Eine gewaltige Last schien ihm von den Schultern genommen. Als er sie an sich zog und in die Arme nahm, ging ein Lächeln über sein Gesicht. Er fuhr ihr mit den Fingern durchs Haar und nahm, als sie ihm die Lippen zum Kuss anbot, ihren Kopf in beide Hände. Ihre Hände glitten unter seine Schultern, als sie ihn an sich drückte. Es währte nur kurz, doch in diesem unverhofften Augenblick des Glücks teilten sie ein ganzes Universum von Gefühlen.

Viel zu bald waren Kuss und Umarmung vorbei. Eine schnelle Drehung, und das Gefühl von Nähe und Wärme war verschwunden und einer entsetzlich schicksalsschweren Last gewichen, die sich unwiderruflich auf sie legte. Richard schloss Cara kurz in die Arme, dann warf er seinen Rucksack über eine Schulter; an der Schlafzimmertür drehte er sich noch einmal um.

»Ich liebe dich, Kahlan, keine Frau vor dir, und keine nach dir. Nur dich allein.« Seine Augen drückten es noch wesentlich deutlicher aus.

»Du bist mein Ein und Alles, Richard, das weißt du.«

»Euch liebe ich auch, Cara.« Er zwinkerte ihr zu. »Passt gut auf euch beide auf, bis ich zurück bin.«

»Ganz bestimmt, Lord Rahl. Darauf habt Ihr mein Wort als Mord-Sith.«

Er bedachte sie mit einem gezwungenen Lächeln. »Ich habe Euer Wort als Cara.«

Dann war er verschwunden.

»Ich liebe Euch auch, Lord Rahl«, sagte Cara leise zur leeren Tür.

Kahlan und Cara eilten ins Wohnzimmer und sahen ihm in der Türöffnung stehend nach, wie er über die Wiese rannte.

Cara formte die Hände zu einem Trichter vor dem Mund. »Ich liebe Euch auch, Lord Rahl«, rief sie.

Richard drehte sich im Laufen um und erwiderte ihren Abschiedsgruß mit einem Winken.

Gemeinsam verfolgten sie, wie Richards dunkle Gestalt über das abgestorbene, braune Gras hinwegflog und seine fließenden Bewegungen ihn rasch davontrugen. Unmittelbar bevor er zwischen den Bäumen verschwand, blieb er stehen und drehte sich noch einmal um. Kahlan und er sahen sich ein letztes Mal in die Augen, mit einem Blick, der alles sagte. Er machte kehrt und verschwand im Wald, wo seine Kleidung es unmöglich machte, ihn von Bäumen und Unterholz zu unterscheiden.

Kahlan fiel auf die Knie und ließ ihren Gefühlen freien Lauf. Den Kopf in den Händen überließ sie sich hilflos ihren Tränen über das, was ihr wie das Ende der Welt vorkam.

Cara hockte sich neben sie und legte ihr einen Arm um die Schultern. Kahlan konnte es nicht ertragen, dass Cara sie so weinen, sie so hilflos sah. Mit einem verschwommenen Gefühl der Dankbarkeit nahm sie zur Kenntnis, dass Cara ihren Kopf an ihre Schulter zog und kein Wort sprach.

Wie lange sie in ihrem weißen Mutter-Konfessor-Kleid schluchzend auf dem Lehmboden gehockt hatte, wusste sie nicht, nach einer Weile jedoch gelang es Kahlan, damit aufzuhören, obwohl ihr Herz noch immer jäh in hoffnungsloser Traurigkeit versank. Jeder Augenblick, der verstrich, wurde ihr zur Qual; denn vor ihr lag eine Zukunft ohne Freude, eine Ödnis voller Seelenqualen.

Schließlich hob sie den Kopf und sah sich in der Hütte um. Ohne Richard wirkte sie leer. Er hatte ihr Leben verliehen, jetzt war sie ein toter Ort.

»Was wollt Ihr nun tun, Mutter Konfessor?«

Es wurde dunkel, ob wegen des Sonnenuntergangs oder der dichter werdenden Wolken, vermochte Kahlan nicht zu sagen; sie rieb sich die Augen.

»Fangen wir an, unsere Sachen zusammenzusuchen. Wir werden ein paar Tage hier bleiben, wie Richard uns gebeten hat, anschließend sollten wir alles, was die Pferde nicht tragen können, vergraben und die Fenster mit Brettern vernageln. Wir werden die Hütte fest und sicher verschließen.«

»Für den Fall, dass wir eines Tages ins Paradies zurückkehren?«

Kahlan sah sich nickend um und versuchte verzweifelt, sich statt auf ihre erdrückenden Gedanken auf irgendeine Aufgabe zu konzentrieren. Am schlimmsten würde es nachts werden, wenn sie allein im Bett lag und er nicht bei ihr war.

Im Augenblick kam ihr dieses Tal eher vor wie ein verlorenes Paradies. Es fiel ihr schwer zu glauben, dass Richard tatsächlich fort war. Ihr kam es so vor, als sei er nur kurz fortgegangen, um ein paar Fische zu fangen, Beeren zu suchen oder die Hügel zu erkunden, und als müsste er ganz sicher bald zurückkommen.

»Ganz recht, wenn wir eines Tages zurückkehren, wird es wieder unser Paradies sein. Ich bin überzeugt, wenn Richard tatsächlich zurückkommt, wird unser Paradies dort sein, wo immer wir uns gerade befinden.«

Kahlan merkte, dass Cara ihre Antwort gar nicht mitbekommen hatte. Die Mord-Sith starrte unverwandt durch die Tür nach draußen.

»Cara, was ist?«

»Lord Rahl ist fort.«

Kahlan legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, es schmerzt, aber wir müssen jetzt all unsere Gedanken auf…«

»Nein.« Cara wandte sich um, ihre blauen Augen wirkten seltsam verstört. »Nein, das meinte ich nicht. Was ich meinte, war, ich kann ihn nicht mehr spüren. Ich spüre die Bande zu Lord Rahl nicht mehr. Wo er sich befindet, weiß ich – er läuft den Pfad zu diesem Pass hinauf –, aber ich fühle es nicht mehr.« Sie wirkte verängstigt und erschrocken. »Bei den gütigen Seelen, es ist, als würde man blind. Ich weiß nicht, wie ich ihn finden soll. Ich kann Lord Rahl nicht finden.«

In einem ersten Anfall von Panik dachte Kahlan, er sei vielleicht zu Tode gestürzt, oder Nicci habe ihn hingerichtet. Sie versuchte, sich ihre Befürchtungen auszureden.

»Nicci weiß von den Banden. Vermutlich hat sie sie mit Hilfe ihrer Magie überlagert oder gar gekappt.«

»Sie hat sie irgendwie überlagert.« Cara ließ den Strafer durch die Finger rollen. »Das muss es sein. Meinen Strafer spüre ich noch, daher weiß ich, dass Lord Rahl noch lebt. Die Bande existieren noch … nur spüre ich sie nicht, um zu wissen, wo er sich befindet.«

Kahlan atmete erleichtert auf. »Das muss es sein. Nicci will nicht, dass sie verfolgt wird, und hat daher die Bande zu ihm mit Hilfe von Magie überdeckt.«

Kahlan erkannte, dass die Menschen, wenn sie durch ihre Bande zu Richard vor dem Traumwandler geschützt sein wollten, jetzt auch ohne die Rückversicherung der Bande an ihn würden glauben müssen. Wenn sie überleben wollten, mussten sie die Verbindung in ihren Herzen bewahren.

Waren sie dazu im Stande? Waren sie eines solchen Glaubens fähig?

Cara starrte zur Tür hinaus, über die Wiese und auf die Berge, in denen Richard verschwunden war. Glühend orangefarbene Streifen durchzogen, Wundmalen gleich, den blauvioletten Himmel jenseits der blaugrauen Berge. Die schneebedeckten Gipfel reichten tiefer herunter als zuvor, der Winter nahte mit Riesenschritten. Wenn Richard nicht bald fliehen konnte und zurückkehrte, würden Kahlan und Cara noch vor seinem Eintreffen fortgehen müssen.

Schübe Schwindel erregenden Kummers drohten sie in einer Flut aus Tränen zu ertränken. Sie musste etwas tun, also ging sie ins Schlafzimmer, um ihr Konfessorkleid auszuziehen. Sie würde an die Arbeit gehen und mit dem Verschließen der Hütte und den Vorbereitungen für ihre Abreise beginnen.

Kahlan war gerade dabei, sich das Kleid über den Kopf zu ziehen, als Cara in der Tür erschien.

»Wohin wollen wir überhaupt gehen, Mutter Konfessor? Ihr sagtet, wir würden fortgehen, aber wohin, davon habt Ihr nichts gesagt.«

Kahlan sah Seele im Fenster stehen, die Fäuste seitlich am Körper, den Blick nach draußen in die Welt gerichtet. Sie nahm die Schnitzerei vom Fensterbrett und ließ die Finger über ihre fließenden Formen wandern.

Der Anblick der Figur, das Berühren, das Gefühl ihrer Kraft erweckte in Kahlan das Bedürfnis, in sich zu gehen und ihren Entschluss zu festigen. Schon einmal hatte sie alle Hoffnung aufgegeben, doch dann hatte Richard ihr diese Figur geschnitzt. Sie ließ ihre andere Hand sinken und stieß mit den Fingern gegen Richards Schwert, das quer über ihrem Bett lag. Kahlan konzentrierte sich und bündelte ihre wild kreisenden, verzweifelten Gedanken zu einem Gefühl des Zorns.

»Zur Imperialen Ordnung, um sie zu vernichten.«

»Ihr wollt die Imperiale Ordnung vernichten?«

»Diese Bestien haben mir mein ungeborenes Kind genommen und jetzt auch noch Richard. Ich werde dafür sorgen, dass sie das tausendfach und abertausendfach bereuen. Ich habe der Imperialen Ordnung einst den erbarmungslosen Tod geschworen. Jetzt ist die Zeit gekommen. Und wenn ich sie bis auf den letzten Mann töten muss, um Richard wiederzubekommen, dann werde ich genau das tun.«

»Ihr habt Lord Rahl einen Eid geschworen.«

»Richard hat nicht gesagt, ich darf sie nicht töten, sondern nur, wie ich dabei nicht vorgehen darf. Mein Eid bezog sich darauf, ihnen kein Schwert ins Herz zu stoßen; dass ich sie nicht an ihren zahllosen Wunden verbluten lassen darf, davon war nicht die Rede. Ich werde meinen Eid nicht brechen, aber ich habe die feste Absicht, sie bis zum letzten Mann zu töten.«

»Das dürft Ihr nicht, Mutter Konfessor.«

»Warum nicht?«

Caras blaue Augen funkelten bedrohlich. »Weil Ihr mir eine Hälfte übrig lassen müsst.«

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