Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und ein blutunterlaufenes Auge spähte heraus in den schäbigen Hausflur. »Gibt es hier eine Unterkunft? Meine Frau und ich sind auf Zimmersuche.« Bevor der Mann die Tür wieder schließen konnte, setzte Richard rasch hinzu: »Man hat uns gesagt, Ihr hättet eins frei.«
»Na und?«
Obwohl es offensichtlich war, antwortete Richard höflich: »Wir wissen nicht, wo wir unterkommen sollen.«
»Wieso kommt ihr mit euren Problemen zu mir?«
Aus dem oberen Stockwerk hörte Richard einen wütenden Wortwechsel zwischen einem Mann und einer Frau. Hinter mehreren Türen im Flur schrien ohne Unterlass irgendwelche Säuglinge; der schwere Geruch von ranzigem Öl hing in der muffigen Luft. Draußen, vor der auf eine enge Gasse hin geöffneten Hintertür, tobten kreischend kleine, von älteren Rabauken gejagte Kinder durch den kalten Nieselregen.
Ohne große Erwartungen sprach Richard in den schmalen Schlitz hinein. »Wir benötigen dringend ein Zimmer.«
Ein kleines Stück die Hinterhofgasse hinauf bellte mit monotoner Hartnäckigkeit ein Hund.
»Eine Menge Leute brauchen dringend ein Zimmer. Ich habe bloß eins, und das kann ich euch nicht geben.«
Nicci drängte Richard vorsichtig beiseite und schob ihr Gesicht ganz nahe an den Spalt.
»Wir haben genug Geld für die erste Woche.« Als er die Tür daraufhin zu schließen begann, drückte sie mit der Hand dagegen.
»Das Zimmer ist für alle da. Es ist Eure Pflicht, dafür zu sorgen, dass jeder ein Zimmer bekommt.«
Der Mann stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür und drückte sie ihr vor der Nase ins Schloss.
Richard wandte sich bereits zum Gehen, als Nicci gegen die Tür zu pochen begann. »Vergiss es«, meinte er. »Gehen wir ein Brot besorgen.«
Für gewöhnlich folgte Nicci seinem Beispiel ohne ein Wort des Widerspruchs, der Ermahnung oder auch nur des Kommentars, diesmal jedoch hämmerte sie hartnäckig gegen die Tür, statt auf ihn zu hören. Der Anstrich blätterte schichtenweise unter ihren Knöcheln ab, in allen Farben von Blau über Gelb bis hin zu Rot.
»Es ist Eure Pflicht«, rief Nicci gegen die geschlossene Tür. »Ihr habt kein Recht, uns abzuweisen.« Es erfolgte keine Antwort. »Dann werden wir Euch eben melden.«
Die Tür öffnete sich erneut einen Spalt weit. Das Auge spähte bedrohlich funkelnd heraus.
»Hat er Arbeit?«
»Nein, aber…«
»Dann verschwindet, alle beide – oder ich melde euch!«
»Und weswegen, wenn ich fragen darf?«
»Hör mal, Frau, ich habe ein Zimmer, aber das muss ich für Leute zurückhalten, die ganz oben auf der Liste stehen.«
»Woher wollt Ihr wissen, dass wir nicht ganz oben auf der Liste stehen?«
»Weil ihr das in diesem Fall gleich als Erstes gesagt und mir eure Bewilligung mit dem Siegel darauf gezeigt hättet. Wer oben auf der Liste steht, wartet schon seit geraumer Zeit auf eine Unterkunft. Ihr dagegen seid nichts weiter als Diebe, die versuchen, einem rechtschaffenen, gesetzestreuen Bürger seine Unterkunft wegzuschnappen. Und jetzt verschwindet, sonst notiere ich eure Namen für den Quartierverwalter.«
Wieder fiel die Tür krachend ins Schloss. Die Drohung, ihre Namen könnten erfasst werden, schien Niccis Durchsetzungswillen einen beträchtlichen Dämpfer aufzusetzen. Sie seufzte beleidigt, schließlich entfernten sie sich über die durchhängenden, unter ihren Füßen knarrenden und ächzenden Dielen. Wenigstens waren sie für eine kurze Weile aus dem Regen rausgekommen.
»Wir werden einfach weitersuchen müssen«, meinte sie zu ihm. »Wahrscheinlich wäre es hilfreich, wenn du erst einmal eine Arbeit fändest. Vielleicht kannst du dich morgen nach Arbeit umsehen, während ich weiter auf Zimmersuche gehe.«
Wieder draußen im kalten Regen, überquerten sie die schlammige Straße zum gepflasterten Gehweg auf der anderen Seite. Es gab noch andere Häuser, in denen sie nachfragen konnten, Richard machte sich jedoch keine Hoffnungen mehr auf ein Zimmer; längst hatte er zu zählen aufgehört, wie oft man ihnen schon die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Aber Nicci wollte unbedingt eins, also setzten sie ihre Suche fort.
Das Wetter sei ungewöhnlich kalt für so weit südlich in der Alten Welt, hatte Nicci ihm erklärt. Es hieß, die Kälteperiode und der Regen würden bald vorüber sein. Noch wenige Tage zuvor war es drückend heiß gewesen, daher hatte Richard keinen Grund, an ihrer Einschätzung zu zweifeln. Es verwirrte ihn, mitten im tiefsten Winter Wälder und Felder mit üppig grüner Vegetation zu sehen. Einige wenige Bäume hatten der Jahreszeit entsprechend ihre Blätter abgeworfen, die meisten aber präsentierten sich in ihrer vollen Pracht.
So weit südlich in der Alten Welt, wie sie derzeit waren, wurde es nie so kalt, dass es fror. Die Leute blickten ihn nur völlig verständnislos an, wenn er von Schnee erzählte. Erklärte Richard daraufhin, Schnee bestehe aus Flocken gefrorenen Wassers, das vom Himmel fiel und sich wie eine weiche Decke über die Erde legte, reagierten manche Leute verärgert, weil sie glaubten, er wolle sie auf den Arm nehmen.
Zuhause, das wusste er, wütete im Augenblick der Winter. Das Wissen, dass Kahlan höchstwahrscheinlich warm und gemütlich in der von ihm erbauten Hütte saß, bescherte ihm ein Gefühl innerer Ruhe; in diesem Licht betrachtet, war nichts in seinem neuen Leben so wichtig, dass es ihn bedrücken konnte. Kahlan hatte genug zu essen, genug Feuerholz, um nicht zu frieren, und Cara als Gesellschaft; vorübergehend war sie in Sicherheit. Der Winter würde allmählich zu Ende gehen, und im Frühling würde sie die Hütte verlassen können. Seine Gedanken und Erinnerungen an sie waren sein einziger Trost.
Die engen Gassen wurden von einem chaotischen Gemisch von Obdachlosen bevölkert, die jedes Stückchen festen Materials, dessen sie habhaft werden konnten, dazu verwendeten, ein behelfsmäßiges Dach über ihren Köpfen zu errichten. Völlig durchnässte Decken dienten als Wände. Vermutlich konnten auch er und Nicci auf diese Weise weiterexistieren, er hatte jedoch Angst, Nicci könnte in der Kälte und Nässe krank werden – und befürchtete, dass dann auch Kahlan erkranken würde.
Nicci sah auf das Blatt Papier, das sie bei sich trug. »Die Häuser in dem Verzeichnis, das man uns mitgegeben hat, stehen angeblich Neuankömmlingen zur Verfügung, nicht nur irgendwelchen in eine Liste eingetragenen Personen. Es werden doch Arbeiter gebraucht, dann sollten sie auch ein wenig genauer dafür Sorge tragen, dass diese Häuser tatsächlich frei sind. Verstehst du jetzt, Richard? Verstehst du, wie schwierig es für normale Menschen ist, sich im Leben durchzuschlagen?«
Richard, die Hände tief in den Taschen vergraben und die Schultern gegen Wind und Regen hochgezogen, fragte: »Und wie kommen wir jetzt auf eine solche Liste?«
»Wir werden eine Quartierstelle aufsuchen und einen Antrag auf ein Zimmer stellen müssen. Anschließend kann man uns dann auf eine Obdachliste setzen.«
Das klang einfach, wie sich jedoch herausstellte, waren die Dinge weitaus komplizierter, als sie sich anhörten.
»Wie soll uns ein Platz auf einer solchen Liste eine Unterkunft verschaffen, wenn es nicht genügend Zimmer gibt?«
»Es sterben doch ständig Menschen.«
»Hier gibt es Arbeit, deswegen sind wir schließlich hergekommen – genau wie alle anderen. Ich werde hart arbeiten, dann können wir es uns leisten, mehr zu bezahlen. Noch haben wir ein wenig Geld. Wir müssen bloß ein Haus finden, wo man ein Zimmer zum richtigen Preis vermietet – ohne diesen ganzen Unfug mit den Listen.«
»Bist du wirklich so unmenschlich, Richard? Wie sollen denn die weniger vom Glück Begünstigten jemals ein Zimmer finden? Der Orden legt die Preise fest, um den Wucherern das Handwerk zu legen. Er sorgt dafür, dass es keine Günstlingswirtschaft gibt. Das erzeugt Gerechtigkeit für alle. Wir müssen bloß auf eine Zimmerliste gelangen, dann wird sich alles weitere finden.«
Den Blick im Gehen auf die glänzenden Pflastersteine gesenkt, fragte sich Richard, wie lange sie wohl auf eine Unterkunft warten mussten, bis ihr Name auf der Liste ganz nach oben geklettert war. Ihm schien, als müssten eine Menge Menschen sterben, bevor sein und Niccis Name für ein Zimmer in Frage käme – während wieder andere darauf warteten, dass auch sie endlich krepierten.
Er wich erst zur einen, dann zur anderen Seite aus, um nicht mit dem Menschenstrom zusammenzustoßen, der, bemüht, nicht in den Straßenkot zu treten, auf dem Weg in die entgegengesetzte Richtung an ihnen vorüberwirbelte. Wieder einmal zog er in Erwägung, draußen vor der Stadt zu bleiben – viele taten das. Es gab jedoch massenhaft Banditen und Verzweifelte, die wiederum von jenen zehrten, die gezwungen waren, unter freiem Himmel zu kampieren, wo es keine Stadtwache gab. Wäre Nicci dieser Idee nicht abgeneigt gewesen, Richard hätte weiter außerhalb einen Platz gesucht und einen Unterschlupf gebaut, vielleicht zusammen mit ein paar anderen, um sich so gemeinsam allen Ärger vom Leib zu halten.
Die Idee stieß bei Nicci auf keinerlei Verständnis, denn sie wollte unbedingt in der Stadt leben, in die gewaltige Menschenmassen auf der Suche nach einem besseren Leben strömten. Es gab Listen, in die man sich eintragen, Schlangen, wo man sich anstellen musste, wenn man irgendwelche Amtspersonen sprechen wollte. Die Chancen dafür standen besser, behauptete sie, wenn man ein Zimmer in der Stadt hatte.
Es wurde allmählich spät. Die Schlange vor der Bäckerei reichte bis zur Tür heraus und ein Stück um den Häuserblock herum.
»Wieso stehen all diese Menschen Schlange?«, raunte Richard Nicci zu. Jeden Tag bot sich ihnen dasselbe Bild, wenn sie ein Brot kaufen wollten.
Sie zuckte mit den Achseln. »Vermutlich gibt es nicht genug Bäckereien.«
»Angesichts dieser Massen von Kunden sollte man meinen, dass mehr Leute eine Bäckerei eröffnen wollen.«
Nicci beugte sich ganz nah zu ihm, während ein tadelnd missbilligender Blick ihre Miene verfinsterte. »Die Welt ist nicht so einfach, wie du sie gerne hättest, Richard. Früher verhielt es sich so in der Alten Welt; man gestattete der verderbten Natur des Menschen zu gedeihen. Die Menschen legten die Preise für ihre Waren eigenhändig fest – wobei ihr einziges Interesse Habgier war, und nicht etwa das Wohl ihrer Mitmenschen. Nur die Wohlhabenden konnten es sich leisten, Brot zu kaufen. Jetzt sorgt die Imperiale Ordnung dafür, dass jeder die Dinge des täglichen Bedarfs zu einem gerechten Preis erhält. Der Orden kümmert sich um alle, nicht nur um die, die sich einen unlauteren Vorteil verschafft haben.«
Stets schien sie die Leidenschaft zu packen, wenn sie von der verderbten Natur des Menschen sprach. Richard wunderte sich, dass ausgerechnet eine Schwester der Finsternis sich um das Böse sorgte, machte sich aber nicht die Mühe nachzufragen.
Die Schlange kam nur langsam voran. Die Frau vor ihm, durch ihr Getuschel misstrauisch geworden, warf einen bitterbösen Blick über ihre Schulter.
Richard erwiderte ihren Blick mit einem freundlichen Lächeln.
»Guten Tag, Ma’am.« Ihr schwermütiger, düsterer Blick verlor angesichts seines strahlenden Grinsens ein wenig von seiner Härte. »Wir sind neu in der Stadt« – er deutete hinter sich – »meine Frau und ich. Ich bin auf Arbeitssuche, aber natürlich brauchen wir auch ein Zimmer. Wisst Ihr vielleicht, was ein junges Paar, das fremd ist in der Stadt, tun könnte, um an ein Zimmer zu kommen?«
Ihre Leinentasche mit beiden Händen festhaltend, vollführte sie eine halbe Drehung, ließ die Arme sinken und lehnte sich mit beiden Schultern an die Wand. Ihre Tasche enthielt nichts außer einer gelblichen Käseecke. Offenbar waren Richards Lächeln und sein freundlich verbindlicher Ton – so aufgesetzt beides war – so ungewöhnlich, dass sie sich außer Stande sah, ihr abweisendes Benehmen aufrechtzuerhalten.
»Ihr braucht unbedingt eine Arbeit, wenn Ihr Euch Hoffnung auf ein Zimmer machen wollt. Zurzeit, da all die vielen neuen Arbeitskräfte, die, bedingt durch den Überfluss, den der Orden in seiner Weisheit bereit hält, hierher kommen, gibt es in der Stadt nicht genug Zimmer. Wenn Ihr arbeitstauglich seid, müsst Ihr auch Arbeit haben, dann setzt man Euren Namen auf eine Liste.«
Immer noch lächelnd kratzte sich Richard am Kopf, während die Schlange langsam vorwärts schlurfte. »Ich kann es gar nicht abwarten, zu arbeiten.«
»Es ist einfacher, ein Zimmer zu bekommen, wenn man nicht arbeiten kann«, vertraute ihm die Frau an.
»Aber habt Ihr nicht gerade gesagt, man braucht unbedingt Arbeit, wenn man sich Hoffnung auf ein Zimmer machen will?«
»Das stimmt, vorausgesetzt Ihr seid arbeitstauglich, und das scheint ja der Fall zu sein. Wer bedürftig ist, weil er nicht für sich selber sorgen kann, hat von Rechts wegen einen Anspruch auf Mildtätigkeit und auf einen besseren Listenplatz – mein Mann, zum Beispiel, der arme Kerl. Er leidet fürchterlich unter Schwindsucht.«
»Das tut mir Leid«, sagte Richard.
Sie nickte; die Schwere ihrer Bürde schien sie zu erdrücken. »Es ist der Menschheit jämmerliches Los, zu leiden, daran kann man nichts ändern. Deshalb hat es auch gar keinen Sinn, es zu versuchen, denn erst im nächsten Leben erhalten wir unseren Lohn. In diesem Leben ist es die Pflicht jedes Einzelnen, der dazu fähig ist, den unglücklichen Not leidenden Seelen beizustehen. Auf diese Weise verdienen sich die Tüchtigen ihren Lohn im nächsten Leben.«
Richard widersprach ihr nicht. Sie drohte ihm mit erhobenem Finger.
»Wer arbeiten kann, ist es denen, die das nicht können, schuldig, sein Möglichstes zum Wohle aller beizutragen.«
»Ich kann arbeiten«, versicherte Richard ihr. »Wir kommen aus … einer kleinen Ortschaft. Wir sind einfache Leute – aus einer Farmersfamilie. Wie kennen uns in diesen Dingen, wie man es anstellt, in der Stadt Arbeit zu finden, nicht besonders gut aus.«
»Der Orden hat den Menschen Arbeit im Überfluss gegeben«, warf ein hinter Nicci stehender Mann ein und lenkte damit Richards Aufmerksamkeit auf sich. Die geölte Leinenjacke des Mannes war bis zum Hals zugeknöpft. Seine großen braunen Augen blinzelten träge wie die einer wiederkäuenden Kuh, ein Eindruck, den sein sich beim Sprechen seitlich verschiebender Unterkiefer noch unterstrich. »Der Orden nimmt jeden mit offenen Armen auf, der sich an unserem Kampf beteiligen will, aber er muss – wie es dem Wunsch des Schöpfers entspricht – die Bedürfnisse der anderen achten und sich in angemessener Form um Arbeit bemühen.«
Richard lauschte den salbungsvollen Erklärungen des Mannes mit knurrendem Magen. »Erst einmal muss man einem bürgerlichen Arbeiterkollektiv angehören; es vertritt die Rechte der Bürger des Ordens. Für die Genehmigung, dem Arbeiterkollektiv beizutreten, müsst Ihr vor einem Prüfungsausschuss sowie vor einer Eignungskommission erscheinen, wo Ihr erfahrt, welcher Sprecher des bürgerlichen Arbeiterkollektivs bereit ist, für Euch zu bürgen. Das müsst Ihr tun, bevor Ihr auf Arbeitssuche gehen könnt.«
»Warum kann ich nicht einfach irgendwohin gehen und mich vorstellen? Wieso kann man mich nicht einstellen, wenn ich den Anforderungen entspreche?«
»Nur weil Ihr vom Land seid, heißt das noch lange nicht, dass Ihr nicht darauf achten müsstet, zum größeren Wohl des Ordens beizutragen.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Richard. »Aber ich habe immer auf eigene Rechnung gearbeitet – und Land bewirtschaftet, um meine Mitmenschen mit Lebensmitteln zu versorgen, wie es unsere Pflicht ist. Ich weiß nicht, ob größere Betriebe so etwas machen.«
Das Zwinkern der großen braunen Augen setzte vorübergehend aus. Argwöhnisch musterte der Mann ihn einen Augenblick, dann nahmen seine Augen wieder ihren abwesenden Ausdruck an. Sein Kiefer verfiel abermals in seine mahlenden Bewegungen, während er seine Worte bedächtig hervorkaute.
»Die vorrangige Verantwortung der Betriebe besteht darin, auf die Bedürfnisse der Menschen zu reagieren, zum öffentlichen Wohl beizutragen und die Gerechtigkeit zu wahren. Es geht um sehr viel mehr als um die Verfolgung eng begrenzter, wirtschaftlicher Ziele.«
»Verstehe«, sagte Richard. »Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr mir verraten könntet, wie ich es richtig anstellen muss.« Er schaute kurz zu Nicci hinüber. »Ich möchte ein guter Bürger sein und alles richtig machen.«
Der Stolz des Mannes auf seine Erläuterungen, und die Art und Weise, wie seine großen Augen immer hektischer zu blinzeln begannen, während er das Gesagte lang und breit kommentierte, ließ Richard vermuten, dass der Mann auf irgendeine Weise an diesem verworrenen Prozess beteiligt war. Richard wagte nicht zu fragen, wie man einen Sprecher des bürgerlichen Arbeiterkollektivs dazu bewegte, für einen zu bürgen. Die Schlange schob sich Zoll um Zoll voran, während der Mann unterschiedliche Arten von Arbeit bis in die feinsten Einzelheiten erklärte, was für jede einzelne benötigt wurde, und wie all dies zum Wohle jener gereichte, die innerhalb des Ordens der Imperialen Ordnung und unter der Gnade des Schöpfers lebten.
Während er seine Informationen eintönig leiernd und doch mit einer gewissen selbstgefälligen Zufriedenheit weitergab, beobachtete Nicci heimlich, aber kommentarlos Richard, der den Verhaltensregeln lauschte. Jeden Augenblick schien sie zu erwarten, dass seine Höflichkeit in tödlichen Zorn umschlug, doch Richard wusste, es war sinnlos, diesem Mann zu widersprechen, daher blieb er höflich.
Wie sich herausstellte, schien der Mann, dessen Name Mr. Gudgeons lautete, am besten über die Arbeiter im Steinbruch informiert zu sein. Da Richard nur wenig über Steinbrüche wusste, vertrieb er sich die Wartezeit in der Schlange damit, ein paar Fragen zu stellen, deren – wortreiche – Beantwortung Mr. Gudgeons offenbar größtes Vergnügen bereitete.
Das Geschäft hatte zu wenig Brot und schloss, bevor sie welches kaufen konnten. Die Schlange der Wartenden löste sich unter allgemeinem Gemurmel, mit dem sie sich ausgiebig über ihr jammervolles Los beklagten, im strömenden Regen auf. Richard bedankte sich bei der Frau und Mr. Gudgeons, bevor er und Nicci weitergingen.
An einer Querstraße blieb Richard stehen, während Nicci ihren Zettel mit der Zimmerliste studierte. Ringsum ragten die klotzigen Umrisse von Gebäuden aus der Dunkelheit. Die rote Farbe an der Seitenwand eines Gebäudes war so verschossen, dass die dort aufgemalte Figur einem errötenden Gespenst ähnelte; der verblichene Kalkanstrich der Schrift unter dem langsam dahinschwindenden Mann war nicht mehr zu entziffern.
Männer, die vorüberkamen, stierten Nicci in ihren nassen, am Körper anliegenden Kleidern an, ohne ihr ein einziges Mal ins Gesicht zu sehen. Das Haar klebte auf ihrem Kopf, ihr Unterkiefer bibberte, und ihre Hände zitterten, trotzdem beklagte sie sich nie, wie alle anderen, über das Wetter. Man hatte ihnen mitgeteilt, dass sie vor dem nächsten Tag keine andere Liste mit neuen, erst kürzlich frei gewordenen Zimmern mehr bekommen konnten, daher versuchte Nicci zu verhindern, dass ihre jetzige in Fetzen ging, was in dem Regen jedoch letztlich ein aussichtsloser Kampf war.
Räudige Pferde stapften schwerfällig durch den Matsch, Karren hinter sich herziehend, von denen manch einer unter dem Gewicht seiner Ladung ächzte und stöhnte. Nur die wichtigsten Hauptverkehrsstraßen, so wie jene, auf der sie sich gerade befanden, waren breit genug, um Pferdegespanne und große Karren problemlos in beiden Richtungen passieren zu lassen. Manche Straßen waren gerade so breit, dass die Karren sie in einer Richtung durchfahren konnten; einige von diesen wiederum wurden – dort, wo es keinen Platz zum Ausweichen gab – von liegen gebliebenen Karren blockiert. In einer schmalen Straße sah Richard ein totes Pferd liegen; das verwesende Tier, umschwärmt von einer Wolke schwarzer Fliegen, war immer noch vor seinen Karren gespannt und wartete darauf, abtransportiert zu werden. Die blockierten Straßen trugen noch zur allgemeinen Verstopfung der anderen bei; viele der schmaleren Passagen erlaubten ausschließlich Fußgängerverkehr.
Der üble Geruch des Mülls und der Gestank der gleichzeitig als offene Kanalisation dienenden Straßen waren so ekelhaft, dass Richard sich in der ersten Woche, bis er empfindungslos dagegen wurde, am liebsten ständig übergeben hätte. Am schlimmsten waren die kleinen, engen Gassen, in denen er und Nicci übernachtet hatten. Der Regen diente bestenfalls dazu, den Dreck aus jedem Loch hervorzuspülen und ins Freie zu schwemmen, aber wenigstens wusch er einem, vorausgesetzt man stand aufrecht, einen Teil des Drecks herunter.
Sämtliche Städte, die Richard seit ihrer Ankunft in der Alten Welt und auf ihrer Reise von Tanimura aus nach Süden gesehen hatten, ähnelten dieser; sie alle litten unter bedrückender Armut und unmenschlichen Lebensbedingungen. Allenthalben schien die Zeit still zu stehen, alles schien gefangen in einem Sumpf aus Fäulnis, so als wären die Städte einst Orte voller Hoffnung und Ehrgeiz, voll blühenden Lebens gewesen, in denen die Menschen die Erfüllung ihrer Träume angestrebt hatten; doch diese Träume hatten sich wohl irgendwann zersetzt und übrig geblieben war nur ein graues Leichentuch aus Stillstand und Verfall. Niemanden schien das groß zu kümmern. Jeder schien, gefangen in einem Dämmerzustand, auszuharren und darauf zu warten, dass sich sein Schicksal zum Besseren wendete, ohne auch nur eine Vorstellung davon zu haben, wie dieses bessere Leben aussehen oder wie es zu Stande kommen sollte. Alle zehrten nur von einem inhaltslosen Glauben und vertrauten allein darauf, dass das Leben nach dem Tod vollkommen sein würde.
Die Städte, die Richard gesehen hatte, glichen auf erschreckende Weise seiner Vision dessen, was die Zukunft unter dem Joch der Imperialen Ordnung für die Neue Welt bereithielt.
Dies jedoch war die größte einzelne Stadt, die Richard je zu Gesicht bekommen hatte. Hätte er sie nicht mit eigenen Augen gesehen, er hätte ihre Größe niemals für möglich gehalten. Heruntergekommene Gebäude inmitten eines chaotischen Straßengewirrs, in dem es von Menschen nur so wimmelte, erstreckten sich meilenweit über eine Reihe flacher Hügel und quer durch ein endloses Schwemmgebiet am Zusammenfluss zweier Ströme. Gedrungene, baufällige Hütten, aufs Geratewohl aus mit Lehm beworfenem Flechtwerk, Holzabfällen oder wiederverwerteten Ziegeln aus Schlamm und Stroh errichtet, umschlossen den Stadtkern bis weit hinaus in das umliegende Land wie die stinkende Schlacke an einem fauligen Stamm in einem stehenden Tümpel.
Dies war die Stadt Altur’Rang – die Namensschwester jenes Landes, das jetzt das Herzstück der Alten Welt und des Ordens der Imperialen Ordnung bildete – die Heimstatt Kaiser Jagangs.
Anfangs, als sie auf ihrem Weg nach Süden und nach Altur’Rang in die Alte Welt eingetreten waren, hatten Richard und Nicci in der am weitesten nördlich gelegenen Großstadt – der Alten Welt, in Tanimura, Halt gemacht, wo einst der Palast der Propheten gestanden hatte. Tanimura, einer der letzten Orte der Alten Welt, die unter die Herrschaft der Imperialen Ordnung gefallen waren, bot einen prachtvollen Anblick mit seinen breiten Prachtstraßen, die von Bäumen und reich verzierten, mehrere Stockwerke in die Höhe ragenden und mit Säulenfassaden sowie hohen, das Licht hereinlassenden Fenstern versehenen Gebäuden gesäumt wurden. Wie sich herausstellte, war Tanimura trotz seiner Größe nicht mehr als ein Vorposten der Alten Welt und so abgelegen, dass die Fäulnis erst jetzt dort eintraf.
Für die Dauer von ein wenig mehr als einem Monat hatte Richard in Tanimura als einer von einem Dutzend Zulieferer für einen Steinmetz Arbeit gefunden, und hatte für ein gedrungenes, unansehnliches Gebäude Steine herbeigeschleppt und Mörtel angerührt. Die Steinmetze besaßen schlichte Hütten, in denen die Arbeiter mit ihren Familien hausten, daher hatte Nicci ein Dach über dem Kopf. Nach einer Weile gelangte der Meister zu der Erkenntnis, dass Richard mit seinen Steinmetzen mithalten könne. Als einer seiner Steinbehauer krank wurde, bat man Richard, beim Behauen der Granitblöcke für die Steinmetze einzuspringen.
Hammer und Meißel in der Hand zu halten, Steine zu behauen – und sie nach seinem Willen zu gestalten – kam für ihn einer Offenbarung gleich. In mancherlei Hinsicht glich es dem Schnitzen von Holz … doch auf gewisse Weise war es weit mehr als das.
Von Zeit zu Zeit schaute der Meister, die Fäuste in die Hüften gestemmt, Richard zu, wie er rechtwinklige Kanten in den harten Granit meißelte; gelegentlich korrigierte er Richards Arbeitsweise mit barscher Stimme. Nach einer Weile, nachdem der Meister erkannt hatte, dass Richard Gefallen an der Arbeit fand und einen Block auf Maß behauen konnte, machte er sich nicht mehr die Mühe, ihn zu beaufsichtigen. Nicht lange, und Richards Blöcke galten unter den Steinmetzen bei Grund- und Ecksteinen als erste Wahl.
Andere Steinbehauer trafen ein, um anspruchsvollere Arbeiten auszuführen – den Fassadenschmuck. Kurz nach ihrem Erscheinen war Richard noch ganz versessen darauf, ihre Arbeiten zu sehen. In die Fassade aus Steinquadern, die den Eingang einfassen sollte, schlugen sie eine riesige, das Licht des Schöpfers darstellende Flamme; darunter meißelten sie eine geduckt kauernde Menschenmenge.
Richard hatte an den verschiedenen Orten, die er besucht hatte – angefangen im Palast der Konfessoren in Aydindril bis hin zum Palast des Volkes in D’Hara – eine ganze Reihe von Steinmetzarbeiten gesehen, doch noch nie hatte er etwas diesen Figuren Vergleichbares erblickt, deren Entstehung er jetzt an dem Gebäude in Tanimura verfolgen konnte. Sie ließen jegliche Eleganz und Pracht vermissen, noch hatten sie etwas Anregendes, ganz im Gegenteil: Es waren missgestaltete, grobschlächtige, kriecherische Gestalten, die sich unter dem Licht zu ducken schienen. Einer der Künstler erklärte Richard, dies sei die einzig korrekte Art, den Menschen darzustellen – als lasterhaft, abstoßend und sündig. Richard konzentrierte sich weiter darauf, rechteckige Steinquader zu behauen.
Mit Fertigstellung der Steinmetzarbeiten für das Hauptquartier der Imperialen Ordnung endete auch seine Arbeit. Die Zimmerleute benötigten keine Helfer mehr, doch die Künstler sagten, sie könnten noch jemanden gebrauchen, der ihnen half, die Seelenqual der Menschen in Stein zu meißeln, und boten Richard diese Stelle an. Er lehnte ab, indem er ihnen erklärte, er habe kein Talent für die Bildhauerei. Zudem war Nicci schon seit einer Weile ganz versessen darauf, weiterzuziehen. Tanimura war nur eine Gelegenheit gewesen, sich etwas Geld zu verdienen, um für die lange Reise, die vor ihnen lag, Vorräte einzukaufen. Richard war froh, den deprimierenden Anblick dieser Steinmetzarbeiten hinter sich lassen zu können.
Überall auf ihrem Weg nach Südosten und nach Altur’Rang sah Richard in den Städten, durch die sie kamen, zahlreiche Bildhauerarbeiten an Gebäuden und weit mehr noch frei stehend auf öffentlichen Plätzen oder vor Gebäudeeingängen. Es waren ausnahmslos Darstellungen grauenhafter Dinge: Menschen, die von einem hämischen Hüter der Unterwelt ausgepeitscht wurden; Menschen, die sich eigenhändig die Augen ausstachen; leidende Menschen mit verdrehten, missgestalteten und verkrüppelten Körpern; Menschen, die Hundemeuten gleich auf allen vieren laufend über Frauen und Kinder herfielen; Menschen, die bis zu wandelnden Skeletten abgemagert oder mit Schwären übersät waren; erbärmliche Gestalten, die sich in Gräber stürzten. In den meisten dieser Szenen wachte das Licht des allwissenden Schöpfers in Gestalt einer Flamme über die bedauernswerten Menschen.
Die Alte Welt war eine einzige Verherrlichung des Elends.
Auf ihrem Weg nach Süden hatten sie in einer Reihe von Städten Halt gemacht, wo es Richard gelang, niedere Arbeiten für einen so begrenzten Zeitraum aufzutun, dass man sich in keine Wartelisten einzutragen brauchte. Nicci und er durchlebten Phasen, in denen sie sich von größtenteils aus Wasser bestehender Kohlsuppe ernährten. Manchmal gab es Reis oder Linsen oder Buchweizenbrei, und ab und zu sogar gepökeltes Schweinefleisch. Hin und wieder gelang es Richard, Fische, Vögel oder auch mal einen einzelnen Hasen zu fangen. Sich selbst zu versorgen erwies sich in der Alten Welt jedoch als schwierig, da eine Menge andere Leute auf dieselbe Idee gekommen waren. Beide waren sie auf ihrem langen Marsch hagerer geworden, und allmählich dämmerte Richard, was es mit den Bildwerken der ausgezehrten Menschen auf sich hatte.
Nicci hatte zwar ihr Ziel bestimmt, machte ihm aber ansonsten kaum Vorschriften und überließ ihm die meisten Entscheidungen, denen sie sich dann klaglos unterwarf. Woche um Woche marschierten sie, manchmal ein paar Kupferpfennige bezahlend, um sich von einem in ihre Richtung fahrenden Wagen mitnehmen zu lassen. Sie überquerten Flüsse inmitten von Städten, die groß genug für mehrere Steinbrücken waren, und passierten eine Ortschaft nach der anderen. Es gab endlose Felder mit Weizen, Hirse oder Sonnenblumen, sowie jede Menge anderer Getreidesorten, auch wenn ein großer Teil des Landes brach lag. Er sah sogar Schaf- und Rinderherden.
Farmer verkauften den Reisenden Ziegenkäse und Milch. Seit die Gabe in ihm erwacht war, konnte Richard Fleisch nur dann verzehren, wenn er nicht gerade kämpfte. Möglicherweise gehörte dies zu den Dingen, die er als Ausgleich für sein Verlangen, gelegentlich ein Leben zu vernichten, brauchte. Da er gerade nicht kämpfte, konnte er Fleisch essen, ohne dass ihm übel davon wurde. Bedauerlicherweise konnten sie sich Fleisch nur selten leisten. Käse, den er früher gern gemocht hatte, vertrug er fast überhaupt nicht mehr, seit die Gabe in ihm zum Leben erwacht war. Leider hieß es sehr oft, entweder Käse zu essen oder zu verhungern.
In erster Linie aber war es die Größe der Alten Welt und insbesondere ihre Einwohnerzahl, die ihn am meisten beunruhigten. Naiverweise hatte Richard angenommen, die Alte und die Neue Welt müssten sich im Großen und Ganzen ähnlich sein, doch das waren sie keineswegs. Die Neue Welt war nicht mehr als ein Floh auf dem Rücken der Alten.
Von Zeit zu Zeit begegneten ihnen auf ihrer Reise nach Süden gewaltige Marschkolonnen bewaffneter Soldaten, die sich auf dem Weg nach Norden befanden, in die Midlands. Mehrmals hatte es mehrere Tage gedauert, bis sämtliche Soldaten an ihnen vorübermarschiert waren. Jedesmal, wenn er Reihe auf Reihe von Soldaten erblickte, verspürte er eine Woge der Erleichterung, dass Kahlan in ihrem Zuhause in den Bergen festsaß. Die Vorstellung, sie könnte in einer Armee kämpfen, die so vielen Soldaten gegenüberstand, wie er in den Krieg ziehen sah, behagte ihm überhaupt nicht.
Im Frühling, wenn sie ihre Berghütte schließlich würde verlassen können und all diese Truppen der Imperialen Ordnung ernsthaft mit ihrer Belagerung der Neuen Welt beginnen konnten, würde jeglicher Widerstand, den das D’Haranische Reich aufzubieten im Stande wäre, gebrochen werden. Richard hoffte, dass General Reibisch sich nicht dazu entschied, die Imperiale Ordnung anzugreifen. Die Vorstellung, all die tapferen Männer könnten unter der Wucht des bevorstehenden Ansturmes zermalmt werden, war ihm unerträglich.
In einer dieser kleinen Städte war Nicci zum Fluss hinuntergestiegen, um ihre Kleider auszuwaschen, während Richard den Tag über in einem großen Stall arbeitete und Pferdeboxen ausmistete. Eine Reihe von Beamten war in die Stadt gekommen, und es gab mehr Pferde, als der Stallmeister bewältigen konnte. Richard war zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen und hatte die Arbeit bekommen. Kurz nachdem die Beamten eingetroffen waren und sämtliche Zimmer im Gasthaus belegt hatten, marschierte eine riesige Einheit von Truppen der Imperialen Ordnung ein und schlug am Stadtrand ihr Feldlager auf.
Glücklicherweise befand Nicci sich am anderen Ende der Stadt und wusch ihre Wäsche. Weniger glücklich traf es sich, dass ein Trupp durch die Stadt ziehender und sich betrinkender Soldaten auf die unrühmliche Idee verfiel, Freiwillige zu rekrutieren. Richard hielt sich bedeckt, während er die Pferde mit Wasser versorgte, der Sergeant bemerkte ihn trotzdem. Nun zur falschen Zeit am falschen Ort, wurde Richard als ›Freiwilliger‹ in die Armee der Imperialen Ordnung aufgenommen. Die frischen Freiwilligen wurden im Zentrum des gewaltigen Feldlagers einquartiert.
Als es an jenem Abend endlich dunkel war und die meisten Männer schliefen, schied Richard ebenso freiwillig wieder aus. Es dauerte bis drei Stunden vor Sonnenaufgang, sich aus den Diensten der Armee der Imperialen Ordnung eigenhändig wieder zu entlassen. Nicci war zu den Stallungen gegangen und hatte in Erfahrung gebracht, was ihm widerfahren war. Richard fand sie in ihrem Lager, wo sie im Dunkeln auf und ab lief. Rasch suchten sie ihre Siebensachen zusammen und marschierten den Rest der Nacht nach Süden. Wegen des hellen Mondscheins wanderten sie querfeldein und nicht über Straßen, für den Fall, dass eine Patrouille nach ihnen suchen sollte. Von da an machte Richard sich beim Anblick von Soldaten möglichst unsichtbar.
Im Allgemeinen aber war das kein ernsthaftes Problem. Ganze Scharen von Jugendlichen, die es auf die in Aussicht gestellte Kriegsbeute abgesehen hatten, waren nur zu gerne bereit, in die Armee einzutreten. Oft mussten sie Wochen oder gar Monate warten, bis man sie aufnahm, um sie auszubilden, so gewaltig war die Zahl derer, die sich für die Armee meldeten. Richard hatte ganze Scharen von ihnen in den Städten gesehen, wo sie Spiele spielten, zockten, sich betranken oder rauften – junge Männer, die von der Ehre träumten, die gottlosen Feinde der mächtigen Imperialen Ordnung hinzumetzeln. Wenn sie in die Armee eintraten, um loszuziehen und die erschreckende Verruchtheit und Sündhaftigkeit zu bekämpfen, die angeblich die Neue Welt verpestete, war ihnen die Bewunderung der Bevölkerung gewiss. Richard war entsetzt, welch ungeheure Menschenmassen die Alte Welt bevölkerten, denn das bedeutete, dass die bereits in der Neuen Welt stehende Armee des Ordens zahlenmäßig kaum ins Gewicht fiel. Er hatte angenommen, der Imperialen Ordnung könnte ihre Begeisterung für einen bislang nur von ihrem Heimatland aus geführten Krieg abhanden kommen, oder die Menschen der Alten Welt könnten die Mühsal, die ein solcher Krieg erforderte, leid werden. Jetzt wurde ihm klar, dass dieser Gedanke nichts als ein hinfälliger Wunschtraum gewesen war.
Man musste weder Zauberer noch Prophet sein, um zu wissen, dass die Armeen, die die Neue Welt aufzustellen im Stande war, selbst bei hemmungslos optimistischer Betrachtung nicht die geringste Chance hatten, sich gegen die Abermillionen von Soldaten zu behaupten, die Richard nach Norden hatte strömen sehen – von denen, die er nicht gesehen hatte, und die vermutlich andere Marschrouten eingeschlagen hatten, ganz zu schweigen. Das Schicksal der Midlands war besiegelt.
Spätestens als die Bewohner Anderiths sich für den Orden und gegen die Freiheit entschieden hatten, war ihm im Grunde seines Herzens klar, dass die Neue Welt in die Hand der Imperialen Ordnung fallen würde. Die Erkenntnis, wie Recht er damit behalten hatte, bereitete ihm keinerlei Genugtuung. Angesichts der Größe dieser Armee erkannte er, dass der Kampf um den Frieden verloren und der Widerstand gegen die Imperiale Ordnung Selbstmord war.
Der Lauf der Dinge schien unumkehrbar, die Welt schien verloren an die Imperiale Ordnung. Seine und Kahlans Zukunft sah nicht weniger hoffnungslos aus.
Der mit Abstand merkwürdigste Ort, den er und Nicci auf ihrer Reise in den Südosten aufgesucht hatten, ein Ort, den sie später nie wieder erwähnte, hatte weniger als eine Woche südlich von Tanimura gelegen. Richard war noch immer niedergeschlagen von den Bildhauerarbeiten, die er gesehen hatte, als Nicci in einen alten, selten benutzten Fahrweg abseits der Hauptstraße einbog. Er führte zurück in die Berge, zu einer kleinen Stadt am Ufer eines ruhigen Flusses.
Die meisten Geschäfte lagen verlassen da, der Wind wehte den Staub nach Belieben durch die zersprungenen Fenster der Lagerhäuser. Viele Wohnhäuser waren verfallen, ihre Dächer eingestürzt, und Unkraut und Kletterpflanzen taten ihr Bestes, bucklige Wände zum Einsturz zu bringen. Nur die Wohnhäuser in den Außenbezirken waren noch bewohnt, meist von Leuten, die Viehzucht betrieben und das umliegende Land bewirtschafteten.
Am Nordrand der Stadt hatte sich ein einzelner kleiner Laden gehalten, der Handelsgüter an die in der Nähe lebenden Farmer verkaufte. Außerdem gab es ein kleines Geschäft für Lederwaren, einen Wahrsager und ein einsames Gasthaus. Einige Gebäude standen zwar noch, die meisten waren jedoch längst eingestürzt. Als Richard und Nicci zu Fuß das Stadtzentrum durchquerten, war ein launenhafter Wind ihr einziger Zeuge.
Am Südrand der Stadt stießen sie auf die Überreste dessen, was einst ein großes Ziegelgebäude gewesen war.
Wortlos verließ Nicci die Straße und hielt zielbewusst auf das verlassene Gelände zu. Holzbalken und Dachkonstruktion waren den Flammen zum Opfer gefallen, eine undurchdringliche Schicht aus Unkraut und Gestrüpp hatte sich des hölzernen Fußbodens bemächtigt; im Grunde standen nur noch die Ziegelmauern, doch die waren größtenteils zu Trümmern zerfallen, und nur ein Stück der Ostwand war noch hoch genug, um einen einsamen Fensterrahmen vollends zu umschließen.
Der Wind zauste Niccis sonnenbeschienenes Haar, während sie an den völlig ausgehöhlten Überresten des Gebäudes entlangblickte. Die Arme erschöpft neben ihrem Körper, den Rücken nicht ganz so aufrecht wie gewohnt, stand sie verwundbar an einer Stelle, wo einst ein Dach ihr Schutz geboten hätte.
Fast eine ganze Stunde lang verlor sie sich unter den Geistern der Vergangenheit.
Richard stand ein wenig abseits, die Hüfte an die verkohlten Überreste einer Werkbank gelehnt, einer der wenigen Gegenstände, die im Inneren des Ziegelbaus noch erhalten geblieben waren.
»Kennst du dieses Gebäude?«, fragte er sie schließlich.
Auf seine Frage hin kniff sie die Augen halb zusammen; dann sah sie ihm lange unverwandt in die Augen, so als wäre auch er ein Geist. Schließlich ging sie zu ihm, um in Erinnerungen schwelgend mit den Fingern über die Reste der Werkbank zu streichen.
»Ich bin in dieser Ortschaft aufgewachsen«, antwortete sie gedankenverloren.
»Oh.« Richard deutete auf ihre Umgebung. »Und dieses Gebäude hier?«
»Hier wurden Rüstungen hergestellt«, sagte sie leise.
Er vermochte sich nicht vorzustellen, warum sie ausgerechnet einen Ort wie diesen aufsuchen wollte. »Rüstungen?«
»Die besten Rüstungen im ganzen Land. Doppelte Standardstärke. Könige und Edelleute kamen hierher, um ihre Rüstungen zu kaufen.«
Richard ließ den Blick verwundert über die Trümmer des Gebäudes schweifen und fragte sich, was außerdem noch hinter der Geschichte steckte.
»Kanntest du den Mann, der diese Rüstungen hergestellt hat?«
Ihre blauen Augen sahen offenkundig wieder Geister, als sie den Kopf schüttelte.
»Nein«, erwiderte sie leise. »Es tut mir sehr, sehr Leid, aber ich habe ihn niemals wirklich kennen gelernt.«
Eine Träne lief ihr über die Wange und tropfte von ihrem glatten Kinn. In diesem Augenblick wirkte sie ganz wie ein Kind, allein in der Welt und voller Angst.
Hätte er nicht gewusst, was er über sie wusste, Richard hätte dieses verlorene, zarte Kind in die Arme genommen und getröstet.