Richard runzelte die Stirn. »Und? Wer ist es? Was hat er gesagt?«
Sie hatte die Augen noch immer aufgerissen und brachte nur ein Flüstern zustande. »Er hat gesagt, es seien die Schwestern des Lichts.«
Er starrte sie eine ganze Weile an. »Wer sind die Schwestern des Lichts?«
Endlich blinzelte sie und blickte ihn an. »Sehr viel weiß ich nicht über sie. Niemand weiß viel über sie. Richard, ich glaube, wir sollten fort von hier.« Kahlan klammerte sich mit beiden Händen an seinen Arm. »Bitte! Laß uns gehen. Sofort.«
Richards Blick schweifte zu den Männern mit den Speeren und blieb auf dem Vogelmann haften. »Danke ihm, daß er gekommen ist. Sag ihm, wir nehmen die Sache selbst in die Hand.«
Der Vogelmann nickte. Nachdem er mit seinen Männern gegangen war und Kahlan Savidlin erklärt hatte, sie und Richard wollten allein gehen, führte Richard sie am Arm nach draußen. Sie bogen um ein paar Ecken, dann drückte er sie sanft gegen eine Wand und hielt sie an den Oberarmen fest.
»Also schön, vielleicht weißt du nicht sehr viel über sie, aber ein wenig doch. Erzähl mir alles. Man braucht nicht Gedanken lesen zu können, um zu sehen, daß du etwas weißt und daß du Angst hast.«
»Sie haben etwas mit Zauberern zu tun. Mit denen, die die Gabe besitzen.«
»Wie meinst du das?«
Kahlan legte ihm die Hände auf die Arme, so wie er es bei ihr tat. »Früher einmal, als ich mit Zauberer Giller unterwegs war, saßen wir beieinander und unterhielten uns. Du weißt schon, über das Leben, über Träume und dergleichen. Giller war ein Zauberer aus Berufung. Er besaß nicht die Gabe, nur die Berufung. Es war sein Lebenswunsch gewesen, Zauberer zu werden, seine Berufung. Zedd hatte ihm beigebracht, ein Zauberer zu sein. Wegen des magischen Netzes allerdings, das Zedd über jeden bei seinem Verlassen der Midlands geworfen hatte, konnte Giller sich nicht an Zedd erinnern. Niemand erinnerte sich an ihn. Nicht einmal an seinen Namen.
Wie auch immer, ich fragte ihn, ob er sich je mehr als nur die Berufung gewünscht hatte. Ob er sich wünschte, die Gabe zu besitzen. Er lächelte und dachte verträumt ein paar Minuten lang darüber nach. Dann verschwand sein Lächeln. Sein Gesicht wurde weiß, und er meinte, nein, er wünsche sich nicht, die Gabe zu besitzen.
Der verängstigte Ausdruck in seinem Gesicht verwirrte mich. Es geschieht nicht oft, daß Zauberer auf eine einfache Frage hin eine solche Miene aufsetzen. Ich fragte ihn, aus welchem Grunde das so sei. Er sagte, wenn er die Gabe besäße, würde er es mit den Schwestern des Lichts zu tun bekommen.
Ich fragte ihn, wer diese Schwestern seien, doch er wollte mir nichts über sie erzählen. Es sei am besten, nicht einmal ihren Namen laut auszusprechen. Er bat mich, ihn nicht weiter zu diesem Thema auszufragen. Ich weiß noch genau, welche Angst mir sein Gesichtsausdruck damals einjagte.«
»Weißt du, woher sie stammen?«
»Ich bin in den Midlands so gut wie überall gewesen. Nirgendwo habe ich gehört, daß man sie gesehen hätte. Und ich habe mich erkundigt.«
Richard ließ sie los und stemmte eine Faust in die Hüfte. Mit der anderen Hand drückte er die Unterlippe hoch und dachte nach. Schließlich verschränkte er die Arme und drehte sich um. »Die Gabe. Da wären wir also wieder bei der Gabe angelangt. Ich dachte, diesen Unfug hätten wir hinter uns. Ich besitze diese Gabe nicht!«
Sie faltete die Hände. »Richard, bitte, laß uns einfach fortgehen von hier. Wenn schon ein Zauberer vor den Schwestern des Lichts Angst hat … Laß uns einfach von hier fortgehen.«
»Und wenn sie uns folgen? Wenn sie uns einholen, wenn mich meine Kopfschmerzen flach auf den Rücken geworfen haben und ich hilflos bin?«
»Richard, ich weiß nichts über sie. Aber wenn ein Zauberer sich dermaßen vor ihnen fürchtet … Was, wenn wir jetzt im Augenblick hilflos sind?«
»Ich bin der Sucher. Ich bin nicht hilflos. Aber später könnte ich es sein. Besser, wir bestimmen den Treffpunkt als sie. Im übrigen bin ich das Gerede über diese Gabe leid. Ich besitze sie nicht, und ich werde diesem Unsinn hier und jetzt ein Ende machen!«
Sie atmete tief durch und nickte. »Also gut. Vermutlich sind der Sucher und die Mutter Konfessor nicht völlig hilflos.«
Er warf ihr einen strengen Blick zu. »Du kommst nicht mit.«
»Hast du ein Seil?«
Richard legte die Stirn in Falten. »Nein. Wieso?«
Sie zog eine Braue hoch. »Weil es dir schwerfallen wird, mich daran zu hindern, wenn du kein Seil hast, um mich festzubinden.«
»Kahlan, ich werde nicht zulassen…«
»Und ich werde dir keine Gelegenheit geben, eine Frau anzusehen, die dir womöglich besser gefällt als ich, ohne ihr einen ordentlichen Schlag unters Kinn zu verpassen.«
Er blickte sie wütend an, dann beugte er sich vor und gab ihr einen Kuß. »Also gut. Aber keine ›Abenteuer‹.«
Sie mußte lächeln. »Wir werden den dreien einfach sagen, daß du die Gabe nicht besitzt, und sie dann fortschicken. Und anschließend werde ich dir einen richtigen Kuß geben.«
Der Himmel verdunkelte sich gerade zu einem tiefen Blau, als sie beim Haus der Seelen eintrafen. Ein kleines Stück entfernt waren drei kräftige Pferde festgemacht. Ihre Sättel waren anders als alle, die sie bislang gesehen hatten, mit hohem Knauf und Hinterpausche. Als sie in der Eingangstür kurz zögerten, war die Luft so kalt, daß man ihren Atem sehen konnte. Richard und Kahlan lächelten einander an. Richard sah nach, ob das Schwert sicher in der Scheide steckte. Er holte tief Luft und zog die Tür auf. Kahlan hatte ihre Konfessormiene aufgesetzt, wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte.
Das Innere des Seelenhauses wurde von einem kleinen Feuer und zwei Fackeln in Wandhalterungen beleuchtet — jeweils eine zu beiden Seiten der Feuerstelle. Ihr Gepäck stand immer noch in der einen Ecke. Die Luft roch nach Pech und parfümierten Balsamstäbchen, die immer im Haus der Seelen verbrannt wurden, um die Seelen der Ahnen zu begrüßen. Der Schein der Fackeln flackerte über die Ahnenschädel, die auf einem einzelnen Regal aufgereiht lagen. Der Lehmboden war trocken, denn Richard hatte das Haus der Seelen dazu benutzt, den Schlammenschen zu zeigen, wie man Dächer baute, die nicht lecken. Die drei Frauen standen aufrecht in der Mitte des fensterlosen Gebäudes. Ihre braunen schweren Wollgewänder hingen fast bis auf den Boden herab. Die Kapuzen hatten sie übergezogen, so daß ihre Gesichter teilweise im Schatten lagen. Sie trugen lange, geteilte Reitröcke in einer dunklen, gedämpften Farbe und schlichte weiße Hemden.
Sie schoben die Kapuzen zurück. Die mittlere, die ein wenig größer war als die beiden anderen, aber nicht größer als Kahlan, hatte braunes, leicht gelocktes, volles Haar. Die Frau rechts von ihr hatte glattes schwarzes, schulterlanges Haar, und das der dritten war kurz, lockig, dunkel und mit einigen grauen Strähnen durchsetzt. Sie alle hatten die Hände behaglich vor dem Körper gefaltet.
Es war das einzig Behagliche an ihnen. Ihre Gesichter zeigten einen Ausdruck, der Kahlan an die Leiterin der weiblichen Dienstboten in Aydindril erinnerte. Es war ein Ausdruck von Autorität, den sie offenbar schon so lange trugen, daß er sich in ihren Falten verewigt hatte. Kahlan warf einen zweiten Blick auf ihre Hände, um zu sehen, ob sie leer waren. Sie sahen aus, als müßten sie Ruten in den Händen tragen. Ihre Augen waren wach, als wären sie bereit, jede Unverschämtheit im Keim zu ersticken.
Die Frau in der Mitte sprach. »Ihr seid Richards Eltern?« Ihre Stimme klang nicht ganz so streng, wie Kahlan erwartet hatte, wies jedoch einen deutlich autoritären Unterton auf.
Richard sah sie wütend an und machte ein Gesicht, als könnte er sie mit seinem Blick allem zwingen, einen Schritt zurückzuweichen. Er wartete, bis sein trotziger Blick sie veranlaßte, zu blinzeln, bevor er sprach. »Nein. Ich selbst bin Richard. Meine Eltern sind tot. Meine Mutter bereits seit meiner Jugend und mein Vater seit Ende des Sommers.«
Die drei wechselten Blicke.
Kahlan las ihm die Verärgerung von den Augen ab. Er verströmte die Magie des Schwertes, ohne es auch nur zu berühren. Jeden Augenblick würde er es ziehen. An seinem Blick erkannte sie, daß er keinen Moment zögern würde, sollten diese Frauen sich nur den geringsten Fehler erlauben.
»Das ist unmöglich«, sagte die größere in der Mitte. »Du bist … alt.«
»Nicht so alt wie Ihr«, fuhr Richard sie an.
Ihre Wangen röteten sich. Die Augen der Frau blitzten kurz und wütend auf, doch sie nahm dem Blick rasch seine Schärfe. »Das sollte nicht heißen, daß du alt bist, sondern lediglich älter als erwartet. Ich bin Schwester Verna Sauventreen.«
Die Schwarzhaarige zu ihrer Rechten meldete sich zu Wort. »Ich bin Schwester Grace Rendali.«
»Ich bin Schwester Elizabeth Myric«, meinte die dritte.
Schwester Verna lenkte ihren strengen Blick auf Kahlan. »Und wer, bitte, bist du, Kind?«
Kahlan wußte nicht, ob es an Richards Haltung lag, aber auch sie spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet. Sie biß die Zähne zusammen. »Ich bin nicht Euer ›Kind‹. Ich bin die Mutter Konfessor.« Auch Kahlans Ton konnte Autorität ausdrücken, wenn sie es darauf anlegte.
Man spürte es kaum, aber die drei zuckten leicht zusammen. Sie neigten gemeinsam leicht das Haupt.
»Vergib uns, Mutter Konfessor.«
Die Bedrohlichkeit der Atmosphäre im Haus der Seelen war immer noch greifbar. Kahlan merkte, wie sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Dann dämmerte ihr, daß sie deshalb so empfand, weil die drei eine Gefahr für Richard darstellten. Es war an der Zeit, die Mutter Konfessor herauszukehren.
»Woher kommt Ihr drei?« fragte sie mit Frost in der Stimme.
»Wir kommen von … weit her.«
Kahlans wütender Blick glich immer mehr dem Richards. »In den Midlands beugt man vor der Mutter Konfessor die Knie.« Sie hatte so gut wie nie auf diesem Brauch bestanden, hier aber schien es ihr angebracht zu sein.
Die drei warfen sich gleichzeitig in die Brust und richteten sich auf. Die Falten der Empörung auf ihren Stirnen vertieften sich.
Es reichte, um das Schwert zu ziehen.
Das unverwechselbare Klirren von Stahl hing in der Luft. Richard sagte nichts, er stand einfach da und hielt mit beiden Händen das Schwert. Kahlan sah, wie sich seine Muskeln spannten. Die Magie des Schwertes der Wahrheit funkelte gefährlich in seinen Augen. Sie war froh, daß dieser finstere Blick nicht ihr galt, beängstigend, wie er war. Die drei waren dadurch offenkundig nicht ganz so eingeschüchtert, wie sie erwartet hatte, dennoch drehten sie sich zu ihr um, ließen sich zusammen auf ein Knie herab und senkten ein weiteres Mal den Kopf.
»Vergib uns, Mutter Konfessor«, sagte Schwester Grace. »Wir sind mit euren Gebräuchen nicht vertraut. Wir hatten nicht vor, dich zu beleidigen.«
Kahlan wartete einen angemessenen Zeitraum und forderte die drei schließlich auf: »Erhebt euch, meine Kinder.«
Als sie wieder aufrecht standen, verschränkten sie die Hände abermals vor dem Bauch.
Schwester Verna atmete tief und ungeduldig durch. »Wir sind nicht gekommen, um dir angst zu machen, Richard. Wir sind hier, um dir zu helfen. Steck das Schwert ein.« Letzteres sagte sie in strengem Befehlston.
Richard rührte sich nicht. »Man hat mir gesagt, Ihr seid wegen mir gekommen, was immer das heißen mag, und daß ich nicht fortlaufen darf. Ich bin nicht fortgelaufen. Ich bin der Sucher und werde selbst entscheiden, wann ich mein Schwert einstecke.«
»Der Su…«, hätte Schwester Elizabeth fast laut gerufen. »Du bist der Sucher?«
Die drei sahen sich wieder an.
»Sagt, was Ihr von mir wollt«, verlangte Richard. »Und zwar sofort.«
Diesmal war es Schwester Grace, die ungeduldig Luft holte. »Richard, wir sind nicht hier, um dir Schaden zuzufügen. Machen dir drei Frauen so sehr angst?«
»Selbst eine Frau ist Grund genug, Angst zu bekommen. Das habe ich in einer bitteren Lektion gelernt. Ich habe keine törichten Hemmungen mehr, Frauen umzubringen. Zum letzten Mal: sagt, was Ihr von mir wollt, oder die Unterredung ist beendet.«
Ihr Blick fiel auf den Strafer an seinem Hals. »Ja, wir sehen, daß du einige Lektionen gelernt hast.« Ihr Ausdruck wurde etwas versöhnlicher. »Richard, du brauchst unsere Hilfe. Wir sind gekommen, weil du die Gabe besitzt.«
Richard blickte jeder einzeln ins Gesicht, bevor er etwas erwiderte. »Man hat Euch völlig falsch unterrichtet. Weder besitze ich die Gabe, noch will ich irgend etwas damit zu schaffen haben.«
Er ließ das Schwert zurück in die Scheide gleiten. »Es tut mir leid, daß Ihr umsonst von so weit her gekommen seid.« Er nahm Kahlans Arm. »Die Schlammenschen mögen keine Eindringlinge. Die Spitzen ihrer Waffen sind vergiftet, und sie zögern nicht, sie zu gebrauchen. Ich werde ihnen sagen, daß man Euch freies Geleit gewähren soll. Ich rate Euch, ihre Geduld nicht auf die Probe zu stellen.«
Richard führte Kahlan am Arm zur Tür. Sie spürte den Zorn, den er verstrahlte, sah seinen Augen an, wie verärgert er war, aber auch noch etwas anderes: seine Kopfschmerzen. Sie sah, unter welchen Qualen er litt.
»Die Kopfschmerzen werden dich töten«, meinte Schwester Grace ruhig.
Richard erstarrte auf der Stelle. Er atmete schwer, sein Blick war nach vorn ins Leere gerichtet. »Ich habe mein ganzes Leben Kopfschmerzen gehabt. Ich bin daran gewöhnt.«
»Aber nicht an solche«, fügte Schwester Grace hinzu. »Das sehen wir deinen Augen an. Wir sehen darin die Kopfschmerzen der Gabe. Das ist unsere Aufgabe.«
»Es gibt hier eine Heilerin, die sich darum kümmert. Sie ist sehr gut. Sie hat mir bereits geholfen, und ich bin zuversichtlich, daß sie mich von ihnen kurieren wird.«
»Das kann sie nicht. Das kann niemand außer uns. Wenn du dir nicht von uns helfen läßt, werden dich deine Kopfschmerzen töten. Deshalb sind wir hier: um dir zu helfen, nicht, um dir Schaden zuzufügen.«
Richard griff nach dem Riegel der Tür. »Um mich braucht Ihr Euch nicht zu sorgen. Ich bin mit der Gabe nicht gestraft. Bei mir ist alles bestens. Eine gute Reise, meine Damen.«
Kahlan legte ihm sacht die Hand auf den Arm und hinderte ihn daran, den Riegel zu ergreifen. »Richard«, sagte sie leise. »Vielleicht sollten wir sie wenigstens anhören. Was kann es schaden, ihnen zuzuhören? Du könntest etwas erfahren, was dir gegen deine Kopfschmerzen hilft.«
»Ich besitze diese Gabe nicht! Ich will nichts zu schaffen haben mit Magie! Magie hat mir nichts als Ärger eingebracht, nichts als Qualen. Ich besitze die Gabe nicht, und ich will sie nicht besitzen.«
Er griff erneut nach dem Riegel. »Und vermutlich willst du uns auch weismachen, deine Eßgewohnheiten hätten sich nicht plötzlich verändert«, sagte Schwester Grace. »Sagen wir, erst in den letzten Tagen.«
Richard blieb erneut wie festgefroren stehen. »Jeder bevorzugt mal dieses und mal jenes.«
»Hat dich irgend jemand im Schlaf beobachtet?«
»Was?«
»Wer dich im Schlaf beobachtet hat, wird bemerkt haben, daß du jetzt mit offenen Augen schläfst.«
Kahlan fühlte, wie sie ein kaltes Frösteln überlief. Allmählich wurden ihr die Zusammenhänge klar. Alle Zauberer hatten seltsame, eigene Eßgewohnheiten, und manchmal schliefen sie mit offenen Augen, selbst die, die die Gabe nicht besaßen. Bei denen, die wie Zedd die Gabe hatten, kam es häufiger vor.
»Ich schlafe nicht mit offenen Augen. Ihr täuscht Euch.«
»Richard«, meinte Kahlan leise, »vielleicht sollten wir doch anhören, was sie zu sagen haben.«
Er blickte sie an, als wollte er sie bitten, ihm aus dieser Sache herauszuhelfen. Als flehte er sie um Hilfe an. »Ich schlafe nicht mit offenen Augen.«
»Doch, das tust du.« Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Als wir Darken Rahl aufhalten wollten, habe ich dich über Monate hinweg im Schlaf beobachtet. Auf Wache habe ich dich oft schlafen sehen. Erst seit wir D’Hara verlassen haben, schläfst du wie Zedd mit offenen Augen.«
Richard kehrte den drei Frauen noch immer den Rücken zu. »Was wollt Ihr? Wie könnt Ihr mir bei meinen Kopfschmerzen helfen?« rief er über die Schulter.
»Wenn wir darüber reden sollen, dann ganz bestimmt nicht mit deinem Hinterkopf.« Schwester Verna klang, als hätte sie es mit einem trotzigen Kind zu tun. »Du wirst uns den gebührenden Respekt erweisen.«
Richard gegenüber war das in diesem Augenblick genau der falsche Ton. Er riß die Tür auf, ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Kahlan dachte, sie würde aus den Angeln brechen. Was sie zu ihm gesagt hatte, tat ihr im Herzen weh. Sie sollte zu ihm halten, das wollte er von ihr: er war nicht in der Stimmung, sich die Wahrheit anzuhören.
Sein Verhalten verwirrte sie. Normalerweise ging er der Wahrheit nicht aus dem Weg. Aber irgend etwas erfüllte ihn mit einer Todesangst. Sie drehte sich um und sah die drei Frauen an.
Schwester Grace faltete die Hände auseinander und ließ die Arme locker an den Seiten hängen. »Dies ist kein Spiel, Mutter Konfessor. Er wird sterben, wenn wir ihm nicht helfen. Er hat nicht mehr viel Zeit.«
Kahlan nickte. Ihr Zorn war verflogen und hatte einer traurigen Leere Platz gemacht. »Ich werde gehen und mit ihm sprechen«, meinte sie mit leiser Stimme, die in dem großen Raum fast verlorenging. »Bitte wartet hier. Ich hole ihn zurück.«
Richard hockte auf dem Boden und lehnte an der niedrigen Mauer, neben der Kerbe, die er vergangene Nacht, als der Screeling aufgetaucht war, mit seinem Schwert hineingeschlagen hatte. Er stützte die Ellenbogen auf die Knie und hielt die Hände mit verschränkten Fingern über seinem Kopf. Er sah nicht auf. Kahlan setzte sich neben ihn.
»Du hast im Augenblick ziemliche Kopfschmerzen, hab’ ich recht?«
Er nickte. Sie rupfte einen vertrockneten Grashalm aus, hielt ihn zwischen ihren Händen und stützte ihre Unterarme auf die Knie. Als hätte sie ihn an etwas erinnert, nahm er ein paar Blätter aus seiner Tasche und stopfte sie sich in den Mund.
Kahlan zupfte ein Blatt vom Stengel. »Sag mir, Richard, wovor hast du Angst?«
Er kaute einen Augenblick auf den Blättern herum, dann hob er den Kopf und lehnte sich zurück. »Weißt du noch, als der Screeling kam und ich ihn gespürt habe und du meintest, ich hätte ihn vielleicht nur gehört?« Sie nickte. »Als ich heute diesen Mann getötet habe, da habe ich ihn ebenfalls gespürt, genau wie diesen Screeling. Es war genau dasselbe. Gefahr. Beide Male wußte ich nicht, was es war, aber die Gefahr habe ich gespürt. Ich wußte, es würde Ärger geben, nur nicht, welcher Art.«
»Und was hat das mit den dreien dort drinnen zu tun?«
»Bevor wir das Haus der Seelen betraten, um uns mit diesen Frauen zu treffen, hatte ich genau das gleiche Gefühl: Gefahr. Was es bedeutet, weiß ich nicht, aber das Gefühl ist dasselbe. Irgendwie wußte ich, daß diese Frauen sich zwischen uns stellen würden.«
»Richard, das weißt du doch gar nicht. Sie wollen dir lediglich helfen, haben sie gesagt.«
»Doch, ich weiß es. Genau wie ich wußte, daß der Screeling da war und der Kerl mit dem Speer. Irgendwie bedeuten diese drei Frauen für mich eine Gefahr.«
Kahlan spürte, wie der Kloß in ihrem Hals dicker wurde. »Du hast auch gesagt, du wüßtest, daß die Kopfschmerzen dich töten könnten. Richard, ich habe Angst um dich.«
»Und ich habe Angst vor der Magie. Ich hasse Magie. Ich hasse die Zauberkraft des Schwertes. Ich wünschte, ich wäre sie los. Du kannst dir nicht vorstellen, mit was ich mich deswegen schon herumschlagen mußte. Du hast keine Vorstellung, was es mich gekostet hat, die Klinge weiß zu färben. Darken Rahls Magie hat meinen Vater getötet und mir den Bruder genommen. Sie hat einer Menge Menschen Schlimmes angetan.« Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wie ich Magie hasse.«
»Ich besitze auch magische Kräfte«, sagte sie leise.
»Die uns beinahe für immer getrennt hätten.«
»Aber nicht haben. Du hast einen Weg gefunden, um das zu verhindern. Ohne meine Magie hätte ich dich nie kennengelernt.« Sie strich ihm über den Arm. »Durch Magie hat Adie ihren Fuß zurückbekommen, und auch einer Menge anderer Menschen wurde geholfen. Zedd ist ein Zauberer, er besitzt die Gabe. Willst du behaupten, das sei schlecht? Zedd hat seine Gabe immer dazu benutzt, anderen zu helfen. Richard, auch du besitzt magische Kräfte. Du besitzt die Gabe. Du hast es selbst so gut wie zugegeben. Mit ihrer Hilfe hast du den Screeling gespürt. Und mich gerettet. Mit ihrer Hilfe hast du den Mann gespürt, der Chandalen töten wollte. Ihn hast du ebenfalls gerettet.«
»Aber ich will keine magischen Kräfte besitzen.«
»Mir scheint, du denkst an das Problem, nicht an die Lösung. Sagst du das nicht immer: denk an die Lösung, nicht an das Problem?«
Richard ließ den Kopf nach hinten an die Mauer sinken und schloß die Augen. Er stieß einen verzweifelten Seufzer aus. »So soll das also werden, wenn wir verheiratet sind? Du wirst mir für den Rest meines Lebens vorhalten, wie dumm ich mich benehme?«
Sie lächelte. »Hättest du es lieber, wenn ich zulassen würde, daß du dir irgend etwas Dummes einredest?«
Er rieb sich das Gesicht. »Vermutlich nicht. Ich habe solche Kopfschmerzen, wahrscheinlich kann ich deswegen nicht mehr klar denken.«
»Dann laß uns etwas dagegen tun. Gehen wir zurück und sprechen wenigstens mit den Schwestern, hören uns an, was sie zu sagen haben. Angeblich wollen sie dir helfen.«
Er sah sie finster an. »Das hat Darken Rahl auch behauptet.«
»Weglaufen ist keine Lösung. Vor Darken Rahl bist du auch nicht weggerannt.«
Er sah sie lange an und nickte dann. »Also gut, ich höre es mir an.«
Die drei standen immer noch so da, wie Kahlan sie verlassen hatte. Sie lächelten dankbar und waren sichtlich erleichtert, daß sie Richard zurückgeholt hatte. Richard und Kahlan blieben noch beieinander vor den drei Frauen stehen.
»Wir werden uns anhören — nur anhören –, was Ihr zu meinen Kopfschmerzen zu sagen habt.«
Schwester Grace sah Kahlan an. »Danke für deine Hilfe, Mutter Konfessor, aber jetzt werden wir mit Richard allein sprechen.«
Erneut flammte in Richard der Zorn auf, doch er hielt seine Zunge im Zaum. »Kahlan und ich werden heiraten.« Die drei warfen sich abermals besagten Blick zu. Diesmal war er noch etwas ernster als zuvor. »Was Ihr mir mitzuteilen habt, betrifft sie ebenso. Wenn Ihr mit mir sprechen wollt, bleibt sie hier und hört es ebenfalls. Entweder wir beide oder keiner. Entscheidet Euch.«
Wieder wechselten sie Blicke. Schließlich sprach Schwester Grace.
»Also gut.«
»Und Ihr sollt von vornherein wissen, daß ich Magie nicht mag und keinesfalls überzeugt bin, daß ich die Gabe besitze. Und wenn doch, dann gefällt mir das keineswegs, und ich will nichts weiter als sie loswerden.«
»Wir sind nicht hier, um dir zu gefallen, sondern um dir das Leben zu retten. Um das zu tun, müssen wir dir beibringen, die Gabe zu benutzen. Wenn du nicht lernst, sie zu beherrschen, wird sie dich töten.«
»Verstehe. Mit dem Schwert der Wahrheit hatte ich ein ähnliches Problem.«
»Als erstes mußt du lernen«, erklärte Schwester Verna, »uns — wie die Mutter Konfessor — mit Ehrerbietung zu behandeln. Wir haben lange hart dafür gearbeitet, Schwestern des Lichts zu werden, und erwarten den gebührenden Respekt. Ich bin Schwester Verna, dies ist Schwester Grace, und das hier Schwester Elizabeth.«
Richard funkelte sie an. Schließlich neigte er doch den Kopf. »Wie Ihr wünscht, Schwester Verna.« Er sah sie nacheinander an. »Und wer sind die Schwestern des Lichts?«
»Wir sind es, die die Zauberer ausbilden — jene, die die Gabe besitzen.«
»Und woher stammen die Schwestern des Lichts?«
»Wir alle leben und arbeiten im Palast der Propheten.«
Kahlan runzelte die Stirn. »Schwester Verna, vom Palast der Propheten habe ich noch nie gehört. Wo liegt er?«
»In der Stadt Tanimura.«
Die Falten auf Kahlans Stirn wurden noch tiefer. »Ich kenne jede Stadt in den Midlands. Von Tanimura habe ich noch nie gehört.«
Schwester Verna sah Kahlan einen Augenblick lang in die Augen. »Und dennoch stammen wir von dort.«
»Warum wart Ihr überrascht, als Ihr erfuhrt, wie alt ich bin?«
»Weil es«, erklärte Schwester Grace, »so gut wie noch nie vorgekommen ist, daß wir auf jemanden mit der Gabe nicht bereits aufmerksam werden, solange er noch jung ist.«
»Wie jung?«
»Höchstens ein Drittel deines Alters.«
»Und weshalb, glaubt Ihr, seid Ihr nicht auf mich aufmerksam geworden?«
»Offensichtlich warst du auf irgendeine Weise vor uns verborgen.«
Kahlan merkte, daß Richard drauf und dran war, in seine Rolle als Sucher zu schlüpfen und Antworten auf seine Fragen zu suchen, bevor er ihnen verriet, was sie wissen wollten.
»Habt Ihr Zedd ausgebildet?«
»Wen?«
»Zeddicus Z’ul Zorander, Zauberer der Ersten Ordnung.«
Wieder wanderte besagter Blick zwischen ihnen hin und her. »Wir kennen den Ersten Zauberer Zorander nicht.«
»Ich dachte, es gehört zu Euren Aufgaben, alle zu kennen, die die Gabe besitzen, Schwester Verna?«
Sie richteten sich auf. »Und du kennst diesen Zauberer der Ersten Ordnung?«
»Ich schon. Warum Ihr nicht?«
»Ist er alt?« Richard nickte. »Vielleicht lag es vor unserer Zeit.«
»Vielleicht.« Richard stemmte eine Faust in die Seite, machte ein paar Schritte und blieb mit dem Rücken zu ihnen stehen. »Woher wißt Ihr von mir, Schwester Elizabeth?«
»Es ist unsere Aufgabe, über die Bescheid zu wissen, die die Gabe besitzen: über die Zauberer. Zwar warst du offensichtlich vor uns verborgen, doch als du die Gabe ausgelöst hast, haben wir davon erfahren.«
»Und wenn ich kein Zauberer sein möchte?«
»Das ist deine Sache. Unsere ist es, dir beizubringen, wie man Magie beherrscht. Wir sind nicht hier, um dich zu zwingen, Zauberer zu sein, sondern nur, um dir beizubringen, wie man Magie beherrscht, damit du überleben kannst. Danach kannst du sein, was immer dir beliebt.«
Richard machte entschlossen kehrt und schob sein Gesicht ganz nah an Schwester Verna heran. »Woher wollt Ihr wissen, daß ich die Gabe besitze?«
»Wir sind die Schwestern des Lichts. Es ist unsere Aufgabe, das zu wissen.«
»Ihr dachtet, ich wäre jung. Ihr dachtet, ich befände mich bei meinen Eltern. Ihr wußtet nicht, daß ich der Sucher bin. Ihr kennt den Ersten Zauberer nicht. Ihr scheint etwas nachlässig zu sein. Mal ganz abgesehen von diesen Irrtümern, vielleicht irrt Ihr Euch ja auch, was meine Gabe anbetrifft, Schwester Verna? Eure Fehler schaffen nicht gerade Vertrauen. Erlaubt Euch Eure Stellung derartige Ungenauigkeiten?«
Die Gesichter aller drei Frauen hatten sich dunkelrot verfärbt. Schwester Verna hatte Mühe, ihre Stimme zu beherrschen. »Richard, es ist unsere Aufgabe, unsere Berufung, denen zu helfen, die die Gabe besitzen. Dem haben wir unser Leben gewidmet. Wir kommen von weit her. Alles, was wir in Erfahrung gebracht haben, geschah aus einer großen Entfernung. Wir kennen nicht alle Antworten. Die Dinge, von denen du sprichst, sind nicht von Wichtigkeit. Wichtig ist, daß du die Gabe hast und daß du sterben wirst, wenn du dir nicht von uns helfen läßt.
Ein Grund, weshalb wir denen mit der Gabe helfen, solange sie jung sind, weshalb wir deine Eltern aufsuchen wollten, liegt in ebenjenen Schwierigkeiten, die wir jetzt mit dir haben. Wenn wir mit den Eltern sprechen, dann können wir sie auch davon überzeugen, was für ihren Sohn am besten ist. Eltern haben ein größeres Interesse am Wohlergehen ihrer Kinder als jemand deines Alters für sich selbst. Jemand deines Alters auszubilden ist in der Regel schwierig. Menschen sind gelehriger, solange sie noch jung sind.«
»Bevor sie in der Lage sind, für sich selbst zu denken, Schwester Verna?« Keine Antwort. »Ich frage noch einmal. Woher wißt Ihr, daß ich die Gabe besitze?«
Schwester Grace strich ihr glattes, schwarzes Haar zurück. »Wenn jemand mit der Gabe geboren wird, dann liegt sie im verborgenen und ist harmlos. Wir sind bestrebt, diese Jungen aufzuspüren, solange sie noch jung sind. Wir haben viele Möglichkeiten festzustellen, wer sie sind. Manchmal tut jemand, der die Gabe besitzt, bestimmte Dinge, die ihr Wachstum auslösen, ihre Entwicklung. Wenn das geschieht, wird sie zur Bedrohung. Wie du dich unserer Kenntnis hast entziehen können, ist eine Frage, auf die wir keine Antwort wissen.
Einmal ausgelöst, beginnt die Kraft, sich zu entwickeln. Sie kann nicht aufgehalten werden. Man muß sie meistern, oder man stirbt. Genau das ist bei dir der Fall. Es ist äußerst selten, daß es auf diese Weise geschieht. Um ehrlich zu sein, man hat uns zwar gelehrt, daß so etwas schon vorgekommen ist, aber von uns hat niemand eigene Erfahrungen damit gemacht. Im Palast der Propheten wird es darüber Aufzeichnungen geben, in die wir einen Blick werfen werden. Aber das ändert nichts an dem, was allein zählt: du besitzt die Gabe, sie ist ausgelöst worden, und die Entwicklung hat eingesetzt. Noch nie haben wir jemanden deines Alters ausbilden müssen. Der Ärger, den das im Palast bereiten wird, macht mir angst. Die Gabe zu lehren verlangt Disziplin. Offenbar hat jemand deines Alters damit Schwierigkeiten.«
Richard mäßigte seinen Ton, sein Blick jedoch wurde härter. »Schwester Grace, ich frage Euch zum letzten Mal. Woher wißt Ihr, daß ich die Gabe besitze?«
Sie nahm eine aufrechte Haltung ein und seufzte. Dann sah sie zu Schwester Verna hinüber. »Erkläre du es ihm.«
Schwester Verna nickte resigniert und zog ein kleines, schwarzes Buch aus dem Gürtel. Stirnrunzelnd begann sie darin zu blättern. »Wer die Gabe besitzt, hat sein ganzes Leben lang Nutzen davon, in kleinen Dingen, auch wenn sie verschüttet liegt. Dir ist vielleicht schon aufgefallen, daß du Dinge tun kannst, die andere nicht können, ja? Die Entwicklung der Gabe wird durch die gezielte Verwendung der Magie ausgelöst. Einmal ausgelöst, kann sie nicht mehr aufgehalten werden. Genau das hast du getan.«
Sie blätterte eine Seite nach der anderen um, fuhr mit dem Finger suchend über sie. »Ah. Hier steht es.« Sie senkte das Buch und hob den Kopf. »Drei Dinge müssen getan werden, auf ganz bestimmte Weise, um die Gabe auszulösen. Wir wissen nicht genau, was dies für Dinge sind, aber wir wissen, worum es sich dem Prinzip nach handeln muß. Du hast diese drei Dinge getan. Erstens: du mußt die Gabe dazu benutzen, einen anderen zu retten. Zweitens: du mußt die Gabe dazu benutzen, dich selbst zu retten. Drittens: du mußt die Gabe dazu benutzen, einen anderen durch diese Gabe zu töten. Vielleicht siehst du die Schwierigkeiten, das zu erreichen, und weshalb wir es zuvor übersehen haben?«
»Und was steht über mich in diesem Buch?«
Sie schaute noch einmal in das Buch, dann hob sie den Kopf, zog eine Braue hoch, um sich seiner Aufmerksamkeit zu vergewissern, bevor sie erneut die Seiten zu Rate zog, und sprach. »Erstens: du hast die Gabe dazu benutzt, jemanden zu retten, der in die Unterwelt zurückgerissen wurde. Nicht körperlich, sondern über ihren Geist. Du hast sie zurückgeholt. Ohne dich wäre sie verloren gewesen.« Sie sah unter ihren Brauen hervor. »Du weißt, von wem ich spreche?«
Kahlan sah Richard an. Sie hatten beide verstanden. Sie war es gewesen, die er gerettet hatte. »In der Launenfichte«, sagte sie, »am ersten Abend, als wir uns kennengelernt hatten. Als du die Unterwelt daran gehindert hast, mich zurückzuholen.«
Richard nickte Schwester Verna zu. »Ja, ich habe verstanden.«
Schwester Verna steckte den Finger zurück ins Buch. »Was deine eigene Rettung mit Hilfe der Gabe anbelangt … mal sehen … ich habe es doch gerade erst … ah! Richtig, hier ist es.« Wieder sah sie unter ihren Brauen vor. »Zweitens: du hast die Gabe dazu benutzt, dein eigenes Leben zu retten.« Sie tippte mit dem Finger in das Buch. »Du hast deinen Verstand abgeteilt. Du weißt, wovon ich spreche, ja?«
Richard schloß die Augen. »Ja, ich weiß«, gab er mit schwacher Stimme zu. Diesmal wußte Kahlan nicht, wovon die Rede war.
Schwester Verna blickte wieder ins Buch. »Drittens: du hast die Gabe dazu benutzt, einen Zauberer zu töten. Sein Name war Darken Rahl. Du weißt, wovon ich spreche, ja?«
»Ja.« Er öffnete die Augen wieder. »Wie könnt Ihr diese Dinge wissen?«
»Die Dinge, die du getan hast, verbrauchen magische Energie, eine ganz bestimmte Energie, die eine Essenz zurückläßt — daraus sieht man, wer du bist und daß du nicht ausgebildet bist. Wärst du es, würde diese Essenz nicht zurückbleiben, und wir wüßten nichts über dich. Im Palast der Propheten stehen uns Leute zur Verfügung, die für solche Ereignisse empfänglich sind.«
Richard sah sie wütend an. »Ihr habt meine Privatsphäre verletzt, mir nachspioniert. Und was das dritte Eurer drei Ereignisse betrifft, genaugenommen habe ich Darken Rahl gar nicht getötet. Nicht wirklich.«
»Ich kann verstehen, wie du dich fühlst«, meinte Schwester Grace ruhig. »Aber dies geschieht nur, um dir zu helfen. Wenn du mit uns darüber streiten möchtest, ob diese drei Dinge als Auslöser geeignet sind, kann ich dich beruhigen. Sind sie einmal vollbracht, beginnt der Prozeß, der dich zum Zauberer machen wird. Vielleicht glaubst du nicht daran, vielleicht willst du kein Zauberer werden, aber ohne Zweifel wird es geschehen. Wir bürden dir diese Last nicht auf. Wir sind nur hier, um dir dabei zu helfen, mit ihr zurechtzukommen.«
»Aber…«
»Kein ›Aber‹. Ist die Magie einmal ausgelöst, ändern sich wenigstens drei Dinge. Erstens: du entwickelst seltsame Vorlieben, was deine Ernährung anbetrifft. Vielleicht bist du versessen auf bestimmte Dinge, oder du weigerst dich zu essen, was du früher gern gemocht hast. Wir haben dieses Phänomen studiert und verstehen den Grund nicht, aber es hat etwas mit den Einflüssen zum Zeitpunkt des Erwachens der Gabe zu tun.
Zweitens: du beginnst, zumindest manchmal, mit offenen Augen zu schlafen. Alle Zauberer tun das, selbst die, die nur berufen sind. Es hat etwas damit zu tun, daß man lernt, die Magie zu benutzen. Wenn du die Gabe besitzt, wird es durch die drei mit ihrer Hilfe vollbrachten Dinge ausgelöst. Bist du lediglich berufen, wird es durch das Lernen ausgelöst.
Drittens: die Kopfschmerzen setzen ein. Die Kopfschmerzen sind tödlich. Es gibt kein Mittel gegen sie, es sei denn, man lernt, die Magie zu beherrschen. Tust du das nicht, werden sie dich früher oder später töten.«
»Aber wann? Wieviel Zeit bleibt mir, wenn ich Eure Hilfe ablehne?«
Kahlan legte ihm die Hand auf den Arm. »Richard…«
»Wieviel Zeit!«
Schwester Elizabeth antwortete. »Es heißt, jemand hätte mehrere Jahre mit den Kopfschmerzen überlebt, bevor er starb. Man erzählt sich auch, ein anderer sei bereits innerhalb weniger Monate gestorben. Wir glauben, daß die dir verbleibende Zeit von der Stärke deiner Kraft abhängt. Je stärker deine Kraft, desto stärker deine Kopfschmerzen und desto kürzer deine Zeit. Möglicherweise sind sie schon in einem Monat so schlimm, daß sie dir gelegentlich das Bewußtsein rauben.«
Richard sah sie ruhig an. »So stark waren sie bereits.«
Die drei Schwestern rissen die Augen auf, und wieder wechselten sie jenen besagten Blick.
»Wir haben mit der Suche nach dir begonnen, bevor du diese drei Dinge getan hattest. Du hast alle drei vollbracht, seit wir den Palast verlassen haben«, meinte Schwester Verna. »Dieses Buch ist magisch. Sobald eine Botschaft in seinem Gegenstück im Palast verzeichnet wird, erscheint sie uns auch hier. Daher wissen wir, daß du sie vollbracht hast. Wie lange ist es her, daß du die dritte Tat vollbracht und diesen Darken Rahl getötet hast?«
»Drei Tage. Aber ich war schon in der zweiten Nacht nach seinem Tod bewußtlos.«
»In der zweiten …!« Und wieder dieser Blick.
Richards Gereiztheit kehrte zurück. »Wieso seht Ihr Euch ständig auf diese Weise an?«
Schwester Vernas Stimme klang sehr sanft. »Weil es nicht viele wie dich gibt, Richard. In mancherlei Hinsicht. Noch nie ist uns so viel Unerwartetes in einer einzigen Person begegnet.«
Kahlan schlang einen Arm um seine Hüfte. »Ihr habt recht, es gibt nicht viele wie ihn. Und ich liebe ihn. Was könnt Ihr tun, um ihm zu helfen?« Sie befürchtete, er könnte ihnen Angst einjagen und sie würden ihm dann nicht mehr helfen wollen.
»Es gibt bestimmte Regeln, die er befolgen muß. Wir alle müssen das, sie dürfen nicht gebrochen werden. Für Verhandlungen gibt es keinen Spielraum. Er muß sich ganz in unsere Hände geben und uns zum Palast der Propheten begleiten.« Schwester Grace wirkte traurig, als sie hinzufügte: »Und zwar allein.«
»Für wie lange?« wollte Richard sofort wissen. »Wie lange dauert das?«
Schwester Grace’ Haar leuchtete im Schein der Fackeln auf, als sie sich zu ihm umdrehte. »Das hängt davon ab, wie schnell du lernst. Es dauert so lange, wie es eben dauert. Du mußt bleiben, bis es abgeschlossen ist.«
Kahlan spürte, wie etwas ihre Brust zusammenschnürte, als Richard ihr den Arm um die Hüfte legte. »Darf ich ihn besuchen?«
Schwester Grace schüttelte langsam den Kopf. »Nein. Und da ist noch etwas.« Für einen winzigen Moment streifte ihr Blick den Strafer. Sie griff in ihr Gewand und holte einen Gegenstand hervor. Es war ein Ring aus Metall, kaum mehr als eine Hand im Durchmesser. Er sah aus, als sei er aus einem Stück, und doch tat Schwester Grace irgend etwas, und er schnappte auf und ließ sich an einem Gelenk zu zwei Halbkreisen öffnen. Seine mattsilberne Farbe warf den Schein des Feuers zurück. Sie hielt ihn vor Richard in die Höhe. »Dies wird Rada’Han genannt. Es ist ein Halsring. Du mußt ihn anlegen.«
Richard trat einen Schritt zurück, er löste die Hand von Kahlans Hüfte und griff sich an den Hals. Er wurde blaß im Gesicht und riß die Augen auf. »Warum?« fragte er kaum hörbar.
»Die Regeln gelten ab sofort. Die Diskussion ist vorbei.« Schwester Verna und Schwester Elizabeth stellten sich hinter Schwester Grace, während diese sprach. Dort blieben sie mit den Händen in den Hüften stehen, während die schwarzhaarige Frau den Halsring mit beiden Händen vor sich hielt. »Dies ist kein Spiel. Von nun an kann es nur nach den Regeln gehen. Hör gut zu, Richard.
Man wird dir drei Chancen geben, den Rada’Han anzunehmen; drei Chancen, unsere Hilfe anzunehmen — eine Schwester für jede Chance. Vor jedem Angebot — und deiner Gelegenheit, sie zu verweigern — wird dir jeweils eine andere Schwester einen der Gründe nennen. Nach jeder Nennung bekommst du Gelegenheit, anzunehmen oder abzulehnen.
Nach der dritten Weigerung gibt es keine weitere Chance — was du hoffentlich nicht erleben wirst. Du wirst keine weitere Hilfe von den Schwestern des Lichts erhalten. Du wirst durch die Kraft der Gabe sterben.«
Richard hielt noch immer seine Kehle umklammert. Noch immer war seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Warum muß ich diesen Halsring tragen?«
Schwester Grace warf sich mit ihrer ganzen Autorität in die Brust. »Keine Diskussionen. Du wirst zuhören. Du mußt dir den Rada’Han selbst um den Hals legen, aus freien Stücken. Ist er einmal angelegt, kannst du ihn nicht mehr entfernen. Nur eine Schwester des Lichts kann das. Dort wird er bleiben, bis wir sagen, daß er abgenommen werden kann. Und das geschieht erst dann, wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist. Vorher nicht.«
Richards Brust hob sich unter jedem mühevollen Atemzug. Er brachte es nicht fertig, seinen starren Blick von diesem Halsring zu lösen. Er hatte etwas seltsam Wildes, Gequältes in den Augen, das Kahlan noch nie bei ihm gesehen hatte. Sie war wie erstarrt, als sie bemerkte, wie entsetzt er war — und sie selbst auch.
Schwester Grace hielt seinem Blick wild entschlossen stand, als er zu ihr aufsah. »Dein erstes Angebot steht unmittelbar bevor. Jedes Angebot wird dir von einer ändern Schwester unterbreitet werden. Das erste Angebot kommt von mir. Ich, Schwester des Lichts, Grace Rendali, gebe den ersten Grund für den Rada’Han bekannt, gebe dir die erste Chance, Hilfe zu erhalten. Der erste Grund für den Rada’Han besteht darin, die Kopfschmerzen zu beherrschen und deine Gedanken zu öffnen, damit dir die Beherrschung der Gabe beigebracht werden kann.
Du hast jetzt Gelegenheit, anzunehmen oder abzulehnen. Ich gebe dir den dringenden Rat, das erste Angebot, unsere Hilfe zu bekommen, anzunehmen. Bitte glaub mir, beim zweiten Mal wird es für dich nur ungleich schwerer sein und schlimmer noch beim dritten Mal. Bitte, Richard, nimm das Angebot jetzt an, beim ersten der drei Gründe und Gebote. Dein Leben hängt davon ab.«
Sie stand still und wartete. Richards Blick wanderte zurück zu dem mattglänzenden, silbernen Halsring. Der Sucher wirkte, als stünde er kurz vor einer Panik. Im Raum war es totenstill, vom gelegentlichen Knistern des Feuers und leisen Zischen der Fackeln abgesehen.
Er hob den Kopf und öffnete den Mund. Doch kam kein Ton heraus. Mit aufgerissenen Augen begegnete er reglos ihrem durchdringenden Blick.
Schließlich blinzelte er und sprach in heiserem Flüsterton. »Ich werde keinen Halsring anlegen. Nie wieder werde ich einen Halsring tragen. Für niemanden. Aus welchem Grund es auch immer sein mag. Niemals.«
Sie richtete sich ein Stück weit auf, senkte den Ring und machte ein ehrlich überraschtes Gesicht. »Du weigerst dich, das Angebot des RadaHan anzunehmen?«
»Ich weigere mich.«
Schwester Grace blieb einen Augenblick lang stehen, ihr Blick war starr und enthielt, so schien es, eine Mischung aus Besorgnis und Trauer. Mit fahlem Gesicht wandte sie sich an die beiden Schwestern hinter sich. »Vergebt mir, Schwestern, ich habe versagt.« Sie übergab den Rada’Han an Schwester Elizabeth. »Jetzt liegt es an Euch.«
»Das Licht vergibt dir«, sagte Schwester Elizabeth leise und küßte Schwester Grace auf die bleichen Wangen.
»Das Licht vergibt dir«, flüsterte Schwester Verna und gab ihr ebenfalls zwei Küsse.
Schwester Grace wandte sich wieder Richard zu. Ihre Stimme klang ein wenig gebrochen. »Möge das Licht dich immer sanft in seinen Händen wiegen. Auf daß du eines Tages den Weg findest.«
Richards Blick erwidernd, hob sie ihre Hand und machte eine ruckartige Bewegung. Ein Messer schnellte aus ihrem Ärmel. Doch was dort aus dem Silbergriff hervorschoß, besaß eigentlich keine Schneide, sondern glich eher einem runden, spitzen Stichel.
Richard sprang zurück und zog mit einer schnellen, geschmeidigen Bewegung das Schwert. Sein unverwechselbares Klirren erfüllte die Luft.
Mit einer geschickten Bewegung hatte Schwester Grace das Messer in der Hand gedreht, so daß es mit der Spitze nicht auf Richard, sondern auf sie selbst zielte. Sie hielt es mit geübter Eleganz, ohne die Augen von Richard zu lassen.
Und dann stieß sie sich das Messer zwischen ihre Brüste.
Es gab einen Lichtblitz, der aus dem Innern ihrer Augen zu kommen schien, und sie sank tot zu Boden.
Richard und Kahlan rissen die Augen auf und traten entsetzt einen Schritt zurück.
Schwester Verna bückte sich und zog das Messer aus der toten Frau. Sie richtete sich auf und sah Richard an.
»Wie gesagt: dies ist kein Spiel.« Damit ließ sie das Messer in ihrem Gewand verschwinden. »Du mußt ihre Leiche eigenhändig begraben. Wenn du es jemand anderes für dich tun läßt, werden dich für den Rest deines Lebens Alpträume verfolgen, Alpträume, hervorgerufen durch Magie. Gegen sie gibt es kein Mittel. Vergiß nicht, du mußt sie eigenhändig begraben.« Die beiden Schwestern setzten ihre Kapuzen auf. »Du hast die erste von drei Chancen geboten bekommen und abgelehnt. Wir werden wiederkommen.«
Die beiden Schwestern gingen zur Tür und waren verschwunden.
Langsam senkte sich die Schwertspitze zu Boden. Richard starrte auf die Tote, während Tränen über seine Wangen liefen.
»Ich werde nie wieder einen Halsring anlegen«, flüsterte er in sich hinein. »Für niemanden.«
Mit schwerfälligen Bewegungen holte er eine kleine Schaufel aus seinem Gepäck und hakte sie an seinen Gürtel. Dann wälzte er Schwester Grace auf den Rücken, verschränkte ihr die Arme über der Brust und hob ihren leblosen Körper hoch. Einer ihrer Arme glitt von seinem Platz. Ihr Kopf hing kraftlos herab. Ihre toten Augen starrten ins Leere. Das schwarze Haar hing herab. Vorn auf ihrem weißen Hemd bildete sich ein kleiner Fleck aus Blut.
Richard suchte gequält Kahlans Blick. »Ich werde sie jetzt begraben. Ich möchte gern allein sein.«
Kahlan nickte und sah zu, wie er mit der Schulter die Tür aufstieß. Nachdem sie sich wieder geschlossen hatte, sank Kahlan zu Boden — und ließ ihren Tränen freien Lauf.