50

Richard nahm die schneeweiße Scheibe entgegen, als Victor sie ihm reichte.

»Was ist das?«

»Probier doch einfach«, drängte Victor ihn hartnäckig mit der Hand fuchtelnd. »Iss und dann sag mir, was du davon hältst. Es stammt aus meiner Heimat. Hier, rote Zwiebeln passen gut dazu.«

Die weiße Scheibe war zart und dennoch fest, und kräftig gewürzt mit Salz und Kräutern. Richard stieß ein verzücktes Stöhnen aus und verdrehte die Augen.

»Das Beste, was ich je gegessen habe, Victor, Was ist es?«

»Lardo.«

Sie saßen auf der Schwelle der Doppeltür jenes Raumes, in dem der Marmormonolith stand, und sahen zu, wie der Morgen langsam über der Baustelle dämmerte, wo die Mauern des Ruhesitzes allmählich zu wachsen begonnen hatten. Unten rührten sich nur wenige Menschen. In Kürze würden die Arbeiter in Scharen eintreffen und ihre Arbeit am Ruhesitz des Kaisers wieder aufnehmen. So ging das, ob Regen oder Sonne, ohne Unterlass jeden Tag. Jetzt, gegen Ende des Frühlings, herrschte nahezu jeden Tag schönes Wetter; alle paar Tage gab es nachmittags einen Schauer, aber der hatte nichts Trostloses oder Bedrückendes an sich und war gerade heftig genug, dass man sich hinterher sauber und erfrischt fühlte.

Wäre nicht der allgegenwärtige Schmerz über Kahlans Abwesenheit gewesen, seine Sorgen wegen des Krieges hoch oben im Norden, sein Abscheu darüber, dass man ihn gefangen hielt, über die Sklavenarbeit auf der Baustelle, die Misshandlung der Menschen und deren spurloses Verschwinden, über die Folter, mit denen man ihnen Geständnisse abpresste, und über das quälend unterdrückerische Leben in Altur’Rang ganz allgemein hätte er möglicherweise den Frühling als ganz angenehm empfunden.

Hinzu kam, dass seine Sorge, Kahlan könnte in Kürze ihr Heim in den Bergen verlassen, mit jedem Tag wuchs. Er hatte Angst, sie könnte von einem Krieg eingeholt werden, der schon bald lichterloh entbrennen würde.

Nachdem er von der milden Zwiebel gekostet hatte, machte Richard sich wieder über den köstlichen Lardo her. Er stöhnte abermals vor Entzücken.

»Ich habe noch nie etwas Vergleichbares probiert, Victor. Was ist Lardo?«

Victor reichte ihm eine weitere dünne Scheibe, die Richard mit Freuden entgegennahm. Die herzhafte Köstlichkeit war genau das Richtige nach einer langen Arbeitsnacht.

Victor deutete mit seinem Messer auf die Blechbüchse neben sich, in der der makellos weiße Klumpen lag. »Lardo ist der Bauchspeck des Ebers.«

»Und diese Blechdose stammt aus deiner Heimat?«

»Nein, nein – ich stelle ihn selber her. Ich stamme aus einem Landstrich, der weit südlich von hier liegt – in der Nähe des Meeres. Dort wird Lardo hergestellt. Als ich hierher kam, habe ich ihn eben hier gemacht.

Ich lege den Bauchspeck in Bottiche ein, die ich aus Marmor, weiß wie Lardo, gemeißelt habe.« Victor gestikulierte beim Sprechen mit den Händen, wobei er die Luft ebenso kraftvoll bearbeitete wie das Eisen. »Das Fett wird mit grobem Salz, Rosmarin und anderen Gewürzen in den Bottichen eingelegt. Ab und zu wälze ich es in Meerwasser. Es muss ein Jahr in dem Steingefäß ruhen, bis es gepökelt ist und zu Lardo wird.«

»Ein ganzes Jahr?«

Victor nickte nachdrücklich. »Dieses hier, das wir gerade essen, habe ich letzten Frühling gemacht; Lardo wird ausschließlich von Männern hergestellt. Mein Vater war Arbeiter im Steinbruch, und Lardo verleiht den Männern, die im Steinbruch arbeiten, das nötige Durchhaltevermögen, um stundenlang Quader aus dem Marmor zu sägen oder die Spitzhacke zu schwingen. Auch als Schmied erhält man durch Lardo die nötige Kraft, den ganzen Tag mit dem Hammer zu arbeiten.«

»Dann gibt es dort, wo du gelebt hast, also Steinbrüche?«

Er deutete mit seiner massigen Hand auf den Quader, der hinter ihnen emporragte. »Das dort, das ist Cavaturamarmor – aus meiner Heimat.« Er zeigte hinunter auf mehrere Flächen, auf denen Baumaterialien gelagert wurden. »Das dort, und da drüben, das ist auch Cavaturamarmor.«

»Dann stammst du also aus Cavatura?«

Victor grinste wie ein Wolf und nickte. »Aus eben jener Gegend, aus der all dieser wunderbare Marmor stammt. Unsere Stadt wurde nach den Marmorsteinbrüchen benannt. In meiner Familie sind alle entweder Bildhauer oder Arbeiter in den Steinbrüchen. Und ich? Nun, ich bin schließlich Schmied geworden und habe das Werkzeug für sie hergestellt.«

»Auch ein Schmied hat etwas von einem Bildhauer.«

Er lachte brummig, nicht ganz überzeugt. »Und du? Woher kommst du?«

»Ich? Von weit her. Marmor gibt es dort nicht, nur Granit.« Richard wechselte das Thema, um sich keine Lügen ausdenken zu müssen, außerdem wurde es allmählich hell. »Also, Victor, wann brauchst mehr von dem Spezialstahl?«

»Morgen. Wirst du das schaffen?«

Der Stahl, den Victor benötigte, kam von weiter her, aus einer Gießerei von außerhalb, in der Nähe der Köhler, die die Holzkohle herstellten. Um hochwertigen Stahl zu gewinnen, mussten bei der Verhüttung des Eisens große Mengen Holzkohle eingesetzt werden. Das Erz wurde auf Lastkähnen von nicht weit her angeliefert. Für den Hin- und Rückweg würde Richard fast die ganze Nacht benötigen.

»Aber ja. Ich werde heute krank feiern und mich ein wenig ausschlafen.«

Während der letzten Monate war er recht häufig krank geworden; darin hatte er sich der Arbeitsweise der meisten anderen angepasst. Man arbeitete ein wenig, wurde krank und erklärte dem Arbeiterkollektiv, man sei unpässlich. Manche kamen angehumpelt und hatten sich eine Ausrede zurecht gelegt, was vollkommen unnötig war. Im Arbeiterkollektiv stellte man keine Fragen.

Einzig auf den Versammlungen, auf denen diejenigen mit mangelhafter Einstellung namentlich genannt wurden, fehlte er kaum jemals. Es geschah oft, dass Leute auf Versammlungen namentlich genannt wurden, allerdings war die Wahrscheinlichkeit, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, größer, wenn man gar nicht erst erschien. Oft wurden die Genannten in der Folge festgenommen und erhielten Gelegenheit, ein Geständnis abzulegen. Mehr als einmal war es vorgekommen, dass sich jemand umgebracht hatte, der auf einer Versammlung einer mangelhaften Einstellung bezichtigt worden war.

»Gestern Abend kam Neal, einer von Bruder Narevs Jüngern, vorbei, und hat neue Anordnungen ausgegeben.« Victors Stimme hatte einen gereizten, angespannten Unterton angenommen. »Mit dem, was du gerade gebracht hast, komme ich für heute hin, aber morgen brauche ich diesen Stahl unbedingt.«

»Du wirst ihn bekommen.«

»Ganz bestimmt?«

»Habe ich dich je im Stich gelassen, Victor?«

Victors angespanntes Gesicht zerschmolz zu einem leicht hilflosen Lächeln. Er reichte Richard noch eine Scheibe Lardo. »Nein, das hast du nicht, Richard. Nicht ein einziges Mal. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, jemals wieder einem Mann zu begegnen, der sein Wort hält.«

»Tja, am besten mache ich mich auf den Weg und kümmere mich um meine Pferde. Sie haben eine anstrengende Nacht hinter sich, und heute Abend müssen sie ausgeruht sein. Wie viel Stahl brauchst du?«

»Zweihundert Barren. Die eine Hälfte Vierkant, die andere rund.«

Richard gab ein gequältes Stöhnen zum Besten. »Entweder werde ich durch dich zum Muskelprotz, oder es bringt mich um, Victor.«

Victor lächelte anerkennend. »Soll ich dir das Gold geben?«

»Nein, du kannst mich bei Lieferung bezahlen.«

Richard brauchte das Geld nicht mehr im Voraus. Mittlerweile war er im Besitz eines schweren Wagens sowie eines kräftigen Pferdegespanns. Er bezahlte Ishaq dafür, dass dieser sie zusammen mit den Gespannen des Fuhrunternehmens in den Stallungen des Betriebs versorgte. Ishaq wiederum half Richard bei den zahlreichen Sondervereinbarungen, die er hatte treffen müssen. Ishaq wusste, welche Beamte in den schönen Häusern wohnten. Allein von ihrer Bezahlung als Beamte des Ordens konnten sie sich diese Häuser auf keinen Fall leisten.

»Nimm dich vor Neal in Acht«, meinte Richard.

»Warum?«

»Aus irgend einem Grund scheint er zu glauben, man müsse mir unbedingt eine Lektion erteilen. Er glaubt tatsächlich, der Orden der Imperialen Ordnung sei der Retter der Menschheit. Er stellt das Wohl der Bruderschaft des Ordens über das der Menschheit.«

Victor erhob sich seufzend und band sich seine Lederschürze um. »Ich denke über ihn genauso.«

Als sie das Gebäude betraten, fiel die Sonne gerade auf den dort stehenden Marmorquader. Richard verweilte einen Augenblick und legte, wie immer, wenn er daran vorüberkam, seine Hand auf den kalten Stein. Fast schien es ihm, als wäre er lebendig. Lebendig und voller Möglichkeiten.

»Ich habe dich schon einmal gefragt, was das ist. Macht es dir was aus, es mir jetzt zu verraten?«

Der Schmied blieb neben Richard stehen und schaute an dem makellosen Stein hinauf. Er streckte die Hand vor, berührte ihn leicht und ließ die Fingerspitzen prüfend, beinahe zärtlich, über die Oberfläche gleiten.

»Das ist meine Statue.«

»Was für eine Statue?«

»Die, die ich eines Tages meißeln möchte. Viele in meiner Familie sind Bildhauer. Solange ich zurückdenken kann, wollte ich auch immer in Stein meißeln. Ich wollte ein großer Bildhauer werden und bedeutende Kunstwerke erschaffen.

Stattdessen musste ich für den Schmiedemeister im Steinbruch arbeiten. Meine Familie musste essen, und ich war der älteste noch lebende Sohn. Mein Vater und der Schmied waren Freunde, also bat er ihn, mich einzustellen … er wollte nicht noch einen Sohn an den Stein verlieren. Es ist ein hartes und gefährliches Leben, Stein aus dem Berg zu schneiden.«

»Hast du schon mit anderen Materialien gearbeitet, mit Holz zum Beispiel, oder etwas Ähnlichem?«

Victor, den Blick noch immer auf den Stein gerichtet, schüttelte den Kopf. »Ich wollte immer nur in Stein meißeln. Diesen Quader habe ich von meinen Ersparnissen gekauft. Er gehört mir. Nur wenige Menschen können von sich behaupten, dass ihnen das Stück eines Berges gehört. Ein Stück, so rein und wunderschön wie dieses.«

Richard konnte seine Empfindungen nachvollziehen. »Und was wirst du aus dem Quader meißeln?«

Er kniff die Augen halb zusammen, so als versuchte er hinter die Oberfläche zu schauen. »Ich weiß es nicht. Es heißt, der Stein wird irgendwann zu einem sprechen und sagen, was er sein möchte.«

»Glaubst du daran?«

Victor lachte sein eigentümlich tiefes Lachen. »Nein – eigentlich nicht. Aber die Sache ist die, das hier ist ein wunderschöner Stein. Für Statuen gibt es nichts Besseres als Cavaturamarmor, und nur wenige Quader Cavaturamarmor weisen eine so schöne Maserung auf wie dieses spezielle Stück. Ich könnte es nicht ertragen, wenn man etwas Hässliches, wie diese Sachen, die man heutzutage macht, aus ihm herausmeißeln würde.

Früher einmal, vor langer Zeit, war es so, dass aus einem so schönen Stück nur wieder etwas besonders Schönes gearbeitet werden durfte. Aber das ist vorbei«, meinte er leise, erfüllt von kalter Bitterkeit. »Heutzutage muss der Mensch mit verdorbenem Wesen dargestellt werden – als Objekt seiner eigenen Schande.«

Richard hatte in Victors Auftrag Werkzeuge hinunter zur Baustelle geliefert, dorthin, wo die Steinmetzarbeiten vorgenommen wurden, dabei hatte er Gelegenheit gehabt, sich die dort in Arbeit befindlichen Werke genauer anzusehen. Die Außenseite der steinernen Mauern sollten mit bombastischen Darstellungen versehen werden, in einer Größenordnung, die einen schwindeln machen konnte. Die Mauern, die einst den Palast umgeben würden, erstreckten sich über Meilen. Die für den Ruhesitz angefertigten Bildhauerarbeiten glichen denen, die Richard allenthalben in der Alten Welt gesehen hatte, nur dass sie in ihrer nackten, alles in den Schatten stellenden Gigantomanie ihresgleichen suchten. Der gesamte Palast sollte zu einer heroischen Darstellung der Ansicht des Ordens über das Wesen des Lebens und die Erlösung im Leben nach dem Tod in der Unterwelt gestaltet werden.

Die in den Stein gehauenen Figuren wirkten steif und ungelenk und hatten Gliedmaßen, die unmöglich ihren Zweck erfüllen konnten. Die als Relief gemeißelten Figuren waren für immer im Stein gefangen, aus dem sie nur zögernd hervorzutreten schienen. Ihre Körperhaltung gab eine Sicht des Menschen wieder, die ihn als unzulänglich, oberflächlich und bedeutungslos charakterisierte.

Die einzelnen Bestandteile der verhassten menschlichen Anatomie, Muskeln, Knochen und Fleisch, verschmolzen zu Gliedmaßen, denen jede Lebendigkeit abging und deren verzerrte Proportionen den Figuren alles Menschliche nahm. Gesichter waren entweder teilnahmslos, wenn die Gestalt Tugendhaftigkeit darstellen sollte, oder erfüllt von Entsetzen, Seelenqual und Schmerz, sollte sie das Schicksal von Missetätern illustrieren. Anständige Männer und Frauen, gebeugt unter der Last ihrer harten Arbeit, waren stets so porträtiert, dass sie mit dem leeren, stumpfen Blick der Entsagung in die Welt hinausblickten.

In den allermeisten Fällen war es schwierig, Männer und Frauen zu unterscheiden; ihre sterbliche Hülle, ein nie versiegender Quell der Schande, war unter formlosen, weiten Gewändern verborgen, wie sie die Priester des Ordens trugen. Als weiteres Spiegelbild der Ordenslehren wurden nur die Sünder hüllenlos gezeigt, damit ein jeder ihre verabscheuungswürdigen, von Geschwüren zerfressenen Körper sehen konnte.

Die bildhauerischen Arbeiten zeigten den Menschen als hilfloses Geschöpf, durch die Unzulänglichkeit seines Geistes dazu verdammt, jeden Schlag des Schicksals klaglos hinzunehmen.

Die meisten Bildhauer, vermutete Richard, hatten Angst, verhört oder gar gefoltert zu werden, und wiederholten daher nimmermüde die Auffassung, der Mensch müsse in Übereinstimmung mit seinem verruchten Wesen in Stein gehauen werden, da er sich nur so mit dem Tod seinen gerechten Lohn verdienen konnte. Die Bildnisse hatten den Zweck, den Massen vor Augen zu führen, dass dies das einzig schickliche Ziel war, auf das der Mensch hoffen durfte. Richard wusste, dass einige der Bildhauer geradezu inbrünstig von der Richtigkeit dieser Lehren überzeugt waren. Er nahm sich stets in Acht, was er in ihrer Gegenwart sagte.

»Wirklich, Richard, ich wünschte, du könntest die wirklich schönen Statuen sehen, statt dieses bedrückenden Mists, den man heute produziert.«

»Ich habe bereits Statuen von großer Schönheit gesehen«, versicherte Richard dem Mann mit leiser Stimme.

»Tatsächlich? Das freut mich. Das ist es, was die Menschen sehen sollten, und nicht diese, diese« – er deutete auf die stetig in die Höhe wachsenden Mauern des Ruhesitzes – »Gottlosigkeit im Gewand der Güte.«

»Und, wirst du auch eines Tages ein solches Werk der Schönheit bildhauern?«

»Ich weiß es nicht, Richard«, gestand er schließlich. »Der Orden reißt alles an sich. Dort heißt es, der Einzelne sei ohne Bedeutung, es sei denn, er kann zum Wohle aller beitragen. Sie nehmen das, was Kunst sein kann – das Herzblut der Seele – und verwandeln es in ein tödliches Gift.«

Victor lächelte versonnen. »Wie die Dinge derzeit stehen, kann ich mich nur an der Statue im Innern des Steins erfreuen.«

»Ich verstehe, Victor – wirklich. Wie du sie jetzt beschreibst, sehe ich sie ebenfalls vor mir.«

»Dann werden wir uns beide an meiner Statue erfreuen, so wie sie jetzt ist.« Victor löste seine Hand vom Stein und deutete auf den Sockel. »Übrigens, siehst du das, da unten? Dort hat der Stein einen Fehler; er zieht sich der Länge nach hindurch. Nur deswegen habe ich mir dieses Stück Marmor überhaupt leisten können – weil es diesen Makel aufweist. Die meisten, die versuchen würden, den Stein zu behauen, würden ihn gefährden. Wenn man es nicht genau richtig macht und den Fehler berücksichtigt, kann der ganze Quader zersplittern. Ich habe mir nie recht vorstellen können, wie ich diesen Stein behauen muss, um seine Schönheit voll zur Geltung zu bringen und seinen Makel gleichzeitig zu umgehen.«

»Vielleicht fällt dir eines Tages noch ein, wie du den Stein behauen musst, um etwas wirklich Erhabenes zu schaffen.«

»Erhabenheit. Ach, das wäre doch etwas – die höchste Form der Schönheit.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich werde es nicht tun. Jedenfalls nicht, bevor die Rebellion kommt.«

»Die Rebellion?«

Victors Blick glitt vorsichtig durch die offene Tür und über den Hang. »Die Rebellion, eines Tages wird sie kommen. Die Imperiale Ordnung kann sich unmöglich halten – das Böse kann sich nicht halten, jedenfalls nicht für immer. Als ich noch klein war, gab es in meiner Heimat so etwas wie Schönheit, und es existierte Freiheit.

Durch Täuschung und Betrug wurden die Menschen dort dazu getrieben, ihr Leben und ihre Freiheit Stück für Stück zugunsten der Idee von der Gerechtigkeit für alle aufzugeben. Sie wussten nicht, was sie an ihr hatten, und ließen sich ihre Freiheit immer mehr beschneiden, und das für nichts anderes als das hohle Versprechen auf eine bessere Welt, eine Welt ohne Mühen, ohne Leistungsdruck und ohne Lohnarbeit. Stets war es ein anderer, der diese Dinge tun würde, der für sie sorgen und ihnen ein leichtes Leben bescheren würde.

Früher waren wir ein Land, wo es alles in Hülle und Fülle gab, jetzt dagegen verfaulen die wenigen Lebensmittel, die noch angebaut werden, während sie darauf warten, dass irgendein Komitee festlegt, wer sie bekommen soll, wer sie transportieren darf und was sie kosten müssen. Und in der Zwischenzeit verhungern die Menschen.

Man macht die Aufständischen, diejenigen, die sich dem Orden gegenüber illoyal verhalten, für all den Hunger und Streit verantwortlich, der uns langsam zu zerstören droht, daher werden immer mehr Menschen eingesperrt und hingerichtet. Wir sind ein Land des Todes. Der Orden wird nicht müde, lauthals seine Empfindungen für die Menschheit zu verkünden, aber mit ihren Methoden züchten sie nichts als den Tod heran. Auf meinem Weg hierher sah ich abertausende von Leichen, die man weder gezählt noch begraben hat. Der Neuen Welt schiebt man die Schuld für jedes Übel und für jedes Versagen zu, und junge Männer, die es kaum erwarten können, ihre Unterdrücker zu vernichten, ziehen in den Krieg.

Aber inzwischen haben viele Menschen die Wahrheit erkannt. Sie und ihre Kinder – ich und andere wie ich – dürsten danach, ihr eigenes Leben in Freiheit leben zu können, statt Sklaven des Ordens und ihrer Herrschaft des Todes zu sein. In meiner Heimat kam es zu Unruhen, genau wie hier. Eine Rebellion steht unmittelbar bevor.«

»Unruhe? Hier? Ich habe nichts dergleichen bemerkt.«

Victor lächelte geheimnisvoll. »Wer die Rebellion im Herzen trägt, zeigt seine wahren Gefühle nicht. Stets in Angst vor Aufruhr, erzwingt der Orden mittels Folter Geständnisse von denen, die sie ungerechterweise verhaftet haben. Jeden Tag werden mehr hingerichtet. Die, die wollen, dass sich die Dinge ändern, sind nicht so unklug, sich offen zu erkennen zu geben, bevor die Zeit gekommen ist. Eines Tages, Richard, wird es eine Rebellion geben.«

Richard schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, Victor, für eine Rebellion benötigt man unbedingte Entschlossenheit. Ich glaube nicht, dass diese Entschlossenheit existiert.«

»Du hast Menschen gesehen, die mit den gegenwärtigen Verhältnissen unzufrieden waren. Alle, mit denen du zu tun hast, von den Beamten, die du bestichst, einmal abgesehen, dürsten nach Veränderung.« Victor zog eine Braue hoch und schaute Richard an. »Keiner von ihnen hat sich je bei irgendeinem Ausschuss oder Komitee über das beschwert, was du hier treibst. Vielleicht willst du ja nichts damit zu schaffen haben, was meiner Meinung nach dein gutes Recht ist, trotzdem gibt es Menschen, die darauf hören, was man sich hinter vorgehaltener Hand über die Freiheit oben im Norden erzählt.«

Richard straffte sich. »Freiheit, oben im Norden?«

Victor nickte ernst. »Das Wort von einem Erretter macht die Runde: Richard Rahl. Er führt die Menschen in den Kampf um die Freiheit. Es heißt, dieser Richard Rahl wird uns die Rebellion bringen.«

Wäre dies alles nicht von einer so überwältigenden Tragik gewesen, Richard wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen.

»Woher willst du wissen, dass dieser Rahl es wert ist, ihm zu folgen?«

Victor heftete seine Augen mit einem Blick auf Richard, den dieser noch von seiner ersten Begegnung mit dem Schmied kannte.

»Man kann einen Mann nach seinen Feinden beurteilen. Richard Rahl wird wie kein anderer vom Kaiser, von Bruder Narev und dessen Jüngern gehasst. Er ist es. Er trägt die Fackel der Revolution.«

Richard brachte nur ein trauriges Lächeln zu Stande. »Aber er ist nur ein Mensch, mein Freund. Du solltest keinem Menschen huldigen. Huldige seinen Zielen, aber nicht ihm selbst.«

Victors funkelnder, so emotionsgeladener Blick, sein brennendes Verlangen nach Freiheit, wich wieder seinem wölfischen Grinsen.

»Aber das ist genau das, was auch Richard Rahl sagen würde. Deswegen ist er auch der Richtige.«

Richard hielt es für das Beste, das Thema zu wechseln. Er sah, dass es inzwischen fast hellichter Tag war.

»Nun, ich muss mich auf den Weg machen. Irgendwann wird dir ganz sicher einfallen, was du mit dem Stein machen willst, Victor. Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du es wissen.«

Der Schmied versuchte eine finstere Miene aufzusetzen, aber es wurde eine viel zu schwache Imitation des überaus realen bösen Blicks, der gerade erloschen war. »Das war auch immer mein Gedanke.«

Richard kratzte sich am Kopf. »Hast du jemals etwas gemeißelt oder geschnitzt, Victor?«

»Nein, noch nie.«

»Bist du sicher, dass du überhaupt bildhauern kannst? Dass du Talent dafür hast?«

Victor tippte sich an die Schläfe, als wollte er einen Zweifler besänftigen. »Das Talent habe ich hier drinnen. Hier drinnen habe ich Schönheit. Das allein zählt für mich. Selbst wenn ich diesen Stein niemals mit einem Stück Stahl anrühren sollte, wird die Schönheit dessen, was aus ihm werden könnte, immer mir gehören, und das kann der Orden mir nicht nehmen.«

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