12

Ein fleckig-grauer Kopf kam durch das hohe Gras auf sie zugesprungen. Was immer es war, sehr groß war es nicht. Kahlan fragte sich, ob es vielleicht ein weiterer Screeling sein konnte. Der Gedanke ließ sie die Bogensehne spannen, bis die Pfeilspitze ihren Griff am Bogen und die Sehne ihre Wange berührte. Verzweifelt überlegte sie, ob sie den Schuß würde abfeuern können, wenn er sie tatsächlich angriff. Wenn auch ein Pfeil nach dem, was sie bislang gesehen hatte, gegen einen Screeling kaum etwas nützen würde. Aber vielleicht konnte sie ein weiteres Mal den Blitz herbeirufen.

Richard hielt sie mit seinem Arm zurück. »Warte.«

Eine gedrungene, haarlose Gestalt mit langen Armen und großen Füßen, bekleidet nur mit einer von Trägern gehaltenen Hose, brach vor ihnen durch das Gras. Blinzelnde gelbe Augen starrten auf die Pfeilspitze, die genau zwischen sie zielte.

Ein spitzzahniges Grinsen spaltete sein Gesicht. »Hübsche Lady«

Es war der Gefährte der Hexe Shota.

»Samuel«, fuhr Richard ihn knurrend an. »Was tust du hier?«

Das garstige Wesen stieß einen Zischlaut aus und grabschte nach dem Schwert. »Meins! Gib her!«

Richard schwang die Klinge drohend. Samuel schnitt einen Schmollmund und zog seinen Arm zurück. Richard legte die Schwertspitze in die grauen Hautfalten an Samuels Hals. »Ich habe dich gefragt, was du hier tust!«

Von unten kam ein haßerfüllter Blick. »Die Herrin will dich.«

»Geh allein zurück nach Hause. Wir gehen nicht in die Weite Agaden.«

Er betrachtete Richard mit einem seiner gelben Augen. »Herrin ist nicht in Agaden.« Er drehte sich um, stellte sich auf die Zehenspitzen, um über das Gras hinwegblicken zu können, und zeigte mit einem langen, plumpen Finger nach hinten auf die Stelle, wo das Dorf der Schlammenschen lag. »Herrin wartet dort auf dich. Wo diese Menschen alle zusammen leben.« Er warf Richard einen wütenden Blick zu. »Hat gesagt, wenn du nicht kommst, bringt sie sie um, und Samuel kann sich ein Süppchen aus ihnen kochen.« Sein Grinsen kehrte zurück.

Richard biß wütend die Zähne zusammen. »Wenn sie auch nur einem einzigen etwas…«

»Hat gesagt, sie tut ihnen nichts … wenn du zu ihr kommst.«

»Was will sie?«

»Dich.«

»Und was will sie von mir?«

»Hat Herrin Samuel nicht gesagt. Hat nur gesagt, ich soll dich holen.«

Kahlan hatte die Bogensehne halb entspannt. »Richard, Shota hat gesagt, sie bringt dich um, wenn sie dich noch einmal sieht.«

Er behielt Samuel im Blick, während er antwortete. »Nein. Sie hat gesagt, sie bringt mich um, wenn ich jemals in die Weite Agaden zurückkehre. Aber dort ist sie nicht.«

»Aber…«

»Wenn ich nicht gehe, bringt sie jemanden um, hat sie gesagt. Glaubst du ihr etwa nicht?«

»Doch … aber vielleicht tötet sie dich trotzdem.«

Er stöhnte, dann mußte er lächeln. »Töten, mich? Das glaube ich nicht. Sie mag mich. Ich habe ihr das Leben gerettet. Wenigstens mittelbar.«

Kahlan wurde wütend. Shota hatte schon einmal versucht, ihn zu verhexen, und das hatte ihr überhaupt nicht gefallen. Im Verein mit den Schwestern des Lichts war Shota so ungefähr der letzte Mensch, den Kahlan je wiedersehen wollte. »Mit gefällt das nicht.«

Richard warf ihr einen verstohlenen Blick zu. »Wenn du eine bessere Idee hast, sprich nur.«

Kahlan machte ihrem Ärger Luft. »Wir haben wohl keine andere Wahl. Aber sieh zu, daß sie ihre Finger von dir läßt.«

Richard sah sie verblüfft an, dann wandte er sich an den Gefährten der Hexe. »Geh du vor, Samuel, und vergiß nicht, wer das Schwert trägt. Und denke daran, was ich dir beim letzten Mal versprochen habe. Wenn du irgend etwas zu unserem Nachteil unternimmst, stecke ich dich vielleicht doch noch in den Topf.«

Samuel musterte die Klinge einen Augenblick, dann machte er ohne ein weiteres Wort kehrt, zog los und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, ob sie ihm auch folgten. Richard ließ das Schwert blank, schlang sich den Bogen über die Schulter und schob sich zwischen Kahlan und Samuel. Samuel sprang vor ihnen durch das Gras, drehte sich gelegentlich um und zischte sie an.

Kahlan folgte Richard dicht auf den Fersen. »Sie soll es nur nicht wagen, mir noch einmal Schlangen auf den Leib zu hetzen. Keine Schlangen!« sagte sie mit Nachdruck. »Das meine ich ernst!«

»Als hätten wir die Wahl«, murrte Richard.

Es war fast dunkel, als sie das Dorf erreichten. Sie kamen von Osten und sahen sofort, daß sich die gesamte Dorfbevölkerung dichtgedrängt am Südende des Gemeindeplatzes versammelt hatte, beschützt von bewaffneten Jägern, die Schulter an Schulter standen. Kahlan wußte, daß die Schlammenschen eine Todesangst vor der Hexe hatten. Sie wagten nicht einmal, ihren Namen auszusprechen.

Allerdings hatte jeder, der sie kannte, eine Todesangst vor der Hexe — Richard und Kahlan eingeschlossen. Shota hätte sie beim letzten Mal getötet, hätte Richard nicht einen von ihr gewährten Wunsch benutzt, um sie zu retten. Noch mehr Wünsche würde sie Richard allerdings sicher nicht gewähren.

Samuel führte sie durch die engen Gassen zum Haus der Seelen, als hätte er sein ganzes Leben hier verbracht. Er stieß ein gurgelndes Lachen aus, sprang voran und sah sich gelegentlich nach ihnen um. Mit blutleeren Lippen grinste er sie an, als wüßte er etwas, das sie nicht wußten. Als Richard ihn wegen seines zähnefletschenden Grinsens mit dem Schwert anstieß, fing er an zu knurren und zu zischeln, und seine gelben Augen leuchteten im schwächer werdenden Licht auf.

Samuel legte die langfingrige Hand auf den Riegel des Seelenhauses. »Die hübsche Lady wartet hier. Bei mir. Herrin will nur den Sucher sehen.«

»Richard, ich gehe mit rein«, meinte Kahlan entschieden.

Er sah sie von der Seite an, dann musterte er Samuel. »Mach die Tür auf.«

Samuel riß die Tür mit einem kräftigen Arm zurück und sah ihn aus seinen leuchtenden gelben Augen wütend an. Richard ließ das Schwert gezückt und gab Kahlan zu verstehen, daß sie mit hineinkommen solle. Die Tür schloß sich knarrend hinter ihnen; auf der anderen Seite blieb ein säuerlich dreinblickender Samuel zurück.

In der Mitte des Raumes stand ein hoher, eleganter Thron. Der Schein der Fackeln tanzte gleißend über die geschnitzten Blattgoldranken, -schlangen, -katzen und das andere Getier, mit dem jeder Zentimeter der stattlichen Konstruktion überzogen war. Darüber erhob sich ein mit schwerem, rotem Brokat behangener und mit goldenen Tressen geschmückter Baldachin. Der Thron selbst ruhte auf drei rechteckigen weißen Marmorplatten, die als Stufen dienten. Das Ganze war wuchtig und eindrucksvoll. Mit Quasten versehener roter Samt bedeckte den Sitz, den Rücken und die Oberseite der Armlehnen. Kahlan konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie er durch die Tür gepaßt haben konnte. Oder wie viele Männer notwendig gewesen waren, ihn zu schleppen.

Shota saß da wie eine Königin, die reglosen Mandelaugen auf Richard gerichtet. Sie hatte sich an den roten Samt gelehnt und ein Bein über das andere geschlagen, während ihre Arme auf den breiten, ausladenden Lehnen des Thrones ruhten und sie die Hände in einer Geste edlen Hochmuts über goldverzierte Fratzen drapiert hatte. Die Fratzen leckten ihr die Handgelenke, während sie mit dem langen, lackierten Nagel des Zeigefingers gegen ihren Daumennagel klickte. Das üppige kastanienbraune Haar fiel ihr bis auf die Schultern.

Shota richtete ihre alterslosen Augen auf Kahlan. Der lange, felsenstarre Blick schien die Mutter Konfessor zu lahmen, sie zu durchdringen. Eine rot-weiß-schwarz geringelte Schlange ließ sich herunterfallen und baumelte vom Baldachin herab. Zischend schnellte ihre Zunge Richtung Kahlan, dann ließ sie sich in Shotas Schoß fallen und rollte sich zusammen wie eine zufriedene Katze.

Es war eine Botschaft, daß sie nicht eingeladen sei, und eine Warnung vor allem, was geschehen würde, sollte irgend etwas Shotas Mißfallen erregen. Kahlan mußte schlucken und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Nach einer Ewigkeit, wie es schien, und nachdem die Hexe sich offenbar überzeugt hatte, daß ihre Botschaft angekommen war, richtete sie ihre ungerührten Augen wieder auf Richard.

»Steck dein Schwert ein, Richard.« Shotas Stimme war wie Samt, der mit dem Strich gestrichen wurde. Kahlan fand es nicht fair, daß eine so schöne Frau obendrein mit einer Stimme gesegnet war, die Butter zum Schmelzen bringen konnte — oder das Herz eines Mannes.

»Dem Eindruck nach zu urteilen, den du bei unserem Abschied hinterlassen hast, muß ich befürchten, daß du mich töten willst.« Zudem klang ihre Stimme nervtötend sanft.

»Sollte ich beschließen, dich zu töten, mein lieber Junge, und das kann durchaus sein, wird dir dein Schwert nichts nützen.« Plötzlich heulte Richard kurz auf und ließ das Schwert wie ein glühendes Stück Kohle fallen. Er starrte auf das Schwert und rieb sich die Hand. »Und nun stecke es fort.« Diesmal glich ihre Stimme eher Samt, der gegen den Strich gestrichen wurde.

Richard sah mit gesenktem Kopf zu Shota auf ihrem Thron hoch, dann bückte er sich, hob sein Schwert auf und ließ es in die Scheide gleiten.

Auf Shotas vollen Lippen machte sich ein selbstzufriedenes Grinsen breit. Sie nahm die Schlange aus ihrem Schoß und legte sie zur Seite. Shota betrachtete Richard noch einen Augenblick, dann erhob sie sich und beugte sich dabei so weit vor, daß Kahlan meinte, die Brüste müßten ihr aus dem hauchdünnen, tief ausgeschnittenen und raffinierten grauen Kleid fallen. Wie sie es schafften, es nicht zu tun, war Kahlan ein Rätsel. Ein kleines verkorktes Fläschchen purzelte aus seinem sicheren Versteck zwischen den Brüsten der Hexe und baumelte an einer dünnen Silberkette.

Kahlan wurde heiß und kalt, als Shota voller Eleganz die drei Stufen hinabstieg, ohne ein einziges Mal den Blick von Richard abzuwenden. Die losen Spitzen ihres Kleides spielten sanft um ihre Beine, wie in einer leichten Brise. Dieser Stoff, beschloß Kahlan, war entschieden zu dünn für ein Kleid. Sie fragte sich, wie sie wohl darin aussehen würde, ein Gedanke, der sie erröten ließ.

Als sie auf dem Boden stand, drehte Shota sich um und zog den Korken aus der kleinen Flasche. Der gesamte Thron begann zu wabern, als betrachtete man ihn durch Hitzeschlieren. Plötzlich verwandelte er sich in grauen Rauch, wirbelte im Kreis herum, wurde dabei immer kleiner, bis er als feiner Strich in das Fläschchen hineingesogen wurde. Shota stöpselte den Korken wieder ein, steckte das Fläschchen wieder zwischen ihre Brüste und schob es mit einem Finger so tief nach unten, daß man es nicht mehr sehen konnte. Kahlan atmete tief und hörbar durch.

Shotas Blick wanderte von Richards Augen zu seinem offenen Hemd. Sie wirkte amüsiert oder vielleicht auch zufrieden. Richard bekam einen roten Kopf.

Shotas Lächeln wurde breiter. »Wirklich entzückend.« Mit einem ihrer roten, langen Fingernägel strich sie ihm von seiner Brust bis hin zum Nabel, dann tätschelte sie sacht seinen Bauch. »Knöpf dein Hemd zu, Richard, sonst vergesse ich vielleicht, aus welchem Grund ich hergekommen bin.«

Richard wurde noch röter, und Kahlan trat vorsichtshalber näher an ihn heran, während er die Knöpfe zumachte.

»Shota«, sagte Richard und steckte sich die Hemdzipfel in die Hose. »Ich muß mich bei dir bedanken. Du weißt es vielleicht nicht, aber du hast mir wirklich geholfen. Mir geholfen, etwas zu begreifen.«

»Es war meine Absicht, dir zu helfen.«

»Du verstehst nicht. Ich meine, du hast mir geholfen, zu begreifen, wie wir zusammenbleiben können. Wie ich sie lieben kann.« Er lächelte. »Wir werden heiraten.«

Einen Augenblick lang herrschte eisiges Schweigen.

»Es stimmt«, meinte Kahlan und hob selbstbewußt das Kinn, »wir lieben uns … und wir können jetzt zusammenbleiben … für immer.« Sie haßte Shota dafür, daß sie ihr immer das Gefühl gab, sich erklären zu müssen — und wie sie selbst dabei ins Stammeln geriet.

Shotas harter Blick erfaßte sie, und das Lächeln verdampfte. Kahlan mußte erneut schlucken. »Ihr ahnungslosen Kinder«, meinte Shota leise und schüttelte den Kopf. »Ihr törichten, dummen Kinder.«

Richards Gesichtsausdruck wurde hitziger. »Vielleicht sind wir ahnungslos, aber wir sind keine Kinder, und wir lieben uns. Und wir werden heiraten. Ich hatte gehofft, du würdest dich für uns freuen, Shota, da du auch einen kleinen Teil dazu beigetragen hast.«

»Was ich dir gesagt habe, Junge, war, daß du sie töten mußt.«

»Aber das ist doch alles vorbei«, protestierte Kahlan. »Das Problem ist gelöst. Für uns ist jetzt alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung.«

Kahlan stockte der Atem, als sie spürte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Sie und Richard wurden durch den Raum geschleudert und hoch oben an die Wand gedrückt. Der Aufprall preßte ihr den Atem aus den Lungen. Winzige Lichtpunkte schwebten und tanzten ihr vor Augen. Sie senkte den Blick und versuchte, etwas zu erkennen.

Man hatte sie und Richard gut einen Meter über dem Boden an die Mauer aus Lehmziegeln gedrückt. Sie bekam kaum Luft. Das einzige, was sie bewegen konnte, war ihr Kopf. Sogar ihre Kleidung wurde an die Wand gedrückt. Ihr Gewand lag an der Mauer, als wäre es der Boden. Richard war ebenso hilflos wie sie. Die beiden mühten sich ab, warfen den Kopf hin und her, doch es war zwecklos. Sie saßen fest.

Shota schwebte durch den Raum auf sie zu, die Augen voller Glut. Sie blieb vor Kahlan stehen. »Er hat dich nicht töten müssen? Und jetzt ist alles in Ordnung, ja, Mutter Konfessor?«

»Ja«, brachte Kahlan hervor und versuchte trotz ihrer Hilflosigkeit zuversichtlich zu klingen.

»Bist du jemals auf die Idee gekommen, Mutter Konfessor, daß es Gründe gibt für das, was ich sage?«

»Ja, aber das ist doch alles…«

»Bist du jemals auf die Idee gekommen, Mutter Konfessor, daß es einen Grund dafür gibt, daß Konfessoren ihren Gatten nicht lieben sollen? Und vielleicht auch einen Grund dafür, daß er dich töten sollte?« Kahlan wußte keine Antwort. Verzweifelte Gedanken schossen ihr durch den Kopf.

»Wovon sprichst du eigentlich?« fuhr Richard sie an.

Shota beachtete ihn nicht. »Nun, bist du jemals auf die Idee gekommen, Mutter Konfessor?«

Kahlans Kehle war so trocken, daß sie zweimal schlucken mußte, bevor sie sprechen konnte. »Was meinst du? Welche Gründe?«

»Hast du bei diesem Mann gelegen, den du liebst? Hast du das etwa schon getan, Mutter Konfessor?«

Jetzt war Kahlan an der Reihe, rot zu werden. »Was für eine Frage!«

»Beantworte sie, Mutter Konfessor!« zischte Shota sie an, »oder ich werde dir augenblicklich das Fell abziehen und mir etwas Hübsches aus deiner Haut machen. Mir steht ohnehin ganz der Sinn danach. Besser, du lügst mich nicht an.«

»Ich … wir … nein! Und was geht dich das überhaupt an?«

Shota kam näher. Ihr Blick ließ Kahlan zusammenzucken. »Vielleicht solltest du dir es zweimal überlegen, bevor du es tust, Mutter Konfessor.«

»Was soll das heißen?« stieß sie mit weit aufgerissenen Augen hervor.

Shota verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Stimme wurde noch bedrohlicher. »Konfessoren sollen ihre Gatten nicht lieben, denn wenn sie ein männliches Kind gebären, müssen sie den Mann bitten, das Baby zu töten. Der Mann sollte von der Kraft des Konfessors überwältigt worden sein, damit er tut, was immer sie verlangt. Ohne zu fragen.«

»Aber…«

Shota kam noch näher, die Augen voller Zorn. »Wenn du ihn liebst, wie könntest du das von ihm verlangen? Wie könntest du Richard bitten, seinen Sohn zu töten? Glaubst du, er würde es tun? Würdest du den Sohn des Mannes töten, den du liebst? Würdest du das tun, Mutter Konfessor?«

Shotas Worte bohrten sich wie Messer in Kahlans Herz und Seele. Sie konnte die Antwort kaum mehr flüstern. »Nein.«

All ihre Hoffnungen, all ihr Glück schienen in sich zusammenzufallen. Aus Freude darüber, daß sie mit Richard zusammenbleiben konnte, hatte sie keinen Gedanken an die Zukunft verschwendet. An die Folgen. An Kinder. Sie hatte nur an Richard gedacht und daran, daß sie zusammenbleiben konnten.

Shota schrie sie an. »Und was dann, Mutter Konfessor! Willst du ihn etwa großziehen? Willst du, daß die Welt von einem männlichen Konfessor heimgesucht wird? Ein männlicher Konfessor!« Sie faltete die Arme auseinander, ließ die Fäuste, deren Knöchel weiß angelaufen waren, zur Seite herabfallen. »Du wirst der Welt erneut ein Zeitalter der Finsternis bescheren! Ein Zeitalter der Finsternis! Und nur weil du diesen Mann liebst! Hast du je darüber nachgedacht, du unwissendes Kind?«

Der Kloß in Kahlans Hals drohte sie zu ersticken. Am liebsten wäre sie vor Shota davongelaufen, aber sie konnte sich nicht bewegen. »Nicht alle männlichen Konfessoren sind so.«

»Fast alle! Fast jeder einzelne von ihnen!« Sie zeigte mit dem Finger auf Richard, ohne ihn anzusehen. »Willst du die ganze Welt aufs Spiel setzen, weil du diesen Mann liebst? Willst du riskieren, daß alle in das grauenhafte Zeitalter der Finsternis verbannt werden, nur weil du dir aus Eigennutz wünschst, daß das Kind dieses Mannes überlebt?«

»Shota.« Richards Stimme klang überraschend ruhig. »Die meisten Konfessoren bringen Mädchen zur Welt. Du sorgst dich um etwas, das vielleicht nie eintrifft. Vielleicht bekommen wir gar keine Kinder. Nicht alle Paare sind fruchtbar. Deine Sorge reicht über zahlreiche Gabelungen des Wegs hinaus.«

Plötzlich glitt Richard an der Wand herab und landete stöhnend auf dem Boden. In einem Anfall von Zorn packte Shota sein Hemd mit ihren Fäusten und hob ihn hoch, rammte ihn gegen die Wand und preßte ihm erneut den Atem aus den Lungen. »Glaubst du, ich bin genauso dumm wie du? Ich kenne den Lauf der Zeit! Ich bin eine Hexe! Wenn du bei dieser Frau liegst, wird sie ein männliches Kind gebären! Sie ist Konfessor! Jeder Konfessor bringt einen Konfessor zur Welt! Immer! Wenn du ihr ein Kind machst, wird es ein Junge sein!«

Sie rammte ihn noch einmal gegen die Wand. Kahlan zuckte zusammen, als sie hörte, wie sein Kopf gegen die Wand prallte. Shotas Auftritt war beängstigend und entsprach überhaupt nicht ihrer sonstigen Art. Sie hatte Kahlan schon früher durch ihre äußerste Bedrohlichkeit beeindruckt, gleichzeitig aber einen intelligenten, vernünftigen Eindruck gemacht. Wenigstens bis zu einem gewissen Grad. Jetzt schien sie verändert zu sein, irgendwie unbeständig.

Richard versuchte nicht, ihre Hände zu lösen; Kahlan konnte aber sehen, daß er wütend wurde. »Shota -!«

Sie rammte ihn noch einmal gegen die Wand. »Hüte deine Zunge, oder ich schneide sie dir raus!«

Richards Zorn schien dem Shotas ebenbürtig. »Du hast dich schon einmal geirrt, Shota! Geirrt! Es gibt viele Wege, auf denen die Ereignisse in der Zeit vorwärts fließen können. Hätte ich beim letzten Mal auf dich gehört und Kahlan umgebracht, würde Darken Rahl jetzt über uns alle herrschen! Und zwar deswegen, weil ich deinen dummen Rat befolgt hätte! Durch sie habe ich Darken Rahl besiegt! Hätte ich getan, was du wolltest, hätten wir verloren!«

Er warf sich in die Brust. Sah sie wütend an. »Wenn du den weiten Weg hierher gemacht hast, um uns wegen einer angeblichen Gefahr zu drohen, vergeudest du bloß deine Zeit. Ich habe beim letzten Mal nicht auf dich gehört, und ich werde es auch diesmal nicht tun! Ich werde sie auf dein Wort allein weder töten noch aufgeben! Auch nicht auf das eines anderen!«

Shota starrte ihn einen Augenblick lang an, dann löste sie die Hände von seinem Hemd. »Ich bin nicht wegen einer ›angeblichen‹ Gefahr in der Zukunft hergekommen«, sagte sie leise. »Ich bin auch nicht gekommen, um mit dir darüber zu streiten, ob man mit einem Konfessor Kinder zeugen darf, Richard Rahl.«

Richard fuhr entsetzt zurück. »Ich bin nicht…«

»Ich bin gekommen, weil ich dich vielleicht töten will für das, was du getan hast, Richard Rahl. Daß ihr zwei unwissenden Kinder Babys machen wollt, ist nur ein Floh im Pelz des Monsters, das ihr bereits erschaffen habt.«

»Warum nennst du mich so?« fragte Richard leise.

Shota betrachtete sein fahles Gesicht. »Weil das dein Name ist.«

»Ich bin Richard Cypher. George Cypher war mein Vater.«

»Du bist von einem Mann namens George Cypher aufgezogen worden. Gezeugt wurdest von einem gewissen Darken Rahl. Er hat deine Mutter vergewaltigt.«

Richard wurde noch blasser. Kahlan sehnte sich nach ihm. Jetzt begriff sie, jetzt wußte sie, daß es die Wahrheit war. Das war es, was sie in ihm gesehen hatte: das Gesicht seines Vaters, Darken Rahl. Sie versuchte verzweifelt, sich loszureißen, zu ihm zu gehen, doch es gelang ihr nicht.

Richard schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein. Das ist nicht wahr. Das kann nicht sein.«

»Doch«, fuhr Shota ihn an. »Darken Rahl war dein Vater. Und dein Großvater ist Zeddicus Zu’l Zorander.«

»Zedd?« sagte er tonlos. »Zedd ist mein Großvater?« Er richtete sich auf. »Darken Rahl … Nein, das kann nicht sein. Das ist nicht wahr.«

Er drehte sich um und sah Kahlan an. Er sah es ihrem Gesicht an, ja, sie wußte, daß es die Wahrheit war. Er wandte sich wieder Shota zu. »Zedd hätte es mir gesagt. Bestimmt. Ich glaube dir nicht.«

»Das ist mir gleich«, sagte sie tonlos. »Es ist mir gleich, was du glaubst. Ich kenne die Wahrheit.« Ihre Gefühle kehrten zurück. »Und die Wahrheit ist, daß du der Bastard eines Bastards eines Bastards bist! Und jeder dieser unehelichen Söhne, bis ganz zurück, besitzt die Gabe. Schlimmer noch, Zedd besitzt die Gabe ebenfalls. Du besitzt sie ebenfalls, aber sie stammt aus zwei Blutlinien von Zauberern.« Sie sah ihn wütend aus ihren großen Augen an. »Du bist ein sehr gefährlicher Mann, Richard Rahl.« Richard sah aus, als würde er jeden Moment zusammensinken. »Du besitzt die Gabe. In diesem Fall wäre ich eher geneigt, von einem Fluch zu sprechen.«

»Da gebe ich dir sogar recht«, sagte Richard leise.

»Du weißt, daß du die Gabe besitzt? Darüber brauchen wir also nicht zu streiten?« Richard konnte lediglich nicken. »Was das übrige anbelangt, das könnte mich kaum weniger kümmern. Du bist der Sohn von Darken Rahl und andererseits der Enkelsohn von Zeddicus Z’ul Zorander. Er ist der Vater deiner Mutter. Solltest du das nicht wahrhaben wollen, bitte. Glaube, was du willst. Gib dich einer Täuschung hin, wenn du möchtest. Ich bin nicht hier, um deine Herkunft aufzuklären.«

Richard ließ sich zurücksinken, bis er an der Wand lehnte. Er raufte sich die Haare. »Geh fort, Shota. Bitte, geh fort.« Seine Stimme klang, als wäre alles Leben aus ihm gewichen. »Ich will nichts mehr von dem hören, was du zu erzählen hast. Geh einfach fort. Laß mich allein.«

»Ich bin enttäuscht von dir, Richard.«

»Das ist mir gleichgültig.«

»Ich hatte dich nicht für so dumm gehalten.«

»Das ist mir ebenfalls gleichgültig.«

»Ich dachte, George Cypher würde dir etwas bedeuten. Ich dachte, du hättest ein gewisses Ehrgefühl.«

Er hob den Kopf. »Wie meinst du das?«

»George Cypher hat dich aufgezogen. Hat dir seine Zeit geschenkt, seine Liebe. Er hat dich unterrichtet, sich um dich gekümmert, dich ernährt. Dich geformt. Und das willst du alles fortwerfen, nur weil jemand deine Mutter vergewaltigt hat? Das ist es, was dir wichtig ist?«

In Richards Augen loderte es wie Feuer auf. Er hob langsam die Hände. Kahlan glaubte, er würde versuchen, Shota zu erwürgen, dann jedoch ließ er die Hände wieder sinken. »Aber … wenn Darken Rahl mein Vater ist…«

Shota warf die Arme in die Luft. »Was? Plötzlich spielst du dich auf wie er? Und fängst an, ganz unvermittelt widerliche Dinge zu tun, nur weil du es jetzt weißt? Hast du Angst, du könntest losziehen und unschuldige Menschen umbringen, weil du erfahren hast, daß Darken Rahl dein richtiger Vater ist? Du willst das, was du von George Cypher gelernt hast, in den Dreck treten, weil du herausgefunden hast, daß dein Name Rahl ist? Und du nennst dich der Sucher. Ich bin enttäuscht von dir, Richard. Ich dachte, du wärst selbst Manns genug. Und nicht die Spiegelung dessen, was andere über deinen Vorfahr denken.«

Richard ließ den Kopf hängen. Shota runzelte verärgert die Stirn und betrachtete ihn schweigend. Schließlich holte Richard tief Luft. »Es tut mir leid, Shota. Danke, weil du nicht zugelassen hast, daß ich mich noch dümmer aufführe, als ich es ohnehin schon getan habe.« Seine Augen waren feucht, als er zu Kahlan blickte. »Bitte, Shota, laß sie runter.«

Kahlan spürte, wie der Druck nachließ, und sie glitt die Wand hinab, bis ihre Stiefel dumpf auf den Boden schlugen. Shota sah sie so wütend an, daß sie an Ort und Stelle stehenblieb, obwohl sie eigentlich zu Richard hatte gehen wollen. Der starrte nur auf seine Stiefel.

Shota legte ihm einen Finger unters Kinn und hob seinen Kopf. »Du solltest froh sein, denn dein Vater war nicht häßlich. Von einer gewissen Ähnlichkeit abgesehen, hast du nichts von ihm geerbt. Außer seinem Zorn. Und die Gabe.«

Richard riß sein Kinn aus ihrer Hand. »Die Gabe. Ich will die Gabe nicht. Ich will nichts damit zu schaffen haben. Nichts, was ich von Darken Rahl bekomme, würde ich als Gabe bezeichnen. Ich hasse sie! Ich hasse Magie!«

»Sie stammt gleichermaßen von Zedd«, meinte Shota mit überraschendem Mitgefühl. »Von beiden Seiten. Genau so bekommt man die Gabe: sie wird vererbt. Manchmal wird eine, manchmal werden sogar viele Generationen übersprungen. Manchmal auch nicht. Du hast sie von beiden Seiten geerbt. In dir hat sie mehr als eine Dimension. Das ist ein gefährliches Gemisch.«

»Vererbt. Wie jede andere Entstellung auch.«

Mit einem spöttischen Grinsen packte Shota sein Gesicht mit ihren langen Fingern. »Denk daran, bevor du dich zu ihr legst. Von Kahlans Seite wäre der Junge ein Konfessor. Von deiner Seite — hätte er die Gabe. Kannst du überhaupt ermessen, wie gefährlich das wäre? Kannst du dir einen Konfessor mit der Gabe vorstellen? Einen männlichen Konfessor? Ich bezweifle es. Du hättest sie töten sollen, als ich es dir gesagt habe, du unwissendes Kind — bevor du eine Möglichkeit gefunden hattest, bei ihr zu bleiben. Du hättest sie töten sollen.«

Richard sah sie wutentbrannt an. »Genug von dem Gerede! Ich habe nicht die Absicht, mir das länger anzuhören. Durch Kahlan habe ich Darken Rahl besiegt. Hätte ich sie getötet, hätte er gewonnen. Hoffentlich hast du die Reise hierher nicht nur gemacht, um diesen Unsinn zu wiederholen.«

»Nein«, erwiderte Shota ruhig. »Diese Dinge spielen jetzt keine Rolle. Deswegen bin ich nicht gekommen. Der Grund meines Kommens ist das, was du bereits getan hast, nicht das, was du eines Tages vielleicht tun wirst. Was du bereits getan hast, Richard, ist schlimmer als alles, was du mit dieser Frau anrichten könntest. Kein Monster, das du mit ihr zeugen könntest, kommt dem Monster gleich, das du bereits erschaffen hast.«

Richard legte die Stirn in Falten. »Ich habe Darken Rahl daran gehindert, die Welt zu beherrschen. Ich habe ihn getötet. Ich habe kein Monster geschaffen.«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Die Magie der Ordnung war es, die ihn getötet hat. Wie ich dir gesagt habe: er darf kein Kästchen öffnen. Du hast ihn nicht umgebracht, du hast ihn eines der Kästchen der Ordnung öffnen lassen. Die Magie der Ordnung war es, die ihn getötet hat. Du hättest ihn töten sollen, bevor er eines der Kästchen geöffnet hat.«

»Das konnte ich nicht! Es war die einzige Möglichkeit! Es gab keinen anderen Weg, ihn umzubringen! Und was macht das auch für einen Unterschied? Er ist tot!«

»Es wäre besser gewesen, ihn gewinnen zu lassen, statt zuzulassen, daß er das falsche Kästchen öffnet.«

»Du bist verrückt! Was könnte schlimmer sein, als daß Darken Rahl die Magie der Ordnung an sich reißt und ungehindert die Welt beherrscht?«

Sie runzelte die Stirn. »Der Hüter«, sagte sie leise. »Es wäre besser gewesen, uns von Darken Rahl beherrschen, uns köpfen oder zu Tode foltern zu lassen, als das, was du zugelassen hast.«

»Wovon redest du?«

»Der Hüter der Unterwelt wird durch den Schleier an seinem Platz festgehalten, daran gehindert, in die Welt der Lebenden vorzudringen. Der Schleier hält ihn und seine Günstlinge zurück. Hält die gesamte Unterwelt zurück. Er trennt die Lebenden von den Toten. Durch dein Zutun ist der Schleier nun zerrissen. Schon jetzt sind einige seiner Mörder freigelassen worden.«

»Die Screelings«, sagte Richard leise.

Shota nickte. »Ja. Indem du die Magie der Ordnung freigesetzt hast, hast du zugelassen, daß ihre Zauberkraft irgendwie den Schleier zur Unterwelt eingerissen hat. Reißt er weit genug ein, wird der Hüter befreit sein. Du kannst dir nicht einmal vorstellen, welche Folgen das hätte.« Shota ergriff den Strafer, der um seinen Hals hing. »Was man dir hiermit angetan hat, ist eine Liebkosung im Vergleich mit dem, was er tun wird. Was er allen antun wird. Es wäre besser gewesen, Darken Rahl gewinnen zu lassen, als dies hier zuzulassen. Du hast die Menschen zu einem Schicksal verdammt, das jedes Grauen übersteigt.«

Sie packte den Strafer mit der Faust. »Ich sollte dich dafür töten, was du angerichtet hast. Ich sollte dich unsäglich leiden lassen. Hast du eine Vorstellung, wie gern der Hüter seinen Blick auf jemanden richten würde, der die Gabe besitzt? Hast du eine Vorstellung, wie sehr er sich nach jemandem mit der Gabe sehnt? Oder nach einer Hexe?«

Kahlan sah, daß Shota die Tränen über die Wangen liefen. Plötzlich überkam sie die Erkenntnis wie eine Flut, die ihr Innerstes in eiskalte Panik versetzte: Shota war gar nicht verärgert. Sie hatte Angst.

Deswegen war sie hier: nicht, weil sie verärgert darüber war, daß Kahlan noch lebte oder sie ein Kind bekommen könnten. Sie war hier, weil sie entsetzliche Angst hatte. Die Vorstellung, daß Shota, eine Hexe, Angst hatte, war schlimmer als alles, was sie sich vorstellen konnte.

Richard starrte sie mit aufgerissenen Augen an. »Aber … wir müssen doch irgend etwas tun können, irgend etwas, um das zu verhindern.«

»Wir?« kreischte sie und stach ihm mit dem Finger in die Brust. »Nein, du! Du allein, Richard Rahl. Ganz allein! Du bist der einzige, der das richten kann!«

»Ich? Warum ich?«

»Das weiß ich nicht«, greinte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. »Aber du bist der einzige, der die Kraft dazu hat.« Sie pochte ihm mit der Faust auf die Brust. »Du!« Immer wieder schlug sie gegen seine Brust, während er einfach nur dastand. »Du bist der einzige, der eine Chance hat! Warum, weiß ich nicht, aber du bist der einzige, der das richten kann. Nur du kannst den Riß im Schleier schließen.« Shota schluchzte. »Du allein, du dummes, törichtes Kind.«

Kahlan war wie benommen von der Ungeheuerlichkeit dessen, was hier geschah. Die Vorstellung, der Hüter könnte los sein, überstieg ihr Begriffsvermögen. Die Toten in der Welt der Lebenden — dieses Grauen konnte sie sich kaum vorstellen, doch als sie sah, wie sehr sich Shota fürchtete, bekam ihre Angst ein Maß.

»Shota … ich weiß nichts darüber. Ich habe keine Ahnung, wie ich…«

Shota trommelte noch immer unter Tränen gegen seine Brust. »Du mußt. Du mußt einen Weg finden. Du hast keine Ahnung, was der Hüter mir antun würde, was er einer Hexe antun würde. Wenn du es nicht für mich tust, dann tu es für dich selbst, tu es für Kahlan. Er würde ihr eine Ewigkeit voller Qualen bereiten, und das aus keinem anderen Grund als dem, daß du sie liebst. Er würde ihr das antun, nur um es für dich schlimmer zu machen. Wir alle werden gezwungen werden, bis in alle Ewigkeit auf der Grenze zwischen Leben und Tod zu verweilen, wo wir uns unter Qualen winden.« Sie schluchzte, konnte sich nicht mehr beherrschen. »Man wird uns die Seele aus dem Leib reißen … er wird unsere Seelen besitzen … für immer.«

Shota schlug Richard gegen die Brust. »Für immer, Richard. Ein seelenloser Geist, gefangen von den Toten. Eine Ewigkeit der Qualen. Du bist zu dumm, das zu begreifen. Du kannst dir unmöglich vorstellen, wie grauenhaft das wäre, bevor du es selbst gesehen hast.«

Kahlan hatte sich neben Richard gestellt und ihm zur Beruhigung die Hand auf die Schulter gelegt. Es machte ihr nichts aus mitanzusehen, wie er Shota tröstete. Sie sah, welch fürchterliche Angst die Hexe hatte. Kahlan konnte diese Angst nicht wirklich verstehen, weil ihr das Wissen über die Dinge fehlte, welches Shota besaß. Doch eigentlich genügte Shotas Reaktion bereits.

»Screelings sind in die Weite Agaden eingedrungen«, jammerte sie.

Richard sah sie an. »Screelings! In der Weite Agaden?«

»Screelings und ein Zauberer. Ein besonders widerwärtiger Zauberer. Samuel und ich konnten ihm mit wenig mehr als unserem Leben entkommen.«

»Ein Zauberer!« Richard legte ihr die Hände auf die Schultern und schob sie ein Stück zurück. »Was soll das heißen, ein Zauberer? Es gibt keine anderen Zauberer!«

»In Agaden gibt es einen. Die Screelings und dieser Zauberer befinden sich in diesem Augenblick in Agaden. Sie sind in meinem Haus. Meinem Zuhause!«

Kahlan hielt es nicht länger aus. »Shota, bist du sicher, daß es ein Zauberer war? Könnte es nicht jemand sein, der vorgibt, Zauberer zu sein? Es gibt keine anderen Zauberer mehr. Nur noch Zedd. Sie sind alle tot.«

Shota runzelte die Stirn und sah sie unter Tränen an. »Glaubst du wirklich, jemand könnte mich darüber täuschen, ob er magische Kräfte besitzt oder nicht? Ich weiß, wann ich einen Zauberer vor mir habe, und ich weiß, ob ein Zauberer die Gabe besitzt. Ich kenne das Zaubererfeuer. Dieser Zauberer, so jung er sein mag, besitzt die Gabe. Ich weiß nicht, woher er stammt oder weshalb niemand je etwas von ihm gehört hat. Aber er kam in Begleitung der Screelings. Screelings!

Das kann nur eins bedeuten. Der Zauberer hat sich dem Hüter verschrieben. Er tut, was der Hüter von ihm verlangt. Er versucht, den Schleier für den Hüter völlig zu zerreißen. Und somit hat der Hüter also Verbündete in dieser Welt. Vermutlich war Darken Rahl einer von ihnen. Deshalb konnte er auch Subtraktive Magie einsetzen.«

Shota wandte sich an Richard. »Wenn der Hüter sich eines Zauberers bedient, kann offenbar nur ein Zauberer den Schleier zerreißen. Du besitzt die Gabe. Du bist ein Zauberer. Ein törichter Zauberer, zugegeben, aber immerhin. Ich weiß nicht warum, aber du hast als einziger die Möglichkeit, den Schleier zu schließen.«

Richard wischte Shota eine Träne von der Wange. »Was wirst du tun?«

Das Feuer kehrte in Shotas Augen zurück. Sie biß die Zähne zusammen. »Ich gehe zurück nach Agaden. Ich werde mein Heim zurückerobern.«

»Aber sie haben dich doch fortgejagt.«

»Sie haben mich überrascht«, fauchte sie. »Ich bin nur hergekommen, um dir zu sagen, wie dumm du bist. Und daß du etwas unternehmen mußt. Du mußt den Schleier schließen, sonst werden wir alle…«

Shota kehrte ihnen den Rücken zu. »Ich gehe nach Agaden. Der Hüter wird seinen Helfer verlieren. Ich werde ihm die Gabe nehmen. Weißt du, wie man einem Zauberer die Gabe nimmt?«

»Nein.« Richard machte ein interessiertes Gesicht. »Ich wußte nicht, daß man das kann.«

»O ja, man kann es.« Sie drehte sich um und zog eine Braue hoch. »Wenn du ihnen die Haut abziehst, fließt die Magie aus ihrem Körper. Das ist die einzige Möglichkeit, einem Zauberer die Gabe zu nehmen. Ich werde ihn an seinen Daumen aufhängen und bei lebendigem Leibe häuten. Zentimeter für Zentimeter. Anschließend werde ich mit seiner Haut meinen Thron beziehen. Ich werde mich auf meinen Thron setzen, auf seine Haut, und zusehen, wie er sich zu Tode schreit, während die Magie aus seinem Körper strömt.« Sie ballte die Hand zur Faust. »Oder ich werde bei dem Versuch sterben.«

»Ich brauche Hilfe, Shota. Ich weiß nichts über diese Dinge.«

Shota starrte in die Ferne, beide Hände zu Fäusten geballt. Schließlich öffnete sie die Hände wieder. »Ich kann dir nichts sagen, was dir helfen würde.«

»Das heißt, es gibt etwas, das du mir sagen könntest, aber es würde mir nichts nützen.« Shota nickte. Richard stieß einen Seufzer aus. »Und das wäre?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Ihre Augen wurden wieder feucht. »Du wirst in der Zeit gefangen sein. Frag nicht, was das bedeutet, denn ich weiß es nicht. Du wirst erst dann die Chance haben, den Schleier zu schließen, wenn du dieser Falle entkommen bist. Sie wird dich einschließen, und der Hüter wird entkommen, es sei denn, du kannst dich befreien. Wenn du nicht etwas Bestimmtes über die Gabe in Erfahrung bringst, wirst du auf jeden Fall scheitern.«

Richard ging in die gegenüberliegende Ecke des Raumes. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und raufte sich mit der anderen die Haare. Kahlan mied Shotas Blick. Sie wollte der Hexe nicht in die Augen sehen, wenn sie nicht unbedingt mußte.

»Ist da noch etwas?« rief Richard über die Schulter. »Kannst du mir noch irgend etwas sagen? Egal, was?«

»Nein. Und glaube mir, gäbe es etwas, ich wäre mehr als willig, es dir zu sagen. Ich habe keine Lust, dem Hüter zu begegnen.«

Richard dachte eine Weile darüber nach. Schließlich kam er zurück und stellte sich vor Shota. »Ich habe Kopfschmerzen. Schlimme Kopfschmerzen.«

Shota nickte. »Die Gabe.«

»Drei Frauen waren hier. Sie nannten sich die Schwestern des Lichts. Sie meinten, ich müsse mit ihnen gehen, um zu lernen, wie man die Gabe beherrscht, oder die Kopfschmerzen würden mich umbringen.« Richard sah ihr ins Gesicht. »Was weißt du über sie?«

»Ich bin eine Hexe. Über Zauberer weiß ich nicht viel. Jedenfalls haben die Schwestern des Lichts etwas mit Zauberern zu tun. Mit ihrer Ausbildung. Das ist alles, was ich weiß. Ich weiß nicht einmal, woher sie stammen. Sie treten in großen Abständen auf den Plan, wenn sie herausgefunden haben, daß jemand mit der Gabe geboren wurde.«

»Und wenn ich nicht mit ihnen gehe? Werde ich dann sterben, wie sie behaupten?«

»Wenn du nicht lernst, die Gabe zu beherrschen, werden dich die Kopfschmerzen töten. Soviel weiß ich.«

»Aber sind sie die einzige Möglichkeit?«

Shota zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht. Aber eins weiß ich mit Sicherheit: Du mußt lernen, die Gabe zu nutzen, sonst wirst du weder der Falle entkommen noch den Schleier schließen können — oder auch nur die Kopfschmerzen überstehen.«

»Du meinst also, ich soll mit ihnen gehen?«

»Nein. Ich habe gesagt, du mußt lernen, die Gabe zu beherrschen. Möglicherweise gibt es einen anderen Weg.«

»Und welchen?«

»Frag mich nicht, Richard. Ich weiß nicht einmal, ob es einen anderen Weg gibt. Es tut mir leid, aber dabei kann ich dir nicht helfen. Nur Narren geben Ratschläge in Dingen, von denen sie nichts verstehen. Hierbei kann ich dir keinen Rat geben.«

»Shota«, flehte Richard sie an, »ich bin am Ende. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich begreife überhaupt nichts mehr, weder die Schwestern, die Gabe noch den Hüter. Kannst du mir denn gar nichts sagen, was mir helfen würde?«

»Ich habe dir alles gesagt, was ich weiß. Ich komme mir ebenso verloren vor wie du. Sogar noch verlorener. Es ist mir nicht gegeben, die Geschehnisse zu beeinflussen. Wenigstens das bleibt dir. So klein die Chance auch sein mag.« Shotas Augen blitzten auf. »Ich habe solche Angst, in die toten Augen des Hüters blicken zu müssen. Ich kann nicht mehr schlafen, seit ich davon erfahren habe. Wenn ich wüßte, wie, würde ich dir helfen. Nur weiß ich einfach nichts über die Welt der Toten. Noch gehört sie nicht zu den Dingen, mit denen sich die Lebenden auseinandersetzen müssen.«

Richard starrte zu Boden. »Shota«, sagte er leise. »Ich habe keine Ahnung, was ich machen soll. Ich habe Angst. Große Angst.«

Sie nickte. »Ich auch.« Sie streckte die Hand aus und berührte sanft sein Gesicht. »Auf Wiedersehen, Richard Rahl. Kämpfe nicht gegen dein Selbst an. Nutze es.« Zu Kahlan gewandt, sagte sie: »Ich weiß nicht, ob du ihm helfen kannst, aber sollte es eine Möglichkeit geben, dann weiß ich, daß du dein Bestes geben wirst.«

Kahlan nickte. »Das werde ich, Shota. Hoffentlich bekommst du dein Haus zurück.«

Shota lächelte dünn. »Danke, Mutter Konfessor.«

Sie drehte sich um und schien zur Tür zu schweben, gefolgt von der Schleppe ihres hauchdünnen Kleides. Sie drückte die Tür auf. Dahinter wartete Samuel mit leuchtend gelben Augen auf sie. Shota blieb abrupt im Türrahmen stehen.

»Richard, sollte es dir irgendwie gelingen, den Schleier zu schließen und mich vor dem Hüter zu retten, alle vor dem Hüter zu retten, werde ich dir ewig dankbar sein.«

»Danke, Shota.«

Sie kehrte ihnen immer noch den Rücken zu. »Doch wisse: wenn du der Mutter Konfessor ein Kind schenkst, wird es ein Junge sein. Ein männlicher Konfessor. Keiner von euch beiden wird die Kraft besitzen, ihn zu töten, obwohl ihr um die Folgen wißt.« Sie hielt einen Augenblick lang inne. »Meine Mutter hat in den Zeiten der Finsternis gelebt.« Ihre Stimme war kalt wie Eis. »Ich habe die Kraft. Und ich werde sie nutzen. Darauf habt ihr mein Wort. Doch ihr sollt wissen, daß dies nicht persönlich gemeint ist.«

Die Tür schloß sich quietschend hinter ihr. Das Haus der Seelen wirkte plötzlich leer. Und sehr still.

Kahlan war wie betäubt. Sie sah auf ihre Hände. Sie zitterten. Sie wollte, daß Richard sie in die Arme schloß, doch er tat es nicht. Er starrte auf die Tür. Sein Gesicht war weiß wie Schnee.

»Ich kann das alles nicht glauben«, sagte er leise. Er starrte noch immer auf die Tür. »Wie ist das möglich? Träume ich das alles?«

Kahlan hatte das Gefühl, als würden ihre Knie nachgeben. »Richard, was sollen wir tun?«

Richard drehte sich mit abwesendem Blick zu ihr um. In seinen Augen standen Tränen. »Das muß ein Alptraum sein.«

»Wenn, dann träume ich genau denselben. Richard, was sollen wir bloß tun?«

»Wieso fragt mich jeder das? Wieso fragen alle immer mich? Wieso glaubt jeder, ich sei es, der das weiß?«

Kahlan stand mit leerem Blick da und versuchte nachzudenken. Sie schien keinen zusammenhängenden Gedanken fassen zu können. »Weil du der Sucher bist, Richard.«

»Ich weiß nichts über die Unterwelt oder den Hüter. Über die Welt der Toten.«

»Shota meinte, kein Lebender wüßte etwas darüber.«

Richard schien aus seiner Trance zu erwachen. Plötzlich packte er sie an den Schultern. »Dann müssen wir eben die Toten befragen.«

»Was?«

»Die Seelen der Vorfahren sind tot. Mit ihnen können wir sprechen. Ich kann um eine Versammlung bitten und ihnen Fragen stellen. Wir können etwas von ihnen erfahren. Vielleicht können wir herausfinden, wie man den Schleier schließt. Vielleicht kann ich herausfinden, wie man die Kopfschmerzen abstellt und die Gabe nutzt.« Er packte sie am Arm. »Komm.«

Kahlan hätte fast gelächelt. Jetzt war er wieder ganz der Sucher. Richard zog sie durch die Gassen des Dorfes und rannte, so schnell es ging. Der Mond war von Wolken verhüllt, und zwischen den Häusern war es dunkel. Die Luft fühlte sich auf der Haut wie Eis an und trieb Kahlan die Tränen in die Augen.

Als sie den freien Platz erreichten, sahen sie Licht. Im Fackelschein warteten dort die versammelten Schlammenschen, von den Jägern beschützt. Sie wußten nicht, daß die Hexe fort war. Schweigend verfolgte das gesamte Dorf, wie die beiden die freie Fläche überquerten und die Jäger eine Lücke machten, um sie durchzulassen, als sie sich dem Vogelmann und den anderen sechs Ältesten näherten. Neben ihnen stand Chandalen.

»Alle sind in Sicherheit«, beruhigte Kahlan sie. »Die Hexe ist fort

Ein erleichtertes Aufatmen ging durch die Menge.

Chandalen rammte das hintere Ende seines Speeres in den Boden. »Schon wieder macht ihr nichts als Ärger!«

Richard ignorierte ihn und bat Kahlan zu übersetzen. Er musterte die Ältesten, dann blieb sein Blick auf dem Vogelmann haften. »Geehrter Ältester. Die Hexe war nicht gekommen, um irgend jemandem Schaden zuzufügen. Sie war hier, um mich vor einer großen Gefahr zu warnen.«

»Das behauptest du«, fuhr ihn Chandalen an. »Ob das stimmt, wissen wir nicht

Kahlan sah, wie schwer es Richard fiel, ruhig zu bleiben. »Du bezweifelst, daß sie dich hätte in die Welt der Seelen schicken können, wenn sie das gewollt hätte?«

Chandalen antwortete nur mit einem wütenden Blick.

Der Vogelmann bedachte Chandalen seinerseits mit einem Blick, unter dem der ein paar Zentimeter zu schrumpfen schien. Dann sah er Richard an. »Was für eine Gefahr?«

»Sie sagt, es besteht die Gefahr, daß die Toten in die Welt der Lebenden entkommen.«

»Sie können nicht in die Welt der Lebenden entkommen. Der Schleier hält sie zurück

»Du hast von dem Schleier gehört?«

»Ja. Jede Ebene des Totenreiches, der Unterwelt, wie du es nennst, ist mit einem Schleier versiegelt. Wenn wir eine Versammlung abhalten und die Seelen unserer Vorfahren einladen, uns zu besuchen, dann können sie den Schleier für eine kurze Zeit durchqueren

Richard betrachtete einen Augenblick das Gesicht des Vogelmannes. »Was weißt du noch über den Schleier?«

Sein Gegenüber zuckte mit den Achseln. »Nichts. Wir wissen nur, was uns die Seelen unserer Vorfahren darüber berichtet haben: daß sie ihn durchqueren müssen, wenn wir sie rufen, und daß er sie den Rest der Zeit zurückhält. Wie sie erzählen, gibt es zahlreiche Ebenen der Unterwelt, des Totenreiches. Sie befinden sich auf der höchsten, daher können sie zu uns kommen. Wer nicht verehrt wird, sinkt auf eine der unteren Ebenen und darf nicht kommen. Diese Seelen sind auf ewig eingesperrt

Richard sah allen Ältesten nacheinander in die Augen. »Der Schleier hat einen Riß bekommen. Wenn er nicht wieder geschlossen wird, wird uns die Welt der Toten allesamt verschlingen.«

Laute des Entsetzens erhoben sich aus den Reihen der Versammelten. Angsterfülltes Geflüster breitete sich aus. Richard blickte den Vogelmann an. »Bitte, geehrter Ältester, ich berufe eine Versammlung ein. Ich brauche die Hilfe der Seelen der Vorfahren. Ich muß einen Weg finden, den Schleier zu verschließen, bevor der Hüter den Toten entkommt. Vielleicht können die Seelen der Vorfahren helfen. Ich muß wissen, ob sie helfen können.«

Chandalen stampfte mit seinem Speer auf den Boden. »Lügen! Du verbreitest die Lügen dieser Hexe. Wir sollten die verehrten Seelen unserer Vorfahren nicht auf Geheiß einer Hexe herbeirufen. Die Seelen unserer Vorfahren dürfen nur für unser Volk herbeigerufen werden, nicht wegen einer Hexe! Sie werden unser Volk für diese Lästerung mit einem Schlag auslöschen!«

Richard sah ihn wütend an. »Sie werden nicht auf Geheiß einer Hexe herbeigerufen. Ich bin es, der diese Bitte vorbringt, und ich gehöre zum Volk der Schlammenschen. Ich bitte um die Versammlung, damit mir geholfen wird, Schaden von unserem Volk abzuwenden.«

»Du bringst uns den Tod! Du schleppst Fremde heran. Du hast diese Hexe hergeführt. Du willst dir bloß selbst helfen. Wie kommt es, daß dieser Schleier zerrissen ist?«

Richard knöpfte seinen Ärmel auf und schob ihn den Arm hinauf. Dann zog er langsam das Schwert der Wahrheit. Ohne Chandalens wütendem Blick auszuweichen, zog er sich das Schwert über seinen Unterarm und drehte es, um seine beiden Seiten in das Blut zu tauchen. Dann rammte er die Spitze in den Boden und legte beide Hände auf den Knauf.

»Kahlan, wenn du das folgende übersetzt, darfst du kein Wort auslassen.« Richard richtete seinen zornentbrannten Blick wieder auf Chandalen. Seine Stimme war ruhig, fast sanft, doch in seinen Augen funkelte tödliche Entschlossenheit. »Chandalen, wenn ich heute abend noch ein Wort von dir höre, und sei es nur, daß du mir zustimmen und mir deine Hilfe anbieten möchtest, werde ich dich töten. Einiges von dem, was mir die Hexe berichtete, hat mich in eine Stimmung versetzt, in der ich das Verlangen zu töten verspüre. Wenn du mir noch irgendeinen Grund gibst — dann wirst du es sein, den ich töte.«

Die Ältesten rissen die Augen auf. Chandalen öffnete den Mund und wollte etwas sagen, doch als er Richards Gesichtsausdruck sah, schloß er ihn wieder und verschränkte die Arme. Sein Blick war voller Grimm und trotzdem kein Vergleich mit Richards. Schließlich senkte er den Blick zu Boden.

Richard wandte sich wieder an den Vogelmann. »Geehrter Ältester, du kennst mein Herz. Du weißt, daß ich nichts tun würde, um unserem Volk zu schaden. Ich würde diese Bitte nicht vorbringen, ginge es nicht um etwas Wichtiges oder hätte ich eine andere Wahl. Bitte, darf ich eine Versammlung einberufen, damit ich die Seelen unserer Vorfahren fragen kann, wie ich diese Bedrohung von unserem Volk abwenden kann?«

Der Vogelmann wandte sich an die anderen Ältesten. Sie nickten, einer nach dem anderen. Kahlan hatte es gewußt, es war nur eine Formalität. Mit Savidlin waren sie befreundet, und die anderen wollten Richards Ehrlichkeit nicht in Frage stellen. Die Entscheidung lag allein beim Vogelmann. Er sah zu, wie die Ältesten nickten, dann wandte er sich wieder an Richard.

»Dies ist eine böse Geschichte. Es gefällt mir nicht, die Vorfahren herbeizurufen, um sie nach ihrer Welt auszufragen. Sie kommen, um uns in unserer Welt zu helfen. Möglicherweise werden sie gekränkt sein. Oder verärgert. Vielleicht sagen sie auch nein.« Er betrachtete Richard einen Augenblick lang. »Aber ich kenne dein Herz. Ich weiß, daß du ein Heilsbringer für unser Volk bist und dieses nicht erbitten würdest, hättest du eine andere Wahl.« Er legte Richard die Hand fest auf die Schulter. »Der Wunsch sei dir gewährt

Kahlan atmete erleichtert auf. Richard bedankte sich mit einem Nicken. Kahlan wußte, daß er sich auf ein Wiedersehen mit den Seelen der Verstorbenen nicht gerade freute. Beim letzten Mal war es verheerend für ihn ausgegangen.

Plötzlich flatterte ein Schatten durch die Luft. Kahlan riß die Arme schützend in die Höhe. Richard wurde einen Schritt zurückgestoßen, als ihn etwas am Kopf traf. Menschen riefen verwirrt durcheinander. Ein dunkler Schatten schlug dumpf zwischen dem Vogelmann und Richard auf. Richard richtete sich auf und tastete seinen Kopf ab. Über seine Stirn rann Blut.

Der Vogelmann bückte sich über eine dunkle Gestalt, richtete sich wieder auf. Er hielt eine tote Eule in den Händen. Ihr Kopf hing seitlich nach unten. Die Flügel klappten auseinander. Die Ältesten sahen sich an. Chandalens Stirnfalten wurden tiefer, doch er sagte nichts.

Richard untersuchte das Blut an seinen Fingern. »Warum in aller Welt wollte mich eine Eule auf diese Weise angreifen? Und woran ist sie gestorben?«

Der Vogelmann strich dem toten Vogel sanft das Gefieder glatt. »Vögel leben in der Luft, auf einer anderen Ebene als wir. Sie leben auf zwei Ebenen — auf dem Land und in der Luft. Sie können sich zwischen ihrer und unserer Ebene bewegen. Vögel sind sehr eng mit der Welt der Seelen verbunden. Mit den Seelen selbst. Und Eulen mehr als die meisten anderen Vögel. Sie sehen in der Nacht, wenn wir blind sind, genauso blind wie für die Welt der Seelen. Ich bin ein Seelenführer unseres Volkes. Nur ein Vogelmann kann Seelenführer sein, denn nur er versteht diese Dinge

Er hielt den Vogel ein wenig höher. »Dies ist eine Warnung. Ich war noch nie Zeuge, wenn eine Eule eine Warnung überbracht hat. Dieser Vogel hat sein Leben dafür gegeben, dich zu warnen. Richard, bitte denke noch einmal über deine Bitte um eine Versammlung nach. Dieser Warnung nach bedeutet die Versammlung Gefahr für dich, eine solche Gefahr, daß die Seelen diese Warnung schicken

Richard blickte vom Gesicht des Vogelmannes zu der Eule. Er streckte die Hand aus und strich ihr über das Gefieder. Niemand gab einen Laut von sich. »Gefahr für mich oder Gefahr für die Ältesten?«

»Für dich. Du bist es, der die Versammlung einberuft. Die Eule hat dir diese Warnung überbracht. Sie ist für dich bestimmt.« Er warf einen Blick auf Richards Stirn. »Eine Blutwarnung. Eine der schlimmsten, die es gibt. Schlimmer als diese Eule wäre es nur gewesen, hätte ein Rabe die Nachricht überbracht. Das hätte deinen sicheren Tod bedeutet

Richard zog die Hand zurück und wischte sich die Finger an seinem Hemd ab. Er starrte auf die tote Eule. »Ich habe keine Wahl«, sagte er leise. »Wenn ich nichts unternehme, wird der Schleier vollends reißen, und der Hüter der Toten wird ausbrechen. Unser Volk, jeder einzelne, wird von der Welt der Toten verschlungen werden. Ich muß herausfinden, wie ich das verhindern kann. Ich muß es versuchen.«

Der Vogelmann nickte. »Ganz wie du willst. Die Vorbereitungen werden drei Tage dauern

Richard hob den Kopf. »Ihr habt es schon in zwei Tagen geschafft. Wir dürfen keine Zeit vergeuden.«

Der Älteste atmete tief durch und seufzte. »Dann zwei Tage

»Ich danke dir, geehrter Ältester.« Richard drehte sich zu Kahlan um, der er den Schrecken an den Augen ablesen konnte. »Bitte, Kahlan, geh und hole Nissel und bring sie her. Ich gehe ins Haus der Seelen. Bitte sie, etwas Stärkeres mitzubringen.«

Sie drückte ihm den Arm. »Natürlich. Ich werde mich beeilen.« Richard nickte. Er zog sein Schwert aus dem Boden und verschwand in die Dunkelheit hinein.

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