In der Stadt Fairfield war wieder so etwas wie Ordnung eingekehrt, allerdings die Ordnung eines Militärpostens. Kaum etwas, von dem sich sagen ließe, es mache eine Stadt aus, hatte sich gehalten. Viele der Gebäude standen noch, doch von den Menschen, die einst in ihnen gewohnt und gearbeitet hatten, gab es nur noch wenige. Von einigen Gebäuden war nicht mehr übrig als verkohltes Gebälk und rußgeschwärzter Schutt, andere waren abgetakelte Kolosse mit herausgebrochenen Fenstern und Türen, die meisten jedoch befanden sich noch weitgehend im selben Zustand wie zuvor, bis natürlich auf den Umstand, dass alle im Zuge der mutwilligen Plünderungen ausgeräumt worden waren. Die Gebäude standen da wie leere Hüllen, nicht mehr als eine Mahnung an früheres Leben.
Da und dort hockten ein paar zahnlose Gestalten breitbeinig an eine Mauer gelehnt und beobachteten aus leeren Augen die Massen bewaffneter Soldaten, die durch ihre Straßen auf und ab flanierten; Waisenkinder streunten verstört umher. Nicci fand es erstaunlich, wie schnell man einen Ort jeder Zivilisiertheit berauben konnte.
Während sie so durch die Straßen schlenderte, glaubte Nicci zu verstehen, was viele der Gebäude empfinden würden, wären sie zu Empfindungen fähig; eine allen Lebens beraubte Leere, während sie nutzlos darauf warteten, dass jemand erschien, dem sie von Nutzen sein konnten, da ihr einzig wahrer Zweck darin bestand, den Lebenden zu dienen.
Die Straßen, derzeit bevölkert von grimmig dreinblickenden Soldaten, hageren Bettlern, ausgezehrten Alten und Kranken, weinenden Kindern, alle inmitten von Trümmerschutt und Dreck, sahen noch ganz so aus wie einige jener Straßen, an die Nicci sich aus ihrer Kinderzeit erinnerte. Ihre Mutter hatte sie oft nach draußen auf Straßen wie diese geschickt, um sich der Bedürftigen anzunehmen.
»Schuld daran sind Männer wie dein Vater«, hatte ihre Mutter damals gesagt. »Er ist genau wie mein Vater damals war, er kennt kein Gefühl und kümmert sich um niemand anderes als sich selbst. Er hat kein Herz.«
Nicci hatte in ihrem frisch gewaschenen blauen Rüschenkleid dagestanden, das Haar gebürstet und nach hinten gesteckt, die Hände an den Seiten, und hatte zugehört, wie ihre Mutter einen Vortrag über Gut und Böse hielt, über Sünde und Erlösung. Nicci hatte nicht viel davon begriffen, in späteren Jahren sollte er jedoch so oft wiederholt werden, bis sie jedes einzelne Wort, jeden Gedanken und jede traurige Wahrheit auswendig kannte.
Niccis Vater war wohlhabend. Schlimmer war nach Meinung ihrer Mutter, dass er deswegen keine Reue empfand. Ihre Mutter erklärte, Eigensucht und Habgier seien wie die beiden Augen eines bösartigen Ungeheuers, die stets nach immer größerer Macht und noch mehr Reichtum Ausschau hielten, um so dessen unersättliche Gier zu stillen.
»Du musst lernen, Nicci, dass der tugendhafte Lebenswandel eines Menschen in diesem Leben darauf abzielt, anderen zu helfen, nicht sich selbst«, erklärte ihre Mutter. »Mit Geld kann man sich den Segen des Schöpfers nicht erkaufen.«
»Aber wie können wir dem Schöpfer denn zeigen, dass wir gut sind?«, fragte Nicci.
»Die Menschen sind ein jämmerlicher Haufen, unwürdig, fehlerhaft und schlecht. Wir müssen gegen unsere verdorbene Natur ankämpfen. Anderen zu helfen ist die einzige Möglichkeit, die Nützlichkeit der eigenen Seele zu beweisen. Es ist das einzig wirklich Gute, zu dem ein Mensch fähig ist.«
Niccis Vater war als Adliger geboren worden, trotzdem hatte er sein ganzes Erwachsenenleben als Waffenschmied gearbeitet. Niccis Mutter war der Ansicht, er sei mit einem komfortablen Besitz zur Welt gekommen, doch statt sich damit zufrieden zu geben, trachtete er danach, sein Erbe zu einem schamlosen Vermögen zu mehren. Sie sagte, man könne nur zu Reichtum kommen, wenn man die Armen auf die eine oder andere Weise betrog. Andere Angehörige des Adelsstands, wie Niccis Mutter und viele ihrer Freunde, waren nicht gewillt, den hart schuftenden Armen einen unverdienten Anteil abzupressen.
Nicci empfand ein großes Maß an Schuld angesichts der Verruchtheit ihres Vaters und seines unrechtmäßig erworbenen Reichtums. Ihre Mutter behauptete, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um seine verirrte Seele zu retten. Um die Seele ihrer Mutter sorgte sich Nicci nie, denn die Menschen wurden nicht müde zu erzählen, wie fürsorglich, gutherzig und wohltätig sie sei, manchmal jedoch lag Nicci nachts aus Kummer über ihren Vater wach, denn die Sorge, der Schöpfer könnte seine Bestrafung verlangen, bevor er erlöst werden konnte, ließ sie nicht schlafen.
Wenn Mutter zu Treffen mit ihren wichtigen Freunden ging, nahm das Kindermädchen Nicci des Öfteren zur Werkstatt ihres Vaters mit, um sich nach seinen Wünschen für das Abendessen zu erkundigen. Nicci genoss es, im Betrieb ihres Vaters zuzusehen und etwas zu lernen. Es war ein faszinierender Ort. Als sie noch sehr klein war, wollte sie, wenn sie einmal groß wäre, ebenfalls Waffenschmied werden. Zu Hause hockte sie gewöhnlich auf dem Fußboden und hämmerte im Spiel auf einem den Teil einer Rüstung darstellenden Kleidungsstück herum, das über einem umgedrehten Schuh lag, der als Amboss diente. Diese Zeit der Unschuld war die angenehmste Erinnerung aus ihrer Kindheit.
Niccis Vater beschäftigte eine große Zahl von Menschen. Karren brachten Vierkanthölzer und anderes Material von entlegenen Orten. Schwere, aus Metall gegossene Sägen wurden auf Lastkähnen angeliefert. Andere Karren, mit Geleitschutz, transportierten fertige Waren zu weit entfernten Kunden. Es gab Arbeiter, die Metall schmiedeten, Arbeiter, die Metall gossen, Arbeiter, die es in Form hämmerten, und wieder andere, die aus glühendem Metall Waffen formten. Einige der Klingen wurden aus kostbarem ›Giftstahl‹ hergestellt, der angeblich selbst bei kleinsten Verletzungen tödliche Wunden hinterließ. Es gab andere Arbeiter, die Klingen schliffen, Arbeiter, die Rüstungen polierten, und solche, die Schilde, Rüstungen und Klingen mit wunderschönen Gravuren und kunstvollen Illustrationen versahen. Es gab sogar Frauen, die für Niccis Vater arbeiteten und die bei der Herstellung von Kettenpanzern halfen. Nicci schaute ihnen zu, wie sie auf Bänken an langen Holztischen saßen, manchmal die Köpfe zusammensteckten und über irgendwelche Geschichten kicherten, während sie mit ihren Pinzetten winzige Häkchen am abgeflachten Ende Tausender kleiner Stahlringe zurechtbogen, aus denen schließlich eine komplette Kettenpanzerrüstung entstand. Nicci fand es erstaunlich, dass der Erfindungsgeist des Menschen etwas so Hartes wie Metall in ein Kleidungsstück verwandeln konnte.
Aus dem gesamten Umland und auch von weit her kamen Männer, um die Waffen und Rüstungen ihres Vaters zu kaufen. Ihr Vater behauptete, es seien die besten, die hergestellt wurden. Seine Augen, von der Farbe des Himmels an einem wolkenlosen Sommertag, begannen eigenartig zu leuchten, wenn er von seinen Waffen und Rüstungen erzählte. Vieles davon war so prachtvoll, dass Könige von weit her angereist kamen, um eine Rüstung zu bestellen und anpassen zu lassen. Manches war so kunstvoll gemacht, dass erfahrene Arbeiter viele Monate über die Werkbänke gebeugt daran zu arbeiten hatten.
Hufschmiede, Balgentreter, Hämmerer, Mühlenarbeiter, Stanzer, Waffenschmiede, Polierer, Lederarbeiter, Nietschläger, Modellschlosser, Silberschmiede, Kunstgraveure, ja sogar Näherinnen für die Herstellung gesteppten und wattierten Leinens, und natürlich auch Lehrlinge – alle kamen von weit her, in der Hoffnung, für ihren Vater arbeiten zu können. Viele der gelernten Handwerker brachten Proben ihrer besten Werkstücke mit, um sie ihm zu zeigen. Niccis Vater wies jedoch weit mehr von ihnen ab, als er einstellte.
Niccis Vater war eine beeindruckende Erscheinung, aufrecht, kantig und voller Ausstrahlung. Nicci hatte stets den Eindruck, dass seine Augen bei der Arbeit mehr sahen als jeder andere, so als spräche das Metall zu ihm, wenn er mit den Fingern darüber strich. Er schien sich gerade nur soviel wie eben nötig zu bewegen, nicht mehr. Für Nicci war er das Sinnbild von Kraft, Stärke und Zielstrebigkeit.
Offiziere, Beamte und Adlige schauten ebenso wie Lieferanten und seine Arbeiter vorbei, um sich mit ihm zu unterhalten. Wenn Nicci den Betrieb ihres Vaters aufsuchte, war sie stets erstaunt, ihn in so viele Gespräche verwickelt zu sehen. Ihre Mutter sagte, das läge daran, dass er arrogant sei und seine armen Arbeiter zwinge, um ihn herumzuscharwenzeln.
Es gefiel Nicci, das komplizierte Zusammenspiel arbeitender Menschen zu beobachten. Gewöhnlich hielten die Arbeiter kurz inne, um ihr zuzulächeln, ihre Fragen zu beantworten und sie manchmal mit einem Hammer auf Metall schlagen zu lassen. Dem Anschein nach genoss es auch ihr Vater, sich mit all diesen Leuten zu unterhalten. Zu Hause war es Mutter, die redete, Vater sprach wenig, und sein Gesicht nahm die Farbe geschmiedeten Stahls an.
Wenn er zu Hause einmal etwas sagte, dann betraf es fast ausschließlich seine Arbeit. Nicci, die alles über ihn und sein Geschäft lernen wollte, nahm jedes Wort begierig auf. Ihre Mutter teilte ihr im Vertrauen mit, sein verruchtes Wesen zerfresse die unsichtbare Seele tief in seinem Innern. Nicci hoffte stets, seine Seele eines Tages erlösen und sie ebenso gesund machen zu können, wie er selbst nach außen hin wirkte.
Er liebte Nicci von ganzem Herzen, schien aber zu glauben, die Aufgabe, sie großzuziehen, sei eine zu weihevolle Aufgabe für seine derben Hände, weshalb er dies ihrer Mutter überließ. Selbst wenn er mit etwas nicht einverstanden war, beugte er sich ihren Wünschen und sagte, sie kenne sich am besten in solchen Familienangelegenheiten aus.
Seine Arbeit ließ ihm kaum Zeit für etwas anderes. Niccis Mutter behauptete, es sei ein Beweis für seine leere Seele, dass er so viel Zeit darauf verwendete, seinen Reichtum zu mehren – andere Menschen zu bestehlen, wie sie es manchmal nannte – statt anderen von sich zu geben, wie es der Schöpfer allen Menschen bestimmt hatte. Kam ihr Vater zum Abendessen nach Hause, während die Hausangestellten noch mit den zahlreichen Speisen, die sie zubereitet hatten, hin und her eilten, ließ sich ihre Mutter oftmals mit gequälter Stimme lang und breit darüber aus, wie schlecht es in der Welt zuging. Nicci hörte die Leute oft sagen, ihre Mutter sei eine Frau von Adel, weil sie so überaus fürsorglich war. Nach dem Abendessen ging ihr Vater gewöhnlich zurück an die Arbeit, oft ohne ein Wort. Das brachte ihre Mutter auf, schließlich war sie längst nicht fertig, ihn über seine Seele aufzuklären, er jedoch war zu beschäftigt, um zuzuhören.
Nicci musste an die Augenblicke denken, als ihre Mutter am Fenster stehend über die dunkle Stadt hinausblickte und sich zweifellos über all die Dinge den Kopf zerbrach, die ihren Seelenfrieden störten. In diesen stillen Nächten schlich Vater sich manchmal von hinten an ihre Mutter heran und legte ihr zärtlich eine Hand auf den Rücken, so als sei sie etwas besonders Kostbares. In diesen Augenblicken wirkte er glücklich und zufrieden. Er kniff ihr sachte in den Hintern und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Gewöhnlich sah sie dann voller Hoffnung auf und bat ihn, einen Beitrag zu den Bemühungen der von ihr unterstützten Bruderschaft beizusteuern. Meist fragte er dann wie viel, woraufhin sie ihm, so als suche sie dort einen letzten Rest menschlichen Anstands, in die Augen blickte und einen Betrag nannte. In der Regel willigte er daraufhin seufzend ein. Anschließend legte er ihr die Hände um die Hüften, sagte, es sei schon spät und dass sie zu Bett gehen sollten.
Einmal, als er sie nach der Höhe ihre Spendenwunsches fragte, zuckte sie mit den Achseln und erwiderte: »Ich weiß nicht. Was sagt dir dein Gewissen, Howard? Ein Mann von wahrem Mitgefühl würde sich bestimmt weit mehr anstrengen, als du es normalerweise tust, bedenkt man, dass du sehr viel mehr Reichtum besitzt, als dir von Rechts wegen zusteht, und das Elend so groß ist.«
Er seufzte. »Wie viel benötigen du und deine Freunde?«
»Nicht ich und meine Freunde brauchen es, Howard, sondern die Massen von Menschen, die uns um Hilfe bitten. Die Bruderschaft ist lediglich bemüht, dieser Not die Stirn zu bieten.«
»Wie viel?«, wiederholte er.
Sie sagte: »Fünfhundert Goldkronen«, so als sei die Zahl ein hinter ihrem Rücken verborgener Knüppel, den sie, als sie die Bresche sah, auf die sie gewartet hatte, plötzlich schwang, um ihn in Bedrängnis zu bringen.
Erschrocken wankte Niccis Vater einen Schritt zurück. »Hast du eigentlich eine Vorstellung, wie lange man arbeiten muss, um einen Betrag von dieser Höhe zu verdienen?«
»Du arbeitest nicht, Howard – das erledigen deine Sklaven für dich.«
»Sklaven! Das sind die allerbesten Handwerker.«
»Wie könnte es anders sein? Du stiehlst die besten Handwerker von überall aus dem Land.«
»Ich zahle die besten Löhne im ganzen Land! Sie sind ganz versessen darauf, für mich zu arbeiten!«
»Sie sind die bemitleidenswerten Opfer deiner Betrügereien. Du beutest sie aus und verlangst mehr als jeder andere. Du nutzt deine Verbindungen und schließt Verträge, um andere Waffenschmiede auszubooten. Du stiehlst der arbeitenden Bevölkerung das Essen aus dem Mund, nur um dir die Taschen zu füllen.«
»Ich biete allerfeinstes Handwerk! Die Leute kaufen bei mir, weil sie das Beste wollen, und dafür verlange ich einen angemessenen Preis.«
»Niemand verlangt so viel wie du, das ist eine schlichte Tatsache. Du willst immer mehr. Gold ist dein einziger Lebenszweck.«
»Die Leute kommen aus freien Stücken zu mir, weil ich die höchsten Standards biete! Das ist mein Lebenszweck! Die anderen Werkstätten produzieren aufs Geratewohl drauflos, ihre Erzeugnisse halten keiner Prüfung stand. Der Härtungsvorgang bei mir ist von besserer Qualität! All meine Arbeit unterliegt einer zweifachen Qualitätskontrolle! Ich verkaufe keine minderwertige Ware. Die Menschen vertrauen mir, sie wissen, dass ich die besten Stücke herstelle.«
»Das tun deine Arbeiter. Du scheffelst bloß das Geld.«
»Der Profit fließt in die Löhne und zurück ins Geschäft – ich habe grade ein Vermögen für die Anschaffung der neuen Schlagmühle ausgegeben!«
»Geschäft, Geschäft, Geschäft! Wenn ich dich bitte, der Gemeinde, den Notleidenden, ein kleines bisschen zurückzugeben, tust du, als wollte ich dir die Augen ausstechen. Möchtest du lieber Menschen sterben sehen, statt ein kleines Almosen für ihre Errettung zu spenden? Bedeutet dir Geld wirklich mehr als ein Menschenleben, Howard? Bist du ein derart grausamer und herzloser Mann?«
Niccis Vater ließ eine Weile den Kopf hängen, schließlich erklärte er sich stillschweigend bereit, seinen Mann mit dem Gold vorbeizuschicken. Seine Stimme wurde wieder sanft. Er sagte, er wolle nicht, dass Menschen sterben, und hoffe, das Geld werde eine Hilfe sein. Dann fügte er hinzu, es sei Zeit, ins Bett zu gehen.
»Du widerst mich an mit deiner Streiterei, Howard. Du kannst einfach nicht aus freien Stücken wohltätig sein, immer muss man es dir aus der Nase ziehen – obwohl es von Anfang an das Richtige wäre. Du willigst jetzt doch nur wegen deiner geilen Gelüste ein. Glaubst du im Ernst, ich hätte keine Prinzipien?«
Niccis Vater machte einfach kehrt und ging zur Tür. Als er plötzlich Nicci auf dem Boden sitzen sah, die alles mitbekommen hatte, hielt er inne. Der Ausdruck auf seinem Gesicht machte ihr Angst, nicht weil er verärgert oder wütend war, sondern weil er mit seinen Augen ganz offensichtlich so viel sah und ihn das Unvermögen, jemals die richtigen Worte dafür zu finden, zu erdrücken schien. Nicci großzuziehen war die Aufgabe ihrer Mutter, und er hatte ihr versprochen, sich nicht einzumischen.
Er wischte sich seine blonden Haare aus der Stirn, machte kehrt und holte seine Jacke. In ruhigem, vernünftigem Ton sagte er, an Niccis Mutter gewandt, er werde jetzt gehen und nach einigen Dingen bei der Arbeit sehen.
Nachdem er gegangen war, sah auch ihre Mutter, wie sie vergessen auf dem Boden hockte, mit Perlen auf einem Brett spielte und so tat, als stelle sie Kettenhemden her. Mit verschränkten Armen blieb sie lange über Nicci stehen.
»Dein Vater geht zu Huren, weißt du das? Ich bin sicher, er ist auch jetzt zu einer Hure gegangen. Vielleicht bist du noch zu jung, um zu verstehen, trotzdem will ich, dass du es weißt, damit du ihm niemals Glauben schenkst. Er ist ein schlechter Mensch. Ich weigere mich, seine Hure zu sein. Und jetzt leg deine Sachen fort und begleite deine Mutter, ich gehe meine Freunde besuchen. Es wird Zeit, dass du dich weiter entwickelst und endlich von der Not anderer erfährst, statt dich ausschließlich um deine eigenen Bedürfnisse zu kümmern.«
Im Haus ihrer Freundin hatten sich einige Männer und mehrere Frauen eingefunden, die sich mit ernster Stimme unterhielten. Als sie sich höflich nach ihrem Vater erkundigten, berichtete Niccis Mutter, er sei fortgegangen, »um zu arbeiten oder herumzuhuren, was, weiß ich nicht, ich habe auf beides keinen Einfluss«. Einige der Frauen legten ihr daraufhin eine Hand auf den Arm und versuchten sie zu trösten. Sie habe eine fürchterliche Last zu tragen, sagten sie.
Auf der anderen Zimmerseite saß ein schweigsamer Mann, der Nicci so düster wie der Tod selbst vorkam.
Niccis Vater war schnell vergessen, als ihre Mutter sich in die Diskussion vertiefte, die ihre Freunde über die schrecklichen Lebensbedingungen der Menschen in der Stadt führten. Die Menschen litten unter Hunger, Verletzungen, Siechtum und Krankheiten, mangelnder Ausbildung, Arbeitslosigkeit, zu vielen Mäulern, die gestopft werden wollten, Alten, die versorgt werden mussten, fehlender Bekleidung, keinem Dach über dem Kopf und jeglichen nur erdenklichen Unbilden ihrer Situation. Es war alles schrecklich beängstigend.
Nicci war stets ganz bange zumute, wenn ihre Mutter davon sprach, dass es nicht mehr länger so weitergehen könne und etwas geschehen müsse. Sie wünschte sich, jemand würde endlich damit anfangen und es tun.
Aufmerksam hörte Nicci zu, wie die Glaubensfreunde ihrer Mutter über all die unduldsamen Menschen redeten, die Hass in ihrem Herzen trugen. Nicci hatte Angst, selbst als einer dieser schrecklichen Menschen zu enden. Sie wollte nicht, dass der Schöpfer sie wegen Kaltherzigkeit bestrafen musste.
Lang und breit ließen sich Niccis Mutter und ihre Freunde darüber aus, wie sehr ihnen die Probleme überall zu Herzen gingen. Hatte jemand vorgetragen, was ihn bedrückte, warf er gewöhnlich sogleich einen verstohlenen Blick hinüber zu dem Mann, der ernst auf einem einfachen Stuhl an der Wand saß und sie aus aufmerksamen, dunklen Augen beim Gespräch beobachtete.
»Einfach grauenhaft, was alles kostet«, sagte ein Mann mit schlaffen Lidern. Er hockte, in sich zusammengesunken wie ein Haufen schmutziger Wäsche, in seinem Sessel. »Das ist ungerecht. Es dürfte nicht erlaubt sein, dass jeder, wann immer es ihm beliebt, die Preise erhöhen kann. Der Herzog sollte etwas unternehmen. Der König hört auf ihn.«
»Der Herzog…«, sagte Niccis Mutter. Sie nippte an ihrem Tee. »Ja, ich war stets der Meinung, dass der Herzog ein Mann ist, der einer guten Sache aufgeschlossen gegenübersteht. Ich denke, man könnte ihn überreden, vernünftige Gesetze zu erlassen.« Über den goldenen Rand ihrer Tasse hinweg blickte Niccis Mutter hinüber zu dem Mann auf dem Küchenstuhl.
Eine der Frauen erklärte, sie wolle ihren Mann dazu ermuntern, dem Herzog den Rücken zu stärken. Eine andere regte an, ihrer aller Sympathie für diesen Einfall in einem entsprechenden Schreiben zu bekunden.
»Menschen verhungern«, sagte eine runzelige Frau in eine Gesprächspause hinein. Die Leute beeilten sich, ihr murmelnd beizupflichten, so als sei dies ein Regenschirm, unter den man sich in der alles durchdringenden Stille flüchten konnte. »Ich sehe es jeden Tag. Wenn wir wenigstens einigen dieser Unglücklichen helfen könnten.«
Eine der anderen Frauen plusterte sich auf wie eine Henne, die im Begriff ist, ein Ei zu legen. »Einfach schrecklich, dass niemand ihnen Arbeit geben will, wo es doch genug davon gäbe, wenn man sie nur gerecht verteilte.«
»Ich weiß«, erwiderte Niccis Mutter empört mit der Zunge schnalzend. »Bis zum Schwarzwerden habe ich auf Howard eingeredet. Er stellt ausschließlich Leute ein, die ihm gefallen, statt sich derer anzunehmen, die die Arbeit am dringendsten benötigen. Es ist eine Schande.«
Die anderen bekundeten ihr Mitgefühl mit ihrer schweren Bürde.
»Es ist nicht richtig, dass einige wenige so viel mehr besitzen als sie brauchen, während es bei so vielen anderen kaum zum Leben reicht«, meinte der Mann mit den schlaffen Lidern. »Das ist unmoralisch.«
»Der Mensch hat nicht das Recht, um seiner selbst willen zu existieren«, beeilte sich Niccis Mutter einzuwerfen, wobei sie, an einem Stück trockenen Kuchens knabbernd, den grimmig schweigenden Mann ansah. »Unentwegt versuche ich Howard davon zu überzeugen, dass Selbstaufopferung zum Wohl seiner Mitmenschen die höchste moralische Pflicht des Menschen ist und sein einziger Daseinszweck. Zu diesem Behufe«, verkündete Niccis Mutter, »habe ich beschlossen, fünfhundert Goldkronen für unsere Sache zu spenden.«
Den anderen stockte vor Entzücken der Atem, und sie beglückwünschten Niccis Mutter zu ihrem wohltätigen Wesen. Sich verstohlen im Raum umsehend, kamen sie überein, der Schöpfer werde es ihr im nächsten Leben vergelten, und unterhielten sich darüber, was sie alles würden tun können, um diesen weniger vom Glück begünstigten Seelen zu helfen.
Schließlich drehte Niccis Mutter sich um, betrachtete Nicci eine Weile und sagte: »Ich glaube, meine Tochter ist alt genug zu lernen, wie man anderen hilft.«
Nicci, begeistert von der Vorstellung, endlich mit dem beginnen zu können, was ihre Mutter und ihre Freunde als ehrenvolle Tätigkeit bezeichneten, rutschte begeistert auf ihrem Stuhl nach vorn. Es war, als habe ihr der Schöpfer selbst einen Weg zur Seelenrettung aufgezeigt. »Ich möchte so gern Gutes tun, Mutter.«
Ihre Mutter blickte den Mann auf dem Küchenstuhl fragend an. »Bruder Narev?«
Die tiefen Falten seines Gesichts schoben sich zu beiden Seiten, als ein Lächeln den dünnen Strich seines Mundes dehnte. Es hatte nichts Freudiges, ebenso wenig wie die dunklen Augen unter der von einem Gewirr aus weißen und schwarzen Haaren verdeckten Stirn. Er trug eine gekniffte Kappe und ein schweres Gewand, so dunkel wie trockenes Blut. Locken seines drahtigen Haars kräuselten sich über seinen Ohren um den Rand der tief in die Stirn gezogenen Kappe.
Er strich sich mit dem Finger übers Kinn und sprach mit einer Stimme, die beinahe die Teetassen klirren ließ. »So, du möchtest also eine kleine Soldatin werden, mein Kind?«
»Na ja … das eigentlich nicht, Sir.« Nicci wusste nicht, was das Soldatsein damit zu tun hatte, dass man Gutes tat. Ihre Mutter sagte immer, ihr Vater sei der willfährige Gehilfe von Menschen in einem gottlosen Beruf – von Soldaten. Sie sagte, Soldaten hätten immer nur eines im Sinn, das Töten. »Ich möchte den Bedürftigen helfen.«
»Genau das versuchen wir doch alle, Kind.« Das schauerliche Grinsen blieb auf seinem Gesicht zurück, als er weitersprach. »Wir alle hier sind Soldaten der Bruderschaft – der Bruderschaft des Ordens –, wie wir unsere kleine Gruppe nennen. Soldaten im Kampf für Gerechtigkeit.«
Alle schienen zu eingeschüchtert, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Sie riskierten einen flüchtigen Blick, sahen fort, blickten wieder hin, so als sei sein Gesicht nicht dafür bestimmt, mit einem Mal erfasst zu werden, sondern nur in kleinen Zügen, wie eine siedend heiße, übel schmeckende Medizin.
Die braunen Augen ihrer Mutter huschten nervös umher wie eine Kakerlake auf der Suche nach einer Ritze. »Aber gewiss doch, Bruder Narev. Das ist die einzig moralische Art, Soldat zu sein – als wohltätiger Mensch.« Sie drängte Nicci, aufzustehen, und scheuchte sie nach vorn. »Nicci, Bruder Narev hier ist ein bedeutender Mann. Er ist der Hohepriester der Bruderschaft des Ordens – einer uralten Sekte, die sich dem Willen des Schöpfers in dieser Welt verschrieben hat. Bruder Narev ist ein Hexenmeister.« Sie bedachte ihn mit einem Lächeln. »Bruder Narev, das ist meine Tochter Nicci.«
Die Hände ihrer Mutter schoben sie zu dem Mann hin, als sei sie eine Opfergabe an den Schöpfer. Im Gegensatz zu allen anderen konnte Nicci den Blick nicht von seinen halb geöffneten Augen lassen. Sie hatte noch nie etwas Vergleichbares gesehen.
In ihnen war nichts als dunkle, kalte Leere.
Er reichte ihr eine Hand. »Freut mich, dich kennen zu lernen, Nicci.«
»Mach einen Knicks und küsse ihm die Hand, Liebes«, soufflierte ihre Mutter.
Nicci ging auf ein Knie. Sie küsste die Knöchel, damit ihre Lippen nicht mit dem Geflecht aus aufgedunsenen, dicken blauen Venen in Berührung kamen, das den haarigen, vor ihrem Gesicht schwebenden Handrücken überzog. Die weißlichen Knoten waren kalt, wenn auch nicht eisig, wie sie erwartet hatte.
»Wir heißen dich in unserer Bewegung willkommen, Nicci«, sagte er mit der tiefen, rasselnden Stimme, die ihm eigen war. »Wenn deine Mutter dich mit fürsorglicher Hand großzieht, wirst du das Werk des Schöpfers tun, das weiß ich.«
Nicci dachte, dass der Schöpfer diesem Mann sehr ähnlich sein musste.
Von all den Dingen, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, fürchtete Nicci am meisten den Zorn des Schöpfers. Sie war alt genug, um zu wissen, dass sie anfangen musste, all die guten Werke zu tun, von denen ihre Mutter unentwegt redete, wenn sie eine Chance haben wollte, ihr Seelenheil zu finden. Alle redeten davon, wie fürsorglich und tugendhaft ihre Mutter war. Nicci wollte ebenfalls ein guter Mensch werden.
Doch Gutes zu tun schien so schwierig, so ernst – ganz anders als die Arbeit ihres Vaters, wo die Menschen lächelten und lachten und mit den Händen redeten.
»Danke, Bruder Narev«, sagte Nicci. »Ich werde mein Bestes tun, um Gutes in der Welt zu tun.«
»Eines Tages werden wir mit Hilfe so prächtiger junger Menschen wie dir die Welt verändern. Ich gebe mich keinen Illusionen hin; angesichts des Ausmaßes der Gleichgültigkeit unter den Menschen wird es eine Weile dauern, die Herzen wahrhaft Bekehrter zu gewinnen, aber wir in diesem Zimmer hier bilden gemeinsam mit den anderen Gleichgesinnten überall im Land den Grundstein der Hoffnung.«
»Dann ist die Bruderschaft also geheim?«, fragte Nicci flüsternd.
Alles lachte amüsiert in sich hinein. Bruder Narev lachte nicht, sein Mund lächelte wieder. »Nein, Kind, ganz im Gegenteil. Es ist unser inbrünstiger Wunsch und höchstes Ziel, die Wahrheit über die Verderbtheit der Menschen zu verbreiten. Der Schöpfer ist vollkommen, wir Sterbliche sind nichts weiter als bedauernswerte Kreaturen. Wir müssen die Verderbtheit unseres Wesens erkennen, wenn wir darauf hoffen wollen, seinem gerechten Zorn zu entgehen und in der nächsten Welt Erlösung zu erlangen. Selbstaufopferung für das Wohl aller ist der einzige Weg zum Seelenheil. Unsere Bruderschaft steht allen offen, die bereit sind, von sich zu geben und ein sittliches Leben zu führen. Die meisten Menschen nehmen uns nicht ernst. Eines Tages werden sie es.«
In gespannter, stiller Aufmerksamkeit verfolgte man im ganzen Zimmer mit glänzenden Augen, wie seine tiefe, kräftige Stimme anschwoll, als spreche der Zorn des Schöpfers selbst aus ihr.
»Einst wird der Tag kommen, da die glühenden Flammen der Veränderung über das Land hinwegfegen, um die Alten, die Absterbenden und die Verderbten zu verbrennen, damit aus den schwarzverkohlten Trümmern der Sünde eine neue Ordnung erwachsen kann. Haben wir die Welt erst reingebrannt, wird es keine Könige mehr geben, dafür wird Ordnung in der Welt herrschen, eine Ordnung, geschützt durch die Hand des gemeinen Mannes, für den gemeinen Mann. Erst dann wird es keinen Hunger mehr geben, kein Zittern in der Kälte, kein Leid ohne Hilfe. Das Wohl der Allgemeinheit wird über die eigensüchtigen Begehrlichkeiten des Einzelnen gestellt sein.«
Nicci wollte Gutes tun – das wollte sie wirklich. Doch seine Stimme klang für sie wie eine rostige Gefängnistür, die sich knarrend hinter ihr schloss.
Aller Augen im Zimmer waren auf sie gerichtet, um zu sehen, ob sie rechtschaffen war wie ihre Mutter. »Das klingt wunderbar, Bruder Narev.«
Er nickte. »So wird es geschehen, Kind, und du wirst dazu beitragen, dass es geschieht. Lass dich von deinen Gefühlen leiten. Du wirst eine Soldatin sein, die auf eine neue Weltordnung zumarschiert. Der Weg wird lang und steinig werden, daher musst du dir deinen Glauben stets bewahren. Wir Übrigen hier im Raum werden ihr Erblühen vermutlich nicht mehr erleben, aber vielleicht lebst du lange genug, um zu sehen, wie diese wunderbare Ordnung eines Tages Wirklichkeit wird.«
Nicci schluckte. »Ich werde dafür beten, Bruder Narev.«