Schwester der Finsternis Terry Goodkind

1

Sie konnte sich nicht daran erinnern, gestorben zu sein. Mit einem unbestimmten Gefühl der Besorgnis fragte sie sich, ob die aufgebrachten Stimmen, die aus der Ferne an ihr Ohr drangen, bedeuteten, dass ihr die Erfahrung dieses die Grenzen des Bewusstseins überschreitenden Endes ein weiteres Mal bevorstand: ihres eigenen Todes.

Sollte dem in der Tat so sein, dann konnte sie nicht das Geringste dagegen tun.

Zwar erinnerte sie sich nicht an ihren Tod, dafür aber umso besser an ernste, tuschelnde Stimmen, die irgendwann – wohl zu einem späteren Zeitpunkt – davon gesprochen hatten, sie sei gestorben, der Tod habe sie ereilt, er aber habe seinen Mund auf ihren gepresst, ihre leblos gewordenen Lungen mit seinem Atem gefüllt und so den ihren auf diese Weise zu neuem Leben erweckt.

Sie hatte sich nicht vorstellen können, wer das gewesen sein mochte, der von einem so unglaublichen Bravourstück sprach, oder wer dieser er sein sollte.

In jener ersten Nacht, in der die fernen, körperlosen Stimmen für sie kaum mehr gewesen waren als eine verschwommene Ahnung, hatte sie begriffen, dass um sie herum Menschen standen, die – obwohl sie inzwischen wieder lebte – nicht daran glaubten, dass sie diese Nacht überleben würde. Mittlerweile aber wusste sie, sie hatte überlebt, sie war, vielleicht als Antwort auf die verzweifelten Gebete und feierlichen Schwüre, die man in jener ersten Nacht mit gedämpfter Stimme an ihrem Lager gesprochen hatte, noch viele Nächte lang am Leben geblieben.

Doch auch wenn sie sich nicht an das Sterben selbst erinnerte, die Schmerzen kurz vor dem Eintauchen in die große Vergessenheit waren ihr noch in Erinnerung, diese Schmerzen würde sie niemals vergessen. Sie entsann sich, wie sie ganz auf sich gestellt und voller Wut gegen all diese Männer gekämpft hatte, Männer, die ihre Zähne bleckten wie ein Rudel wilder Hunde bei einem Hasen. Sie erinnerte sich an den Hagel brutaler Schläge, der sie zu Boden gezwungen, an die schweren Stiefel, die auf sie eingetreten hatten, als sie dort lag, und an das scharfe Knacken brechender Knochen. Sie erinnerte sich an das Blut, an die Unmengen von Blut an ihren Fäusten und Stiefeln. Sie erinnerte sich an das glühende Entsetzen, angesichts dieser Qualen nicht mal mehr die Luft zum Keuchen zu haben, keine Luft, um gegen die erdrückende Last der Schmerzen mit einem Schrei zu protestieren.

Als sie einige Zeit später – ob Stunden oder Tage, vermochte sie nicht zu sagen – unter sauberen Laken in einem unbekannten Bett liegend in seine grauen Augen hochgesehen hatte, war ihr bewusst geworden, dass die Welt für manch einen noch schlimmere Schmerzen bereithielt, als sie sie erlitten hatte.

Seinen Namen kannte sie nicht. Die tiefe Besorgnis, die ihm so deutlich in den Augen abzulesen war, verriet ihr unmissverständlich, dass sie ihn hätte kennen sollen. Sie wusste, sie hätte seinen Namen – mehr als ihren eigenen, mehr noch als das Leben selbst – kennen müssen, doch war dies nicht der Fall. Nichts hatte sie je mehr beschämt.

Wann immer sie in der Folgezeit die Augen geschlossen hatte, sah sie seine, nicht nur das hilflose Leid darin, sondern auch das Leuchten einer leidenschaftlichen Hoffnung, die nur wahre Liebe entflammt haben konnte. Irgendwo, sogar noch in der tiefsten Finsternis, die ihren Geist zu ersticken drohte, sperrte sie sich dagegen, das Leuchten in seinen Augen durch ihre Unfähigkeit, sich kraft ihres Willens zum Weiterleben zu zwingen, erlöschen zu lassen.

Irgendwann fiel ihr dann wieder sein Name ein. Meist wusste sie ihn, mitunter aber auch nicht. Manchmal, wenn der Schmerz sie zu erdrücken drohte, vergaß sie sogar ihren eigenen Namen.

Als Kahlan jetzt Männer mürrisch seinen Namen brummen hörte, wusste sie ihn, und sie wusste auch, wem er gehörte. Mit hartnäckiger Entschlossenheit klammerte sie sich an diesen Namen – Richard – und an ihre Erinnerung an den dazugehörigen Menschen: wer er war und was er ihr bedeutete.

Selbst später, als die Leute befürchteten, sie könnte doch noch sterben, wusste sie, sie würde überleben. Sie hatte gar keine andere Wahl – Richard, ihrem Mann zuliebe. Und ihrem Kind zuliebe, das sie unter dem Herzen trug. Seinem Kind. Ihrer beider Kind.

Das Geschrei der aufgebrachten Männer, die Richard beim Namen riefen, ließ Kahlan schließlich mühsam die Augen öffnen. Sie blinzelte gegen die heftigen Schmerzen an, die unter der schützenden Hülle des Schlafes zwar nachgelassen hatten, aber noch nicht vertrieben worden waren. Ein zartes, bernsteinfarbenes Licht schlug ihr entgegen, das den Raum um sie herum füllte. Da das Licht hell war, folgerte sie, vor dem Fenster müsse eine Abdeckung hängen, die das Sonnenlicht dämpfte, vielleicht wurde es aber auch gerade dunkel. Wenn sie wie jetzt aufwachte, fehlte ihr nicht nur jedes Gefühl für Zeit, sondern auch dafür, wie lange sie geschlafen hatte.

Sie rieb ihre Zunge gegen den teigig trockenen Belag in ihrem Mund. Ihr Körper war bleiern vom schwerfälligen Schlaf, der noch immer nicht weichen wollte. Ihr war so übel wie damals, als sie noch klein gewesen war und vor einer Bootsfahrt an einem heißen, windigen Tag drei Paradiesäpfel verschlungen hatte. Genauso heiß war es auch jetzt: sommerlich heiß. Sie mühte sich, vollends aufzuwachen, doch ihr erwachendes Bewusstsein, hin und her geworfen auf einem unermesslich weiten Schattenmeer, schien seinem Schicksal preisgegeben. Ihr Magen drehte sich, und plötzlich musste sie alle ihre Gedanken darauf konzentrieren, sich nicht zu übergeben. Sie wusste nur zu gut, dass in ihrem gegenwärtigen Zustand nur wenige Dinge schmerzhafter wären als zu brechen. Ihre Lider schlossen sich erneut, und sie sank hin an einen noch viel düstereren Ort.

Sie fing sich, zwang ihre Gedanken an die Oberfläche und öffnete durch pure Willenskraft erneut die Augen. Jetzt fiel es ihr wieder ein: Man verabreichte ihr Kräuter, um die Schmerzen zu betäuben und damit sie schlafen konnte. Zumindest halfen ihr die Kräuter, in einen benommenen Schlaf zu sinken, doch der Schmerz fand sie auch dort, wenn auch nicht in seiner vollen Schärfe.

Langsam, vorsichtig, um die doppelschneidigen Dolche nicht zu drehen, die sich da und dort zwischen ihre Rippen zu bohren schienen, wagte sie einen tieferen Atemzug. Der Wohlgeruch von Balsam und Fichten füllte ihre Lungen und half ihren Magen zu beruhigen. Das war nicht der Duft von Bäumen, vermischt mit den anderen Gerüchen des Waldes, mit feuchter Erde, großen Blätterpilzen und Zimtfarnen, sondern der angenehme Geruch frisch gefällter und abgeästeter Stämme. Sie konzentrierte sich darauf, ihren Blick über das Fußende des Bettes hinaus zu richten, und erblickte eine Wand aus blassem, frisch entrindetem Holz, aus dessen frischen Axtkerben hier und da Harz hervorsickerte. Das Holz sah aus, als sei es in großer Eile geschlagen und gespalten worden, seine Passgenauigkeit jedoch verriet eine Präzision, die nur Wissen und Erfahrung einem verleihen kann.

Das Zimmer war winzig. Im Palast der Konfessoren, wo sie aufgewachsen war, wäre ein so kleiner Raum nicht einmal als Wäscheschrank durchgegangen, außerdem wäre er aus Stein gewesen, wenn nicht gar aus Marmor. Das winzige hölzerne Zimmer gefiel ihr. Vermutlich hatte Richard es zu ihrem Schutz errichtet, fast war es, als habe er seine schützenden Arme um sie gelegt. Die reservierte Erhabenheit von Marmor hatte ihr nie ein vergleichbares Gefühl der Behaglichkeit vermittelt.

Hinter dem Fußende des Bettes erblickte sie die Schnitzerei eines Vogels im Flug. Sie war mit wenigen Messerhieben in einen Stamm der Wand gemeißelt worden, auf eine ebene Stelle, nur wenig größer als ihre Hand. Richard hatte ihr etwas dagelassen, das sie betrachten konnte. Manchmal, wenn sie um ein Lagerfeuer saßen, hatte sie ihm dabei zugesehen, wie er, ganz nebenbei, aus einem Stück Holz ein Gesicht oder ein Tier schnitzte. Der Vogel, der auf seinen ausgebreiteten Schwingen schwebend über sie wachte, vermittelte ein Gefühl von Freiheit.

Wenn sie ihre Augen nach rechts drehte, sah sie eine braune Wolldecke vor der Tür hängen. Von jenseits der Tür drangen Fetzen aufgebrachter, drohender Stimmen herein.

»Wir tun dies nicht aus freien Stücken, Richard … Wir müssen an unsere Familien denken … an unsere Frauen und Kinder…«

Neugierig, was vor sich ging, versuchte Kahlan, sich auf ihren linken Ellbogen zu stützen. Irgendwie gehorchte ihr der Arm nicht wie erwartet, einem Blitz gleich schoss der Schmerz durch ihr Knochenmark und explodierte in ihrer Schulter.

Keuchend ließ sie sich angesichts der quälenden Schmerzen beim Versuch sich zu bewegen zurückfallen, noch bevor sie ihre Schulter auch nur einen Zoll weit vom Bett anheben konnte. Ihr schweres Atmen drehte die Dolche, die sich in ihre Seite bohrten. Sie musste sich zwingen, langsamer zu atmen, um die stechenden Schmerzen unter Kontrolle zu bekommen. Als die schlimmste Qual in ihrem Arm und die Stiche in ihrem Brustkorb endlich nachließen, atmete sie leise stöhnend auf.

Ruhig und besonnen blickte sie an ihrem linken Arm hinab: Der Arm war geschient. Sofort kam die Erinnerung zurück – natürlich war er das. Sie machte sich Vorwürfe, weil sie nicht vorher daran gedacht hatte, vor ihrem Versuch, ihn zu belasten, sie wusste doch, dass die Kräuter ihr Denkvermögen trübten. Aus Angst, noch eine unbedachte Bewegung zu machen, und weil sie sich ohnehin nicht aufsetzen konnte, richtete sie ihr ganzes Augenmerk darauf, einen klaren Kopf zu bekommen.

Vorsichtig langte sie mit ihrer rechten Hand nach oben und wischte sich die feine Schweißschicht aus der Stirn, Schweiß, hervorgerufen durch den blitzartigen Schmerz. Ihr rechtes Schultergelenk tat weh, ließ sich aber bewegen. Sie freute sich über wenigstens diesen kleinen Sieg, befühlte ihre aufgequollenen Augen und verstand endlich, warum es wehgetan hatte, Richtung Tür zu blicken. Behutsam erforschten ihre Finger eine unbekannte Landschaft aus geschwollenem Fleisch. In ihrer Fantasie gab sie ihr eine scheußliche bläulich-grüne Farbe. Als ihre Finger die Platzwunden auf ihrer Wange streiften, schienen glühende Kohlen die geschundenen, offen liegenden Nerven zu versengen.

Sie brauchte keinen Spiegel, um zu wissen, dass sie einen fürchterlichen Anblick bot. Wie schlimm es um sie stand, wurde ihr jedes Mal bewusst, wenn sie Richard in die Augen sah. Sie wünschte sich, für ihn gut aussehen zu können, sei es auch nur, um den leidenden Blick aus seinen Augen zu entfernen. Er schien jedes Mal ihre Gedanken zu lesen und sagte gewöhnlich: »Es geht mir ausgezeichnet. Hör auf, dich um mich zu sorgen, und konzentriere dich ganz darauf, wieder gesund zu werden.«

Mit einem Gefühl bittersüßer Sehnsucht rief sie sich ins Gedächtnis, wie sie, Arme und Beine in herrlicher Erschöpfung ineinander verschlungen, neben Richard gelegen hatte, seine Haut heiß auf ihrer, seine große Hand auf ihrem Bauch, und sie verschnauft hatten. Es war quälend, ihn in den Armen halten zu wollen und es nicht zu können. Sie ermahnte sich, es sei nur eine Frage der Zeit und des Gesundwerdens. Sie waren zusammen, und das allein zählte. Seine bloße Anwesenheit verlieh ihr Kraft.

Sie hörte, wie Richard hinter der über der Tür hängenden Decke mit mühsam beherrschter Stimme sprach und dabei jedes seiner Worte betonte, als habe es ihn unendlich viel gekostet. »Wir brauchen einfach nur ein wenig Zeit…«

Die Stimmen der Männer klangen überaus erregt und beharrlich, als sie alle durcheinander zu reden begannen. »Wir tun das nicht, weil wir es wollen, Richard, das solltest du eigentlich wissen. Du kennst uns doch … Was ist, wenn dadurch der Ärger hierher getragen wird? … Wir haben von den Kämpfen gehört. Du hast selbst gesagt, sie stammt aus den Midlands. Wir können nicht zulassen … wir werden niemals…«

Kahlan lauschte, erwartete das Geräusch des Ziehens seines Schwertes zu hören. Richard verfügte über eine nahezu unerschöpfliche Geduld, aber seine Toleranz war wenig ausgeprägt. Cara, seine Leibwächterin und ihre gemeinsame Freundin, war zweifellos ebenfalls dort draußen; Cara besaß weder Geduld noch Toleranz.

Statt sein Schwert zu ziehen, erwiderte Richard: »Ich bitte niemanden, mir irgendwas zu schenken. Ich verlange nichts weiter, als dass man mich an einem friedlichen Ort in Ruhe lässt, wo ich mich um sie kümmern kann. Ich wollte in der Nähe von Kernland sein, für den Fall, dass sie etwas braucht.« Er hielt inne. »Bitte … nur bis sie Gelegenheit hatte, wieder gesund zu werden.«

Kahlan hätte ihn am liebsten angeschrien: Nein! Wage es nicht, sie anzuflehen, Richard! Sie haben nicht das Recht, dich zu so etwas zu zwingen. Sie werden niemals begreifen können, welche Opfer du gebracht hast.

Doch sie konnte kaum mehr tun, als leise und bekümmert seinen Namen zu rufen.

»Stell uns nicht auf die Probe … wenn es sein muss, räuchern wir dich aus! Du kannst unmöglich gegen uns alle kämpfen – das Recht ist auf unserer Seite.«

Lärmend stießen die Männer finstere Verwünschungen aus. Jetzt, endlich, erwartete sie, das Geräusch des Ziehens seines Schwertes zu hören. Stattdessen antwortete Richard den Männern mit ruhiger Stimme, in Worten, die Kahlan nicht ganz verstand. Eine fürchterliche Stille setzte ein.

»Wir tun das nicht etwa gerne, Richard«, meinte schließlich jemand mit verlegener Stimme. »Wir haben keine andere Wahl. Wir müssen an unsere Familien und an all die anderen denken.«

Ein anderer Mann meldete sich zu Wort, er klang aufrichtig empört. »Außerdem scheinst du plötzlich ziemlich hochtrabend geworden zu sein mit deinen eleganten Kleidern und diesem Schwert, gar nicht mehr so wie früher, als du noch Waldführer warst.«

»Genau«, pflichtete ihm ein anderer bei. »Dass du fortgegangen bist und ein wenig von der Welt gesehen hast, heißt noch lange nicht, dass du zurückkommen und so tun kannst, als wärst du was Besseres als wir.«

»Ihr seid euch also alle einig, dass ich den mir gebührenden Rang überschritten habe«, stellte Richard fest. »Ist es das, was ihr mir sagen wollt?«

»Wie ich es sehe, hast du deinem Volk, deinen Wurzeln, den Rücken gekehrt. Offenbar glaubst du, unsere Frauen sind nicht mehr gut genug für den großen Richard Cypher. Nein, er musste ja irgendeine Frau von weit her heiraten. Und dann kommt ihr hierher zurück und denkt, ihr könnt Eindruck bei uns schinden.«

»Wie denn? Mit was denn? Indem ich die Frau heirate, die ich liebe? Das gilt in euren Augen als eitel? Das nimmt mir das Recht, in Frieden zu leben? Und ihr das Recht, gesund zu werden, wieder auf die Beine zu kommen und weiterzuleben?«

Diese Männer kannten ihn als Richard Cypher, einen einfachen Waldführer, und nicht, wie er herausgefunden hatte, als den Menschen, der er tatsächlich war und zu dem er sich entwickelt hatte. Er war noch derselbe wie zuvor, nur hatten sie ihn in vielerlei Hinsicht nicht gekannt.

»Du solltest den Schöpfer auf Knien darum bitten, dass er deine Frau gesund macht«, warf ein anderer Mann ein. »Die gesamte Menschheit ist ein niederträchtiger und unwürdiger Haufen. Du solltest beten und den Schöpfer um Vergebung bitten für deine ruchlosen Taten und deine Sündhaftigkeit – das hat dir und deiner Frau all den Ärger eingetragen. Stattdessen willst du deinen Ärger unter ehrliche, arbeitsame Menschen tragen. Du hast kein Recht, uns mit deinen sündigen Problemen zu behelligen, das ist nicht des Schöpfers Wille. Denk doch mal an uns. Der Schöpfer will, dass du dich in Demut übst und anderen hilfst – deswegen hat Er sie aufs Krankenlager geworfen, weil Er euch beiden eine Lektion erteilen wollte.«

»Hat er dir das selbst gesagt, Albert?«, fragte Richard. »Sucht dich dein Schöpfer etwa auf, um seine Pläne mit dir zu besprechen und dir seine Wünsche anzuvertrauen?«

»Er spricht zu jedem, der über die rechte Bescheidenheit verfügt, Ihm zuzuhören.« Albert schäumte.

»Außerdem«, meldete sich ein anderer Mann zu Wort, »muss man über diese Imperiale Ordnung, vor der du uns warnst, auch ein paar gute Dinge sagen. Wärst du nicht so dickköpfig, würdest du das einsehen, Richard. An dem Wunsch nach anständiger Behandlung für alle ist nichts verkehrt, er zeugt nur von einer ehrlichen Gesinnung. Es ist der Wunsch des Schöpfers, wie du zugeben musst, und dasselbe predigt auch die Imperiale Ordnung. Wenn du der Imperialen Ordnung nicht wenigstens das zu Gute halten kannst – nun, dann wäre es wohl das Beste, du verschwindest, und zwar schnell.«

Kahlan stockte der Atem.

Richard verkündete mit unheilvoller Stimme: »Ganz wie ihr wollt.«

Dies waren Männer, die Richard kannte. Er hatte sie alle mit Namen angesprochen und sie an die gemeinsamen Jahre und Taten erinnert. Und er hatte Geduld mit ihnen bewiesen. Doch als seine Geduld schließlich erschöpft war, war sie in Unduldsamkeit umgeschlagen.

Pferde schnaubten und stampften mit den Hufen, ihr Lederzaumzeug knarzte, als die Männer aufsaßen. »Morgen früh kommen wir zurück und brennen diese Hütte nieder. Besser, wir treffen in der Nähe weder dich noch deine Leute an, denn sonst verbrennt ihr mit ihr.« Ein paar letzte Verwünschungen, dann galoppierten die Männer davon. Das Donnern der sich entfernenden Hufe fuhr Kahlan bis ins Mark. Selbst das tat weh.

Sie bedachte Richard mit einem dünnen Lächeln, auch wenn er es nicht sehen konnte. Hätte er nur ihretwegen nicht gebettelt! Niemals, das wusste sie, hätte er für sich selbst um etwas gebettelt.

Licht flutete über die Wand, als die Decke vor der Tür zurückgeschlagen wurde; aus Richtung und Art des Lichts schloss Kahlan, dass es etwa um die Mittagszeit an einem leicht bewölkten Tag sein musste. Richard erschien neben ihr, sein hoch gewachsener Körper ragte vor ihr in die Höhe und warf einen Schattenstreifen über ihre Mitte.

Er trug ein schwarzes, ärmelloses Unterhemd ohne sein Hemd oder seinen prachtvollen goldschwarzen Überwurf, so dass seine muskulösen Arme frei blieben. An seiner linken Hüfte, auf der ihr zugewandten Seite, blitzte am Knauf seines einzigartigen Schwertes ein Lichtpunkt auf. Seine breiten Schultern ließen das Zimmer noch winziger erscheinen, als es noch einen Augenblick zuvor gewesen war. Sein Haar, in der Farbe irgendwo zwischen blond und braun, berührte leicht seinen Nacken, trotzdem war es die so unverkennbar deutlich in seinen Augen ablesbare Intelligenz gewesen, die als Erstes ihre Aufmerksamkeit gefesselt hatte.

»Richard«, sagte Kahlan leise, »ich erlaube nicht, dass du meinetwegen bettelst.«

Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel. »Sollte ich jemals betteln wollen, dann werde ich es auch tun.« Er zog ihre Decke ein Stück hoch und überzeugte sich, dass sie, obwohl sie schwitzte, fest zugedeckt war. »Ich wusste nicht, dass du wach bist.«

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Eine Weile.«

Sie vermutete, dass es eine ziemlich lange Weile gewesen sein musste, denn weder konnte sie sich erinnern, an diesem Ort eingetroffen zu sein, noch dass er die Hütte gebaut hatte, in der sie sich befanden.

Kahlan fühlte sich wie ein Mensch von Mitte achtzig, nicht wie jemand Mitte zwanzig. Sie war noch nie zuvor verletzt gewesen, jedenfalls nicht ernsthaft, auch keineswegs schwer, dass sie an der Schwelle des Todes gestanden hätte und so lange völlig hilflos gewesen wäre. Dieser Zustand war ihr verhasst, ebenso wenig konnte sie es ausstehen, nicht einmal die einfachsten Verrichtungen allein erledigen zu können. Meist verabscheute sie das noch mehr als die Schmerzen.

Es bestürzte sie, die Hinfälligkeit des Lebens so unerwartet und vollkommen zu begreifen, ihre eigene Zerbrechlichkeit, ihre Sterblichkeit. Sie hatte in der Vergangenheit ihr Leben des Öfteren aufs Spiel gesetzt und war viele Male in Gefahr geraten, doch in der Rückschau vermochte sie nicht zu sagen, ob sie wirklich jemals geglaubt hatte, dass ihr so etwas passieren konnte. Mit dieser Wirklichkeit konfrontiert zu werden, das war schon niederschmetternd.

In jener Nacht schien etwas in ihrem Innern zerbrochen zu sein ein Bild von sich selbst, eine Zuversicht. Sie hätte dabei leicht draufgehen können; auch ihr Kind hätte sterben können, bevor es überhaupt Gelegenheit hatte zu leben.

»Du bist auf dem Weg der Besserung«, sagte Richard, gewissermaßen als Antwort auf ihre Gedanken. »Das sage ich nicht einfach nur. Ich sehe, dass du wieder gesund wirst.«

Sie blickte unverwandt in seine Augen, nahm ihren Mut zusammen und fragte schließlich: »Woher wissen die Leute hier oben etwas von der Imperialen Ordnung?«

»Menschen, die vor den Kämpfen auf der Flucht sind, sind hier vorbeigekommen. Männer, die die Lehren der Imperialen unter die Leute bringen, sind sogar bis hierher vorgedrungen, wo ich aufgewachsen bin. Wenn man nicht nachdenkt, sondern nur seinen Gefühlen folgt, können ihre Worte durchaus vernünftig klingen und fast so etwas wie einen Sinn ergeben. Die Wahrheit scheint kein großes Gewicht zu haben«, fügte er als nachträgliche Erklärung hinzu. Er beantwortete die unausgesprochene Frage in ihren Augen. »Die Soldaten der Imperialen Ordnung sind wieder abgezogen. Die Narren dort draußen haben nur irgendwelche Dinge herumerzählt, die sie aufgeschnappt haben, weiter nichts.«

»Aber sie wollen uns vertreiben. Sie hören sich an wie Männer, die tun, was sie geschworen haben.«

Er nickte, doch dann kehrte sein Lächeln zaghaft zurück. »Weißt du eigentlich, dass wir uns ganz in der Nähe jener Stelle befinden, wo ich dir vergangenen Herbst zum ersten Mal begegnet bin? Erinnerst du dich noch?«

»Wie könnte ich den Tag, an dem ich dir begegnet bin, jemals vergessen?«

»Damals war unser Leben in Gefahr, und wir mussten von hier fliehen. Solange wir zusammen sind, ist nichts anderes wirklich von Bedeutung.«

Cara stürzte durch die Tür herein und blieb neben Richard stehen, so dass ihr Schatten auf der blauen Baumwolldecke, die Kahlan bis zu den Achseln verhüllte, mit Richards verschmolz. Caras in hautenges rotes Leder gehüllter Körper hatte die geschmeidige Eleganz eines Falken: eindrucksvoll, schnell und tödlich. Mord-Sith trugen ihre rote Lederbekleidung stets dann, wenn sie der Ansicht waren, es könnte Ärger geben. Caras langes blondes Haar, zu einem einzigen dicken Zopf geflochten, war ein weiteres Zeichen ihrer Zugehörigkeit zu den Mord-Sith, den Mitgliedern eines Elitecorps von persönlichen Beschützerinnen des Lord Rahl.

In gewisser Hinsicht hatte Richard mit Übernahme der Herrschaft D’Haras, eines Landes, das ihm in seiner Jugend gänzlich unbekannt gewesen war, auch die Mord-Sith übernommen. Er hatte diese Herrschaft nicht angestrebt, sie war ihm einfach in den Schoß gefallen. Mittlerweile unterstand ihm eine gewaltige Zahl von Menschen, die gesamte Neue Welt – Westland, die Midlands und D’Hara – war ihm Untertan.

»Wie fühlt Ihr Euch?«, erkundigte sich Cara ernstlich besorgt.

Kahlan brachte kaum mehr als ein heiseres Flüstern zu Stande. »Es geht mir schon besser.«

»Nun, wenn es Euch besser geht«, knurrte Cara, »dann erklärt Lord Rahl, dass er mich meine Arbeit machen lassen und mir erlauben soll, Männern wie diesen den nötigen Respekt beizubringen.« Ihre bedrohlich blauen Augen wandten sich für einen Augenblick zu jener Stelle, wo die Männer gestanden und ihre Drohungen vorgebracht hatten. »Zumindest denen, die ich am Leben lasse.«

»Ihr solltet Euren Kopf gebrauchen, Cara«, wandte Richard ein. »Wir können aus dieser Hütte unmöglich eine Festung machen und uns zu jeder Tages- und Nachtzeit schützen. Diese Männer haben Angst. So sehr sie sich auch irren mögen, sie betrachten uns als Gefahr für ihr Leben und das Leben ihrer Familien. Wir werden nicht so unvernünftig sein, einen aussichtslosen Kampf zu kämpfen, wenn wir es vermeiden können.«

»Aber Richard«, meinte Kahlan und deutete in einer matten Geste mit ihrer rechten Hand auf die Wand vor ihr, »du hast all das gebaut…«

»Nur dieses eine Zimmer. Ich wollte erst einmal ein Dach über dem Kopf für dich. Hat gar nicht lange gedauert – es mussten nur einige Bäume geschlagen und gespalten werden. Mit dem Übrigen haben wir noch gar nicht angefangen. Auf keinen Fall lohnt es sich, darüber Blut zu vergießen.«

Richard wirkte ruhig, Cara dagegen schien jeden Augenblick herausplatzen und ihrem Ärger Luft machen zu wollen. »Würdet Ihr Eurem halsstarrigen Ehemann vielleicht befehlen, dass er mir erlaubt, jemanden zu töten, bevor ich vollends den Verstand verliere? Ich kann nicht tatenlos mit ansehen, wie gewisse Leute Euch beide ungestraft bedrohen! Ich bin eine Mord-Sith!«

Cara nahm ihre Aufgabe, Richard – den Lord Rahl von D’Hara – zu beschützen, überaus ernst. Wenn es um Richards Leben ging, war Cara jederzeit bereit, erst zu töten und hinterher zu entscheiden, ob es erforderlich gewesen war. Dies war eines der Dinge, für die Richard keine Toleranz aufbrachte.

Als Antwort lächelte Kahlan nur.

»Mutter Konfessor, Ihr könnt doch unmöglich zulassen, dass Lord Rahl sich dem Willen derart törichter Männer beugt. Erteilt ihm den Befehl.«

Kahlan konnte die Menschen, die sie ihr ganzes Leben mit dem Namen ›Kahlan‹ angesprochen hatten, ohne wenigstens den Titel ›Konfessor‹ voranzustellen, wahrscheinlich an den Fingern einer Hand abzählen. Ihren endgültigen Titel – Mutter Konfessor – hatte sie zahllose Male gesprochen gehört, wobei der Tonfall von ehrfürchtiger Ergebenheit bis hin zu bebender Angst reichte. Sobald sie vor ihr niederknieten, waren viele Menschen völlig außer Stande, die beiden Worte ihres Titels zwischen zitternden Lippen hervorzubringen. Andere wiederum flüsterten sie, wenn sie allein waren, in mörderischer Absicht.

Kahlan war bereits mit Anfang zwanzig zur Mutter Konfessor ernannt worden – und damit die jüngste aller auf diesem mächtigen Posten berufenen Konfessoren. Doch das lag mehrere Jahre zurück, jetzt war sie die einzige noch lebende.

Kahlan hatte den Titel, das Verbeugen und Niederknien, die Ehrerbietung, die fast heilige Scheu, die Angst und die mörderischen Absichten stets über sich ergehen lassen, denn sie hatte gar keine andere Wahl. Mehr als das jedoch war sie die Mutter Konfessor – aufgrund von Erbfolge und Auslese, von Rechts wegen, durch ihren Schwur und aus Pflichtbewusstsein.

Cara hatte Kahlan stets mit ›Mutter Konfessor‹ angesprochen, doch bei Cara klangen diese Worte anders als bei anderen Menschen. Sie hatten fast etwas Herausforderndes, durch übertriebene Unterwürfigkeit leicht Trotziges, und doch schwang stets ein Anflug liebevollen Schmunzelns mit. Aus Caras Mund klangen sie für Kahlan nicht so sehr wie ›Mutter Konfessor‹, sondern eher wie ›Schwester‹. Cara stammte aus dem fernen Land D’Hara, mit Ausnahme des Lord Rahl stand in Caras Augen niemand nirgendwo im Rang höher als sie selbst. Ihr größtes Zugeständnis bestand darin, dass sie Kahlan in ihrer Pflicht gegenüber Richard als ebenbürtig betrachtete. Von Cara als ebenbürtig angesehen zu werden, war allerdings eine überaus große Ehre.

Wenn aber Cara Richard mit ›Lord Rahl‹ ansprach, schwang dabei nichts von einem ›Bruder‹ mit. Dann sprach sie genau das aus, was sie meinte: Lord Rahl.

Für die Männer mit den aufgebrachten Stimmen war der Titel eines Lord Rahl eine ebenso fremdartige Vorstellung wie das ferne Land D’Hara selbst. Kahlan stammte aus den Midlands, die D’Hara von Westland trennten. Die Menschen hier in Westland wussten weder etwas von den Midlands noch von der Mutter Konfessor. Jahrzehntelang waren die drei Bestandteile der Neuen Welt durch unüberwindbare Grenzen voneinander getrennt gewesen, dadurch war alles, was jenseits dieser Grenzen lag, mit einem Schleier des Geheimnisvollen umgeben. Erst im vergangenen Herbst waren diese Grenzen gefallen.

Im darauf folgenden Winter war schließlich auch die gemeinsame Barriere im Süden der drei Länder durchbrochen worden, die mehr als dreitausend Jahre lang die Gefahr der Alten Welt hermetisch ausgegrenzt hatte, was die Imperiale Ordnung auf den Plan gerufen hatte. Im vergangenen Jahr war die Welt in Aufruhr versetzt worden; alles, womit die Menschen aufgewachsen waren, hatte sich verändert.

»Ich werde nicht zulassen, dass Ihr Menschen Schaden zufügt, nur weil sie sich weigern, uns zu helfen«, sagte Richard an Cara gewandt. »Damit wäre nichts gewonnen, und am Ende würden wir uns damit nur noch zusätzliche Schwierigkeiten einhandeln. Was wir hier zu errichten begonnen haben, hat nicht viel Zeit in Anspruch genommen. Ich hatte geglaubt, dieser Ort sei sicher, doch ist dies leider nicht der Fall. Also werden wir einfach weiterziehen.«

Er kehrte Kahlan den Rücken zu; allmählich wich die Erregung aus seiner Stimme.

»Ich hatte gehofft, dich nach Hause zu bringen, an einen Ort des Friedens und der Ruhe, doch wie es scheint, bin ich selbst zu Hause nicht willkommen. Tut mir Leid.«

»Das trifft doch nur auf diese Männer zu, Richard.« Die Bevölkerung Anderiths hatte, unmittelbar bevor Kahlan überfallen und zusammengeschlagen worden war, Richards Angebot abgelehnt, sich dem aufstrebenden d’Haranischen Reich anzuschließen, das er in die Freiheit führen wollte. Stattdessen hatte sich das Volk von Anderith bereitwillig auf die Seite der Imperialen Ordnung geschlagen. Es schien, als habe Richard Kahlan zur Frau genommen und alles andere im Stich gelassen. »Was ist mit deinen wahren Freunden hier?«

»Ich bin noch nicht dazu gekommen … erst wollte ich einen Unterschlupf bauen. Jetzt ist dafür keine Zeit. Vielleicht später.«

Kahlan langte nach der an seiner Seite herabhängenden Hand. Seine Finger waren zu weit entfernt. »Aber Richard…«

»Hör zu, es ist nicht mehr sicher, hier zu bleiben. So einfach ist das. Ich habe dich hierher gebracht, weil ich dachte, hier könntest du dich in aller Ruhe erholen und wieder zu Kräften kommen. Ich habe mich getäuscht, dem ist nicht so. Wir können nicht hier bleiben. Verstehst du das?«

»Ja, Richard.«

»Wir müssen weiterziehen.«

»Ja, Richard.«

Die Angelegenheit hatte noch einen weiteren Aspekt, das wusste sie – etwas, das sehr viel wichtiger war als die unmittelbare Tortur, die das für sie bedeutete. Sie hatte einen entrückten, besorgten Blick in den Augen.

»Aber was ist mit dem Krieg? Alle zählen auf uns – auf dich. Bis ich mich wieder erholt habe, kann ich keine große Hilfe sein, aber dich brauchen sie sofort. Das d’Haranische Reich braucht dich. Du bist Lord Rahl, du bist ihr Anführer. Was tun wir hier? Richard…« Sie wartete, bis er den Kopf drehte und sie ansah. »Warum ergreifen wir die Flucht, wenn alle auf uns zählen?«

»Ich tue, was ich tun muss.«

»Was du tun musst? Was soll das heißen?«

Ein dunkler Schatten fiel über sein Gesicht, als er sich abwandte.

»Ich hatte … eine Vision.«

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