26

Königin Cyrilla ließ sich ihren Stolz nicht nehmen. Sie weigerte sich zuzugeben, wie sehr die derben Finger der Grobiane schmerzten, die sie gepackt hielten. Sie leistete keinen Widerstand, als man sie den dreckstarrenden Korridor entlangführte. Widerstand wäre ohnehin zwecklos gewesen und hätte nichts gebracht. Sie wollte auftreten wie immer: würdevoll. Sie war die Königin von Galea. Mit Würde wollte sie ertragen, was sie erwartete. Sie nahm sich vor, sich ihr Entsetzen nicht anmerken zu lassen.

Es war ihr auch nicht wichtig, was man ihr antat. Es war das Schicksal des Volkes von Galea, welches ihr Sorge bereitete.

Und das, was bereits geschehen war.

Knapp zweitausend Mann der Galeanischen Garde waren vor ihren Augen ermordet worden. Wer hätte ahnen können, daß man sie ausgerechnet hier, auf neutralem Boden, überfallen würde? Daß ein paar entkommen waren, war kein Trost. Vermutlich würden auch sie verfolgt und getötet werden.

Hoffentlich war ihr Bruder, Prinz Harold, unter denen, die hatten entkommen können. Vorausgesetzt, ihm war die Flucht gelungen, konnte er vielleicht Kräfte zur Verteidigung sammeln, um das noch schlimmere Gemetzel zu verhindern, das ihnen womöglich noch bevorstand.

Mit einem brutalen Griff wurde sie gezwungen, neben einer zischenden Fackel in einer rostüberkrusteten Halterung stehenzubleiben. Man schraubte ihr die Finger so schmerzhaft in den Arm, daß ihr ein leiser Schrei über die Lippen kam, obwohl sie fest entschlossen gewesen war, ihn zu unterdrücken.

»Tun meine Männer Euch weh, Mylady?« hörte sie von hinten eine spöttische Stimme.

Kühl versagte sie Prinz Fyren die Genugtuung einer Antwort.

Ein Wächter bearbeitete ein rostiges Schloß mit einem Schlüssel. Ein scharfes, metallisches Klicken hallte durch den steinernen Korridor, als der Riegel schließlich nachgab. Die schwere Tür ächzte in den Angeln, als sie aufgezogen wurde. Die schraubstockartigen Hände schoben sie weiter, durch die Türöffnung hindurch und einen weiteren, langen Gang hinab.

Sie hörte das Rauschen ihres Samtrocks und neben sowie hinter sich die Stiefel der Männer auf dem Steinfußboden, die gelegentlich durch stehendes, faulig stinkendes Wasser stapften. Die feuchtkalte Luft fühlte sich kühl an auf ihren Schultern, die es nicht gewohnt waren, entblößt zu sein.

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, sobald sie daran dachte, wohin man sie brachte. Sie flehte die guten Seelen an, daß es dort keine Ratten gäbe. Sie hatte Angst vor Ratten, vor ihren scharfen Zähnen, ihren Krallen und ihren schwarzen, listigen Augen. Als sie noch sehr klein gewesen war, hatte sie Alpträume von Ratten gehabt und war ständig schreiend aus dem Schlaf hochgeschreckt.

Um ihren Puls zu beruhigen, versuchte sie sich abzulenken. Sie dachte an die seltsame Frau, die um eine Privataudienz bei ihr ersucht hatte. Cyrilla war sich alles andere als sicher, weshalb sie ihrer Bitte entsprochen hatte, jetzt jedoch wünschte sie, sie hätte dieser hartnäckigen Person mehr Beachtung geschenkt.

Wie war ihr Name doch gleich gewesen? Lady irgendwas. Ihr Haar hatte unter dem alles verhüllenden Schleier hervorgelugt, und man hatte sehen können, daß es zu kurz für jemand ihres Standes war. Lady … Bevinvier. Ja, so war ihr Name gewesen: Lady Bevinvier. Lady Bevinvier von … irgendwo. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Es war ohnehin egal. Nicht woher sie kam, zählte, sondern was sie gesagt hatte.

Verlaßt Aydindril, hatte Lady Bevinvier sie gewarnt. Und zwar sofort.

Cyrilla hatte jedoch nicht mitten im schneidend kalten Winter diesen weiten Weg gemacht, um wieder abzureisen, bevor der Rat der Midlands ihre Beschwerde angehört und darüber entschieden hatte. Sie war gekommen, um zu verlangen, daß der Rat seine Pflicht tat und den Übergriffen auf ihr Land und Volk augenblicklich ein Ende bereitete.

Städte waren geplündert, Farmen niedergebrannt, Menschen ermordet worden. Die Armeen Keltons sammelten sich für einen Angriff. Eine Invasion stand kurz bevor, war vielleicht bereits im Gange. Und zu welchem Zweck? Aus keinem anderen Grund als blankem Eroberungswahn. Gegen einen Verbündeten! Eine Ungeheuerlichkeit!

Es war die Pflicht des Rates, jedem Land, das angegriffen wurde — egal, von wem –, zu Hilfe zu kommen. Der Sinn des Rates der Midlands bestand gerade darin, einen solchen Verrat zu verhindern. Es war seine Pflicht, alle Länder anzuweisen, Galea zu Hilfe zu kommen und die Aggression niederzuschlagen.

Obwohl Galea ein mächtiges Land war, war es durch die Verteidigung der Midlands gegen D’Hara stark geschwächt worden und nicht auf einen weiteren kostspieligen Krieg vorbereitet. Kelton war der Hauptstoß der Eroberung durch D’Hara erspart geblieben, und es verfügte über reichlich Reserven. An seiner Statt hatte Galea den Preis des Widerstandes gezahlt.

Lady Bevinvier war am Abend zuvor zu ihr gekommen und hatte sie angefleht, sofort aufzubrechen. Cyrilla könne seitens des Rats keine Hilfe für Galea erwarten. Diese Lady Bevinvier hatte gesagt, wenn die Königin bliebe, gerate sie persönlich in große Gefahr. Anfangs, unter Druck, hatte Lady Bevinvier sich geweigert, Genaueres zu sagen.

Cyrilla hatte ihr gedankt, jedoch erklärt, sie werde sich der Pflicht ihrem Volk gegenüber nicht entziehen und vor den Rat treten — wie geplant. Lady Bevinvier war daraufhin in Tränen ausgebrochen und hatte die Königin angefleht, auf sie zu hören.

Schließlich hatte sie ihr anvertraut, sie habe eine Vision gehabt.

Cyrilla hatte versucht, der Frau die Art der Vision zu entlocken, die jedoch hatte gemeint, sie sei unvollständig, und sie wisse keine Einzelheiten, außer daß etwas Entsetzliches geschähe, wenn die Königin nicht augenblicklich abreise. Obwohl Cyrilla durchaus auf die Kräfte der Magie vertraute, Wahrsagern schenkte sie nur wenig Glauben. Die meisten waren Scharlatane und hatten nur ihren Geldbeutel im Sinn, wenn sie eine Aussage geschickt verdrehten oder eine Gefahr andeuteten, die es zu vermeiden galt.

Königin Cyrilla war gerührt von der offenkundigen Ernsthaftigkeit der Frau, kam jedoch zu dem Schluß, daß es vielleicht nichts weiter war als eine Täuschung, mit der man sie um die eine oder andere Münze erleichtern wollte. Ein solcher Betrug mutete bei dieser scheinbar wohlhabenden Frau seltsam an, doch die Zeiten waren hart gewesen, und auch die Reichen mußten gelegentlich Verluste hinnehmen. Wenn es um Gold und Güter ging, dann ergab es nur Sinn, sie bei denen zu suchen, die sie besaßen. Cyrilla kannte viele, die ihr ganzes Leben hart gearbeitet hatten, nur um alles im Krieg mit D’Hara zu verlieren. Vielleicht war Lady Bevinviers kurzes Haar die Folge eines solchen Verlustes.

Sie bedankte sich bei der Frau, erklärte ihr jedoch, ihre Mission sei zu wichtig, um sie aufzugeben. Sie drückte der Frau ein Goldstück in die Hand, woraufhin Lady Bevinvier die Münze durch den Raum schleuderte, bevor sie, in Tränen aufgelöst, von dannen lief.

Cyrilla war erschüttert. Kein Scharlatan wies Gold zurück. Es sei denn, natürlich, sie hätte etwas Kostbareres erwartet. Entweder die Frau hatte die Wahrheit gesagt, oder sie arbeitete Kelton zu und versuchte zu verhindern, daß dem Rat der Überfall zu Ohren kam.

Wie auch immer, es war gleichgültig. Cyrilla war entschlossen. Außerdem hatte sie einen gewissen Einfluß beim Rat. Man respektierte Galea für die Verteidigung der Midlands. Nach dem Fall Aydindrils hatte man die Räte, die sich weigerten, D’Hara ihre Ergebenheit zu schwören, hingerichtet und durch Marionetten ersetzt. Wer von den Räten kollaborierte, durfte seine Stellung behalten. Der dem Rat ergebene Botschafter Galeas war exekutiert worden.

Wie der Krieg geendet hatte, war ein Rätsel. Man teilte den Truppen D’Haras mit, Darken Rahl sei tot und alle Feindseligkeiten wären beendet. Ein neuer Lord Rahl hatte gesiegt, und die Truppen wurden einfach zurückbeordert oder erhielten Befehl, denen zu helfen, die sie erobert hatten. Cyrilla nahm an, Darken Rahl sei einem Meuchelmörder zum Opfer gefallen.

Was immer auch geschehen war, ihr war es recht. Der Rat war wieder in den Händen der Völker der Midlands. Die Kollaborateure und Marionetten waren verhaftet worden. Angeblich hatte man die Dinge wieder in den Zustand vor der Diktatur versetzt. Sie erwartete, daß der Rat Galea zu Hilfe kommen werde.

Auch Königin Cyrilla hatte eine Verbündete im Rat, die mächtigste Verbündete, die man sich denken konnte, die Mutter Konfessor. Kahlan war zwar ihre Halbschwester, doch das hatte kein Gewicht. Galea und die Königin unterstützten die Unabhängigkeit der verschiedenen Länder und halfen dem Rat, den Frieden zu sichern. Galea war immer für die gleichen Ziele eingetreten. Die Mutter Konfessor respektierte diese Standhaftigkeit, und das machte sie zu einer Verbündeten Galeas.

Kahlan hatte Cyrilla nie auf irgendeine Weise bevorzugt, und das war auch richtig so. Eine Bevorzugung hätte die Stellung der Mutter Konfessor geschwächt, den Zusammenhalt des Rates und damit den Frieden gefährdet. Sie respektierte Kahlan dafür, daß sie die Einheit der Midlands über irgendwelche Machtspiele stellte. Derartige Spiele waren ohnehin eine trügerische Angelegenheit, man fuhr am Ende immer besser, wenn man gerecht und nicht bevorzugt behandelt wurde.

Insgeheim war Cyrilla stets stolz auf ihre Halbschwester gewesen. Kahlan war zwölf Jahre jünger, trotz ihres jungen Alters aber eine kluge Führerin. Sie waren zwar blutsverwandt, sprachen aber fast nie darüber. Kahlan war Konfessor und besaß magische Kräfte. Sie war keine Schwester, die mit ihr das Blut des Vaters teilte, sondern ein Konfessor, die Mutter Konfessor der Midlands. Konfessoren waren mit niemandem blutsverwandt außer mit Konfessoren.

Trotzdem, bis auf ihren geliebten Bruder Harold hatte sie keine Familie, und sie sehnte sich oft danach, Kahlan als ihre Verwandte, als ihre kleine Schwester in die Arme zu schließen. Doch so etwas war ausgeschlossen. Cyrilla war die Königin von Galea, und Kahlan war die Mutter Konfessor — zwei Frauen, die für einander praktisch Fremde waren und nichts gemeinsam hatten als das Blut und den gegenseitigen Respekt. Pflicht ging über Herzensdinge hinaus. Galea war Cyrillas Familie und die Konfessoren Kahlans.

Es gab zwar Menschen, die es Kahlans Mutter übelnahmen, daß sie Wyborn zum Gatten genommen hatte, doch Cyrilla gehörte nicht zu ihnen. Ihre Mutter, Königin Bernadine, hatte ihr und Harold die Bedürfnisse der Konfessoren erklärt, ihr Bedürfnis nach starkem Blut in ihrer magischen Abstammungslinie, hatte erklärt, wie dies dem größeren Ziel der Midlands diente, der Wahrung des Friedens. Ihre Mutter hatte sich niemals verbittert darüber gezeigt, daß sie ihren Gatten an die Konfessoren verloren hatte, sondern hatte Cyrilla und Harold statt dessen erklärt, welche Ehre es sei, das Blut mit den Konfessoren zu teilen, auch wenn dies meist unausgesprochen blieb. Ja, sie war stolz auf Kahlan.

Stolz, aber auch ein wenig mißtrauisch. Die Wege der Konfessoren waren ihr ein Rätsel. Von Geburt an wurden sie in Aydindril ausgebildet, von anderen Konfessoren und von Zauberern. Ihre Magie, ihre Kraft, war etwas, mit dem sie geboren wurden und das sie in gewisser Weise zu Sklaven machte. In gewisser Hinsicht war es mit ihr dasselbe. Sie war zur Königin geboren, ohne groß eine Wahl zu haben. Sie besaß zwar keine Magie, aber die Bedeutung des Erstgeburtsrechts war ihr bewußt.

Man zwang Konfessoren, von der Geburt bis zum Ende ihrer Ausbildung wie Priesterinnen in der abgeschiedenen Welt eines Klosters zu leben. Angeblich herrschte strenge Disziplin. Cyrilla wußte zwar, daß Kahlan wie andere Menschen auch Gefühle haben mußte; man bildete die Konfessoren jedoch darin aus, sie zu unterdrücken. Die Pflicht gegenüber ihrer Kraft war alles. Das ließ ihnen im Leben keine Wahl, bis auf die eine, sich selbst einen Gatten auszusuchen, und selbst das geschah nicht aus Liebe, sondern aus Pflichtgefühl.

Cyrilla hatte sich immer gewünscht, Kahlan ein wenig ihrer Geschwisterliebe geben zu können. Vielleicht hätte sie auch gern von Kahlan ein wenig dieser Liebe bekommen. Aber das war völlig ausgeschlossen. Vielleicht hatte Kahlan sie aus der Ferne geliebt, so wie Cyrilla Kahlan. Vielleicht war Kahlan sogar auf ihre Art auch stolz auf sie. Das hatte sie sich immer erhofft.

Am meisten quälte sie, daß sie zwar beide den Midlands dienten, sie für ihre Pflichterfüllung aber von ihrem Volk geliebt wurde, während man Kahlan dafür fürchtete und haßte. Kahlan müßte die Liebe eines Volkes erfahren können — das war ein Trost, der einen gewissen Ausgleich für das Opfer bot. Doch bei Konfessoren war das ausgeschlossen. Vielleicht, so überlegte Cyrilla, war dies der Grund, weshalb man sie lehrte, ihre Empfindungen und Bedürfnisse zurückzustellen.

Auch Kahlan hatte sie vor der Gefahr aus Kelton gewarnt.

Es war beim Mittsommernachtsfest gewesen, vor mehreren Jahren, im ersten Jahr nach dem Tod von Cyrillas Mutter. Im ersten Sommer der Königin Cyrilla. Und im ersten Sommer, nachdem Kahlan zur Mutter Konfessor aufgestiegen war.

Daß Kahlan in so jungen Jahren die Mutter Konfessor geworden war, sprach sowohl für das Ausmaß ihrer Kraft als auch für ihre Charakterstärke. Und vielleicht für eine gewisse Notwendigkeit. Da die Wahl im geheimen abgehalten wurde, wußte Cyrilla wenig über die Amtsnachfolge von Konfessoren, außer daß sie ohne Feindseligkeiten oder Rivalitäten vonstatten ging und etwas mit dem Abwägen von Kraft gegen Alter und Ausbildung zu tun hatte.

Für die Menschen in den Midlands war Alter ohne Bedeutung. Sie fürchteten alle Konfessoren, unabhängig von ihrem Alter, und besonders die Mutter Konfessor. Sie wußten, daß sie die mächtigste der Konfessoren war. Im Gegensatz zu den meisten Menschen wußte Cyrilla jedoch, daß man Kraft an und für sich nicht unbedingt fürchten mußte, außerdem war Kahlan immer gerecht gewesen. Sie hatte nie etwas anderes als den Frieden im Sinn gehabt.

An jenem Tag hatten in den Straßen von Ebinissia, dem Sitz der Krone von Galea, Festlichkeiten aller Art stattgefunden. Selbst der niedrigste Stalljunge war an den Tischen des Volksfestes, bei den Spielen oder in der Nähe der Musiker, Akrobaten und Jongleure willkommen gewesen.

Als Königin hatte Cyrilla den Vorsitz bei den Wettbewerben innegehabt und den Siegern Lorbeer überreicht. Noch nie hatte sie so viele lächelnde Gesichter gesehen, so viele glückliche Menschen. Noch nie hatte ihr Volk sie so mit Zufriedenheit erfüllt, noch nie hatte sie sich so von ihnen geliebt gefühlt.

An jenem Abend fand im Palast ein königlicher Ball statt. Fast vierhundert Menschen füllten den großen Festsaal. Ein herrlicher Anblick, all die Menschen in ihrer elegantesten Kleidung. Auf langen Tafeln hatte man Speisen und Wein in reicher und verblüffender Vielfalt arrangiert — was dem wichtigsten Tag des Jahres nur angemessen war. Es ging großzügiger zu als auf jedem Ball zuvor, denn es gab viel, für das man dankbar sein konnte. Es war eine Zeit des Friedens und des Wohlstands, des Wachstums und der Hoffnung, des neuen Lebens und der Freigiebigkeit.

Die Musik endete in kläglicher Disharmonie, und das laute Gemurmel der versammelten Menschen wich plötzlich einer Totenstille, als die Mutter Konfessor, gefolgt von ihrem Zauberer in wehendem Silbergewand, entschlossenen Schritts den Saal betrat. Ihr königlich weißes Kleid ragte aus dem Durcheinander der Farben heraus wie der Vollmond zwischen den Sternen. Leuchtende Farben und elegante Kleidung hatten nie so plump gewirkt. Alles machte eine tiefe Verbeugung, als die Mutter Konfessor vorüberging. Cyrilla wartete mit ihren Beratern neben dem Tisch, auf dem eine große Kristallschale mit gewürztem Wein stand.

Verfolgt von jedermanns Blicken, durchquerte Kahlan den Saal, in dem es still geworden war, blieb vor der Königin stehen und neigte den Kopf knapp. Ihr Gesicht war kalt wie Eis. Sie wartete nicht ab, bis man die förmliche Verneigung vor ihrem Amt erwiderte.

»Königin Cyrilla. Habt Ihr einen Berater namens Drefan Tross?«

Cyrilla deutete mit ihrer Hand zur Seite. »Dies ist er.«

Kahlan richtete ihren kalten Blick auf Drefan. »Ich will Euch unter vier Augen sprechen.«

»Drefan Tross ist mein Vertrauter und Berater«, unterbrach Cyrilla sie. Er war mehr als das. Er war ein Mann, den sie sehr mochte, ein Mann, in den sie gerade im Begriff stand, sich zu verlieben. »Ihr könnt mit ihm in meiner Gegenwart sprechen.« Sie wußte nicht, um was es ging, hielt es jedoch für das beste, eingeweiht zu sein. Kein Konfessor unterbrach ein Festmahl, wenn es sich nicht um etwas Ernstes handelte. »Dies ist weder die Zeit noch der Ort für diese Art von Angelegenheit, Mutter Konfessor, doch wenn sie nicht warten kann, dann wollen wir sie gleich hier und jetzt erledigen.«

Sie glaubte, damit wäre die Angelegenheit auf einen passenderen Zeitpunkt verschoben. Mit ausdruckloser Miene dachte die Mutter Konfessor einen Augenblick darüber nach. Das Gesicht des Zauberers in ihrem Rücken war dagegen alles andere als ausdruckslos. Er wirkte sogar recht erregt. Er beugte sich zu Kahlan vor und wollte etwas sagen, doch sie hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen, noch bevor er ansetzen konnte.

»Ganz wie Ihr wollt. Tut mir leid, Königin Cyrilla, aber die Angelegenheit kann nicht warten.« Sie richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf Drefan. »Ich habe gerade das Geständnis eines Mörders entgegengenommen. In seinem Geständnis hat er sich zudem als Komplize eines Attentäters zu erkennen gegeben. Als Attentäter hat er dich genannt und als dein Opfer die Königin Cyrilla.«

Unter denen, die nahe genug standen, um mitzuhören, erhob sich erstauntes Getuschel. Drefans Gesicht färbte sich rot. Das Getuschel wich angespannter Stille.

Cyrilla konnte kaum verfolgen, was dann geschah. Ein Augenzwinkern, und man hätte es nicht mitbekommen. Eben noch stand Drefan da wie zuvor, mit seiner Hand in seinem goldenen und tiefblauen Rock, dann plötzlich stach er mit einem Messer auf die Mutter Konfessor ein. Aufrecht stehend bewegte sie nur ihre Hand und packte ihn am Handgelenk. Scheinbar gleichzeitig begann die Luft heftig zu beben — ein Donner ohne Hall. Die Kristallschale zersplitterte, und Rotwein ergoß sich über Tisch und Boden. Cyrilla zuckte unter einem unvermittelt stechenden Schmerz zusammen, der jedes Gelenk in ihrem Körper zu durchströmen schien. Das Messer fiel scheppernd zu Boden. Drefan riß die Augen auf, seine Kinnlade fiel kraftlos herab.

»Herrin«, flüsterte er unterwürfig.

Cyrilla war wie betäubt vor Schreck, als sie sah, wie ein Konfessor seine Kraft gebrauchte. Sie kannte nur die Nachwirkungen, hatte aber nie gesehen, wie sie angewandt wurde. Nur wenige hatten das. Die Magie schien noch einen Augenblick lang knisternd in der Luft zu hängen.

Die Menschenmenge drängte vor. Ein warnender Blick des Zauberers verwandelte ihre Neugier in ängstliches Zögern, und die Leute wichen zurück.

Kahlan wirkte ausgezehrt, doch ihre Stimme verriet keinerlei Schwäche. »Du hast vor, die Königin zu ermorden?«

»Ja, Herrin«, sagte er bereitwillig und leckte sich die Lippen.

»Wann?«

»Heute abend. In dem Durcheinander beim Aufbruch der Gäste.« Drefan wirkte innerlich zerrissen. Ihm traten die Tränen in die Augen, liefen ihm die Wangen hinab. »Bitte, Herrin, befehligt mich. Sagt mir, was Ihr wollt. Laßt mich Eure Befehle ausführen.«

Cyrilla stand noch immer unter Schock. Genau das hatte man ihrem Vater angetan. Genau so war er zum Gatten eines Konfessors geworden. Erst ihr Vater und nun ein Mann, den sie sehr mochte.

»Warte und sei still«, befahl Kahlan. Die Hände an den Seiten, drehte sie sich zu Cyrilla um, deren jungen Augen der Kummer deutlich anzusehen war. »Vergebt mir, daß ich Euer Fest gestört habe, Königin Cyrilla, aber ich hatte Angst, Euch nicht rechtzeitig zu erreichen.«

Cyrilla drehte sich mit Zornesröte im Gesicht zu Drefan um. Er stand da und starrte Kahlan offenen Mundes an. »Wer hat das angeordnet, Drefan? Wer hat befohlen, mich zu töten?«

Er schien nicht einmal bemerkt zu haben, daß sie etwas gesagt hatte.

»Er wird Euch nicht antworten, Königin Cyrilla«, erklärte Kahlan. »Er antwortet nur mir.«

»Dann fragt ihn!«

»Das wäre nicht ratsam«, gab der Zauberer leise zu bedenken.

Cyrilla kam sich töricht vor. Jeder wußte, wie sehr sie Drefan mochte. Jeder sah, daß man sie betrogen hatte. Dieses Mittsommernachtsfest würde niemand je vergessen.

»Erdreiste dich nicht, mir einen Rat zu erteilen.«

Kahlan beugte sich näher und meinte leise: »Cyrilla, wir glauben, daß er möglicherweise durch einen Zauber geschützt war. Als ich seinem Komplizen diese Frage stellte, starb er, bevor er antworten konnte. Aber ich glaube, ich kenne die Antwort. Es gibt verborgene Möglichkeiten, sie aus ihm herauszubekommen, wenn man den Zauber umgehen kann. Wenn ich ihn irgendwo auf meine Art befragen könnte, bekämen wir vielleicht die Antwort.«

Cyrilla war vor Wut den Tränen nahe. »Ich habe ihm vertraut! Er stand mir so nahe! Er hat mich verraten! Mich, nicht Euch! Ich will wissen, wer ihn gedungen hat! Ich will es von seinen eigenen Lippen hören! Ihr befindet Euch in meinem Königreich, in meinem Haus! Also fragt ihn!«

Kahlan richtete sich auf. Ihr Gesicht wurde wieder zu der reglosen Maske, die nichts verriet. »Ganz wie Ihr wollt.« Sie richtete ihr Augenmerk erneut auf Drefan. »War das, was du der Königin antun wolltest, dein eigener Wille?«

Er rieb sich die Hände in verfrühter Bereitschaft, der Mutter Konfessor zu Diensten sein zu können. »Nein, Herrin, man hat mich geschickt.«

Wenn es überhaupt möglich war, dann wurde das Gesicht der Mutter Konfessor noch ruhiger. »Wer hat dich geschickt?«

Er hob eine Hand und öffnete den Mund, ganz so, als wollte er versuchen zu tun, was sie verlangte. Doch aus seiner Kehle kam nur ein blutiges Gurgeln, dann brach er zusammen.

Der Zauberer gab ein wissendes Grunzen von sich. »Wie ich mir dachte, genau wie bei den anderen.«

Kahlan hob das Messer auf und hielt es Cyrilla mit dem Griff nach vorn hin. »Wir glauben, daß es eine Verschwörung größten Ausmaßes gibt. Ich weiß nicht, ob dieser Mann daran beteiligt war, aber geschickt wurde er aus Kelton.«

»Kelton! Ich weigere mich, das zu glauben!«

Mit einem Nicken deutete Kahlan auf das Messer in Cyrillas Hand. »Das Messer stammt aus Kelton.«

»Viele Leute tragen Messer, die in Kelton geschmiedet wurden. Die dort hergestellten gehören zu den besten. Das ist wohl kaum ein Beweis für eine derartige Anschuldigung.«

Kahlan blieb weiter ungerührt. Cyrilla war im Augenblick zu aufgebracht, um sich zu fragen, welche Gedanken sich hinter diesen grünen Augen verbergen mochten. Schließlich fuhr Kahlan fort. Ihre Stimme war bar jeden Gefühls. »Mein Vater hat mir beigebracht, daß Keltonier immer nur aus zwei Gründen zuschlagen. Erstens aus Eifersucht und zweitens, weil eine Schwäche sie dazu verleitet. Er meinte, in jedem Fall würden sie zuerst die Probe machen, indem sie versuchen, den kräftigsten und ranghöchsten ihrer Gegner zu töten. Euch ist es zu verdanken, daß Galea im Augenblick stärker ist, als es jemals war. Das Mittsommernachtsfest ist ein Zeichen dieser Stärke. Ihr seid der Grund für diese Eifersucht und ein Symbol für diese Stärke.

Mein Vater meinte außerdem, Ihr solltet immer ein Auge auf die Keltonier halten und dürftet ihnen nie den Rücken zukehren. Wenn Ihr ihren ersten Versuch vereitelt, dann vertieft Ihr damit nur ihre Gier nach Eurem Blut, und sie werden immer auf eine Schwäche von Euch lauern, um zuschlagen zu können.«

Cyrilla war derart aufgebracht über Drefans Verrat, daß sie wild um sich schlug, ohne sich ihre Worte zu überlegen. »Was Euer Vater sagt, weiß ich nicht. Ich hatte nie das Vergnügen, von ihm unterrichtet zu werden. Ein Konfessor hat ihn uns genommen.«

Kahlans Miene wechselte von der ruhigen, kalten Ausdruckslosigkeit eines Konfessors zu zeitloser, wissender Güte, die weit über ihr Alter hinauszugehen schien.

»Vielleicht, Königin Cyrilla, haben es die guten Seelen vorgezogen, Euch seinen Unterricht zu ersparen, und ihn statt dessen mich unterrichten lassen. Seid froh, daß sie Euch freundlich gesonnen waren. Sein Unterricht hätte Euch zweifelsohne nicht gefallen. Auch mir bereitet er nicht gerade Freude, außer der vielleicht, daß er dazu beigetragen hat, Euch heute abend das Leben zu retten. Bitte seid nicht verbittert. Macht Frieden mit Euch selbst und genießt, was Ihr habt: die Liebe Eures Volkes. Das ist Eure Familie, alle miteinander.«

Kahlan wollte sich gerade umdrehen, doch Cyrilla faßte sie am Arm und zog sie auf die Seite, als Männer sich über die Leiche beugten, um sie abzutransportieren.

»Vergebt mir, Kahlan.« Sie spielte nervös mit einem Band an ihrer Taille. »Es war nicht recht, meinen Zorn über Drefan an Euch auszulassen.«

»Ich verstehe, Cyrilla. An Eurer Stelle hätte ich vermutlich genauso reagiert. Ich konnte Euren Augen ansehen, was Ihr für Drefan empfindet. Ich hatte nicht erwartet, daß Ihr glücklich darüber seid, was ich gerade getan habe. Vergebt mir, daß ich Euch in Eurem Zuhause etwas derart Quälendes antun mußte, noch dazu an einem Tag, der nur Freude machen sollte, doch ich hatte fürchterliche Angst, zu spät zu kommen.«

Kahlan gab ihr das Gefühl, die jüngere Schwester zu sein. Sie sah die wunderschöne junge Frau, die vor ihr stand, mit neuen Augen. Kahlan war im rechten Alter, einen Gatten zu erwählen. Vielleicht hatte sie sogar schon einen ausgesucht. Ihre Mutter mußte ungefähr so alt gewesen sein, als sie Cyrillas Vater zu ihrem Gatten gemacht hatte. So jung.

Cyrilla blickte in diese unergründlichen, grünen Augen und vergaß bald ihren Ärger über Drefan. Diese junge Frau, ihre Schwester, hatte ihr gerade das Leben gerettet, und das in dem vollen Bewußtsein, keine Dankbarkeit erwarten zu dürfen, sondern eher den unsterblichen Haß ihrer Halbschwester auf sich zu ziehen. So jung. Cyrilla schämte sich, weil sie so egoistisch gewesen war.

Zum erstenmal lächelte sie Kahlan an. »Bestimmt hat Wyborn Euch nicht nur Grausamkeiten beigebracht?«

»Er hat mir nur das Töten beigebracht. Wen man tötet, wann man tötet, wie man tötet. Seid froh, daß Ihr seine Lektionen nicht kennt und niemals auf diese Dinge angewiesen wart. Ich war bereits darauf angewiesen, und ich fürchte, das war erst der Anfang.«

Cyrilla runzelte die Stirn. Kahlan war ein Konfessor, keine Mörderin. »Warum sagt Ihr so etwas?«

»Wir glauben, daß wir eine Verschwörung aufgedeckt haben. Ich werde erst darüber sprechen, wenn ich weiß, welcher Art sie ist, und ich Beweise habe. Aber ich glaube, sie wird einen Sturm entfachen, wie wir beide ihn noch nicht gesehen haben.«

Cyrilla strich ihrer Schwester über die Wange, zum allerersten Mal in ihrem Leben. »Kahlan, bitte bleibt. Genießt den Rest des Festes an meiner Seite. Ich würde mich sehr freuen, wenn Ihr bei mir bliebet.«

Kahlans Gesicht bekam wieder den ruhigen Ausdruck des Konfessors. »Das kann ich nicht. Meine Anwesenheit würde Eurem Volk nur die gute Laune verderben. Danke für Euer Angebot, aber Ihr solltet den Tag bei Eurem Volk genießen können, ohne daß ich ihn noch mehr verderbe.«

»Unsinn. Ihr würdet niemandem etwas verderben.«

»Nichts wäre mir lieber als das, aber so ist es nicht. Denkt daran, was unser Vater gesagt hat: haltet ein wachsames Auge auf die Keltonier. Ich muß fort. Es droht Ärger, und ich muß darum Sorge tragen, daß die Konfessoren den Grund dafür herausfinden. Bevor ich nach Aydindril zurückkehre, werde ich Kelton einen Besuch abstatten und dort meinen Verdacht vortragen und eine Warnung aussprechen, daß das, was geschehen ist, sich nicht wiederholen darf. Ich werde den Rat über den heutigen Vorfall in Kenntnis setzen, damit sich aller Augen auf die Keltonier richten.«

Was wurde nur in Aydindril gelehrt, daß das, was wie Porzellan aussah, so hart wie Stahl war?

»Danke, Mutter Konfessor.« Das war alles, um ihrer Schwester die ihrem Amt gebührende Ehre zu erweisen, als sie sie, den Zauberer im Schlepptau, von dannen ziehen sah. Es war das persönlichste Gespräch, das sie je mit ihrer Halbschwester geführt hatte. Nachdem Kahlan gegangen war, hatte ihr das Mittsommernachtsfest nicht mehr viel Erfreuliches zu bieten. So jung und doch bereits so alt.

Bei der Ratssitzung heute hatte Cyrilla zu ihrer Überraschung festgestellt, daß die Mutter Konfessor nicht den Vorsitz innehatte. Niemand wußte, wo sie steckte. Ihre Abwesenheit beim Fall von Aydindril war zu erwarten gewesen; sie war viel in ihrer Eigenschaft als Konfessor unterwegs gewesen und hatte wahrscheinlich alles in ihrer Macht Stehende getan, um die Bedrohung aus D’Hara aufzuhalten. Alle Konfessoren hatten die Horden aus D’Hara mit ganzer Kraft bekämpft. Und Kahlan hatte bestimmt nicht weniger als das getan, wobei ihr das von Nutzen gewesen war, was ihr Vater ihr beigebracht hatte.

Doch daß sie nicht sofort nach dem Rückzug D’Haras nach Aydindril zurückgekehrt war, beunruhigte Cyrilla. Vielleicht hatte sie noch keine Zeit gefunden. Cyrilla befürchtete, Kahlan könnte durch die Hände eines Quadrons umgekommen sein. D’Hara hatte sämtliche Konfessoren zum Tode verurteilt und ihnen unbarmherzig nachgestellt. Galea hatte den Konfessoren Unterschlupf gewährt, doch die unnachgiebigen und gnadenlosen Quadrone hatten sie trotzdem aufgespürt.

Schlimmer noch, ohne die Mutter Konfessor war auch kein Zauberer anwesend gewesen, der die Sitzung hätte überwachen können. Cyrilla hatte vor Angst eine Gänsehaut bekommen, als sie keinen Zauberer gesehen hatte. Sie hatte erkannt, daß die Abwesenheit eines Konfessors und eines Zauberers ein großes Vakuum in den Ratskammern erzeugte.

Doch als sie sah, wer der Ratssitzung vorsaß, wurden ihre Befürchtungen zu einer bestürzenden Gewißheit. Auf dem ersten Stuhl saß Prinz Fyren von Kelton. Eben jener Mann, vor dem sie Schutz suchte, verhandelte den Fall. Es war bestürzend, ihn auf jenem Platz sitzen zu sehen, der immer der Mutter Konfessor vorbehalten gewesen war. Der Rat, so schien es, war noch nicht wieder das, was er sein sollte.

Trotzdem beachtete sie ihn nicht weiter und bestand vor der übrigen Versammlung nachdrücklich auf ihren Forderungen. Im Gegenzug erhob sich Prinz Fyren und beschuldigte sie genau jenes Vergehens, dessen er schuldig war.

Des weiteren versicherte Prinz Fyren dem Rat, daß Kelton keineswegs angegriffen hatte, sondern lediglich aus Notwehr gegen einen gierigen Nachbarn handelte. In seiner Schmährede belehrte er sie über die Bosheit von Frauen in Machtstellungen. Der Rat glaubte ihm jedes Wort. Sie durfte nicht einmal Beweise vorbringen.

Niedergeschlagen und sprachlos stand sie da, während sich der Rat Fyrens Anklagen anhörte, sie gleich darauf für schuldig befand und dazu verurteilte, geköpft zu werden.

Wo war Kahlan? Wo waren die Zauberer?

Lady Bevinviers Vision hatte sich bewahrheitet. Cyrilla hätte auf sie hören oder wenigstens Vorsichtsmaßnahmen ergreifen sollen. Auch Kahlans Warnung hatte sich als richtig herausgestellt. Damals hatte Kelton aus Eifersucht zugeschlagen, und nun, Jahre später, wiederholten sie ihren Angriff, nachdem sie eine verlockende Schwäche entdeckt hatten.

Die galeanischen Wachen standen im großen Innenhof, bereit, Cyrilla unverzüglich nach Hause zu begleiten. Sie hätte Galeas Verteidigung in Bereitschaft versetzen müssen, bis die vom Rat entsandten Kräfte eintreffen konnten. Doch soweit sollte es nicht kommen.

Bei der Urteilsverkündung hörte sie draußen entsetzliches Kampfgeschrei. Kampf, dachte sie voller Bitterkeit. Das war kein Kampf, das war ein Gemetzel. Ihre Truppen hatten ohne Waffen im großen Innenhof gewartet — als Zeichen des Respekts und der Ergebenheit, eine offene Geste der Unterwerfung unter die Herrschaft des Rats der Midlands.

Königin Cyrilla stand am Fenster, einen Posten an jedem Arm, und verfolgte vor Entsetzen zitternd das Gemetzel. Einigen ihrer Männer war es gelungen, ihre Angreifer zu überwältigen und dadurch Waffen in die Hände zu bekommen. Tapfer wehrten sie sich, doch hatten sie keine Chance. Bei fünffacher Unterlegenheit und kaum Waffen hatte jede Verteidigung wenig Sinn. Ob dem Chaos jemand entkommen war, wußte sie nicht. Hoffentlich. Sie betete, daß Harold es geschafft hatte.

Der weiße Schnee, der auf dem Boden lag, verwandelte sich in ein Meer von Rot. Sie war bestürzt über das Gemetzel. Gnädig war allein, daß es so schnell ging.

Man hatte Cyrilla gezwungen, vor dem Rat niederzuknien, als Prinz Fyren ihr langes Haar mit seiner Faust ergriff und es ihr mit seinem eigenen Schwert abschnitt. Stumm hatte sie zu Ehren ihres Volkes erhobenen Hauptes dagekniet, zu Ehren der Männer, deren Ermordung sie gerade mitangesehen hatte, während er ihr das Haar so kurz schnitt wie der niedrigsten Küchenhilfe.

Noch vor einer Stunde hatte es danach ausgesehen, als sei das Ende der Qualen ihres Volkes nahe, doch statt dessen hatten sie gerade erst richtig begonnen.

Die kräftigen Finger auf ihren Armen zwangen sie, ruckartig vor einer kleinen Eisentür stehenzubleiben. Sie zuckte vor Schmerz zusammen. Eine grobe Leiter, doppelt so hoch wie sie, war auf der Seite an die gegenüberliegende Korridorwand gelehnt.

Wieder trat der Posten mit den Schlüsseln vor und machte sich am Schloß zu schaffen. Er verfluchte den Mechanismus und beschwerte sich, es sei durch den seltenen Gebrauch eingerostet. Sämtliche Posten schienen Keltonier zu sein. Von der Bürgerwehr aus Aydindril hatte sie keinen einzigen Mann gesehen. Sie wußte, daß die meisten von ihnen getötet worden waren, als Aydindril an D’Hara fiel.

Endlich riß der Mann die Tür zurück. Dahinter war eine dunkle Grube zu erkennen. Cyrillas Beine wollten sie nicht mehr tragen. Nur die Hände, die ihre Arme umfaßt hatten, hielten die Königin noch aufrecht. Man würde sie in die finstere Grube werfen. Zu den Ratten.

Sie zwang sich, gerade zu stehen. Sie war die Königin. Doch ihr Herzschlag wollte sich nicht beruhigen.

»Wie könnt Ihr es wagen, eine Dame in ein solches Rattenloch zu stekken!«

Prinz Fyren trat an das finstere Loch. Eine in die Hüfte gestemmte Hand hielt seinen offenen blauen Königsrock zurück. Mit der anderen Hand riß er eine Fackel aus ihrer Halterung.

»Ratten? Ist es das, was Euch ängstigt, Mylady? Ratten?« Er sah sie spöttisch grinsend an. Er war zu jung für einen derart geschulten Umgang mit Unverfrorenheiten. Hätte sie die Arme frei gehabt, sie hätte ihn geschlagen. »Laßt mich Eure Ängste besänftigen, Königin Cyrilla.«

Er schleuderte die Fackel in die Dunkelheit. Im Fallen beleuchtete sie Gesichter. Eine derbe Faust fing die Fackel auf. Dort in der Grube hockten Männer. Wenigstens sechs, vielleicht zehn.

Prinz Fyren beugte sich in die Türöffnung, seine Stimme verhallte in dem Loch. »Die Königin befürchtet, dort unten könnten Ratten sein.«

»Ratten?« ließ sich eine rauhe Stimme aus der Grube vernehmen. »Hier unten gibt es keine Ratten. Schon längst nicht mehr. Die haben wir alle aufgefressen.«

Die Hand mit den weißen Rüschen am Handgelenk ruhte noch immer auf Prinz Fyrens Hüfte. Seine Stimme troff vor geheuchelter Besorgnis. »Seht Ihr? Der Mann sagt, dort gibt es keine Ratten. Seid Ihr jetzt beruhigt, Mylady?«

Ihr Blick zuckte zwischen der flackernden Fackel unten und Fyren hin und her. »Wer sind diese Männer?«

»Nun, lediglich ein paar Mörder und Vergewaltiger, die auf ihre Enthauptung warten — genau wie Ihr. Ziemlich übles Gesocks im übrigen. Ich muß mich um so viel kümmern, daß ich noch nicht dazu gekommen bin, sie hinrichten zu lassen. Ich fürchte, der lange Aufenthalt in der Grube hat sie in eine ziemlich miese Stimmung versetzt.« Sein Grinsen kehrte zurück. »Ich bin jedoch sicher, daß eine Königin in ihren Reihen ihre Laune erheblich bessern wird.«

Mit Mühe preßte Cyrilla hervor: »Ich verlange eine eigene Zelle.«

Das Grinsen erlosch. Er zog eine Braue hoch. »Verlangen? Ihr verlangt?« Er schlug ihr unvermittelt ins Gesicht. »Ihr habt nichts zu verlangen! Ihr seid nichts weiter als eine gewöhnliche Kriminelle, eine verabscheuungswürdige Mörderin an meinem Volk! Man hat Euch angeklagt und verurteilt!«

Der Abdruck seiner Hand brannte auf ihrer Wange. »Ihr könnt mich nicht dort hineinwerfen — zusammen mit diesen Kerlen.« Ihr leise vorgebrachtes Flehen hatte sicherlich keine Aussicht auf Erfolg, trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen.

Fyren reckte sich und zog seinen Rock zurecht, dann nahm er wieder Haltung an. Er hob die Stimme und sprach zu den Männern unten. »Ihr würdet doch keine Lady schänden, oder?«

Leises Gelächter hallte von unten herauf. »Was? Natürlich nicht. Wir wollen doch nicht zweimal enthauptet werden.« Die derbe Stimme nahm einen kalten, bedrohlichen Ton an. »Wir werden sie äußerst zuvorkommend behandeln.«

Cyrilla spürte den warmen, salzigen Geschmack von Blut im Mundwinkel. »Fyren, das könnt Ihr nicht tun. Ich verlange, auf der Stelle enthauptet zu werden.«

»Ihr tut es schon wieder: Ihr stellt Forderungen.«

»Wieso kann man das nicht sofort erledigen! Es soll auf der Stelle geschehen!«

Er holte erneut zu einem Schlag aus, doch dann ließ er die Hand sinken und grinste wieder. »Seht Ihr? Erst bekennt Ihr Euch unschuldig und wollt nicht hingerichtet werden, und schon jetzt beginnt Ihr, die Lage neu zu überdenken. Nach ein paar Tagen dort bei den Männern werdet Ihr darum betteln, enthauptet zu werden. Bereitwillig werdet Ihr Euren Verrat vor allen gestehen, die gekommen sind, um Zeuge Eurer Bestrafung zu werden. Doch leider muß ich mich im Augenblick um andere Dinge kümmern. Ihr werdet hingerichtet werden, wenn ich Zeit dafür finde.«

Erst jetzt begann sie mit wachsendem Entsetzen das volle Ausmaß ihres Schicksals zu begreifen, das sie in der Grube erwartete. Die Tränen brannten ihr in den Augen.

»Bitte … tut mir das nicht an. Ich flehe Euch an.«

Prinz Fyren strich die weißen Rüschen an seinem Rock glatt und meinte leise: »Ich habe versucht, es Euch leicht zu machen, Cyrilla, weil Ihr eine Frau seid. Drefans Messer hätte einen schnellen Tod bedeutet. Auf diese Weise hättet Ihr wenig gelitten. Einem Mann an Eurer Stelle hätte ich niemals eine solche Gnade eingeräumt. Aber Ihr wolltet es nicht leicht haben. Ihr habt zugelassen, daß die Mutter Konfessor sich einmischt. Ihr habt zugelassen, daß noch eine weitere Frau in die Domäne der Männer eingreift! Frauen fehlt der Mut zur Herrschaft. Sie sind für diese Aufgabe nicht gerüstet. Man sollte ihnen niemals gestatten, Armeen zu befehligen oder sich in die Angelegenheiten von Völkern einzumischen. Diese Dinge mußten zurechtgerückt werden. Drefan hat es auf die einfache Art versucht. Jetzt machen wir es anders.«

Er nickte einem hinter ihm stehenden Mann zu. Der Mann wuchtete die Leiter durch die Türöffnung und ließ ein Ende in die Grube hinabgleiten, während die Hände auf ihren Armen sie an den Rand schoben. Die anderen Männer zogen ihre Schwerter, um offenkundig zu verhindern, daß irgend jemand aus der Grube auf den Gedanken kam, die Leiter hochzuklettern.

Cyrilla hatte keine Ahnung, wie sie dem Einhalt gebieten sollte. Sie protestierte, wußte, daß es töricht war, konnte aber ihre Panik nicht verbergen. »Ich bin eine Königin, eine Dame, ich werde mich nicht zwingen lassen, eine wackelige Leiter hinunterzukrabbeln.«

Prinz Fyren überging ihren lächerlichen Einwand, doch dann gab er dem Mann mit einer Handbewegung zu verstehen, er solle die Leiter vom Eingang zurückziehen.

Er machte eine spöttische Verbeugung. »Ganz wie Ihr wollt, Mylady.«

Er richtete sich auf und gab den Männern, die sie hielten, ein knappes Zeichen mit dem Kopf. Sie ließen los. Bevor sie auch nur einen Muskel rühren konnte, rammte er ihr den Handballen in die Brust, zwischen ihre Brüste.

Der schmerzhafte Stoß nahm ihr das Gleichgewicht. Sie stolperte rücklings durch die Türöffnung. Hinab in die Grube.

Während des Sturzes war sie überzeugt, auf dem Steinfußboden aufzuschlagen und dabei getötet zu werden. Mit einem letzten Seufzer ergab sie sich in ihr Schicksal, während ihre ruhmreiche Vergangenheit in einer sinnlosen Bildfolge vor ihrem inneren Auge vorüberwirbelte. Lief alles darauf hinaus? War alles umsonst gewesen? Daß ihr Schädel wie ein Ei zerplatzte, das von einem Tisch zu Boden rollt?

Doch Hände fingen sie auf. Überall auf ihrem Körper waren Hände, unerwartet und an den intimsten Stellen. Sie öffnete die Augen und sah, wie das Licht in der Türöffnung mit einem lauten, widerhallenden Knall erlosch.

Gesichter umgaben sie auf allen Seiten in dem gespenstischen, flackernden Schein der Fackeln. Häßliche, schwitzende, boshafte Gesichter. Blicke aus gerissenen, schwarzen Augen wanderten über ihren Körper. Aus gierigen, freudlos grinsenden Mäulern blinkten ihr krumme, spitze Zähne entgegen. Viele Zähne. Es schnürte ihr die Kehle zu, ließ ihr den Atem stocken. Ihr Verstand, durchzuckt von verwirrenden, sinnlosen Bildern, versagte ihr den Dienst.

Sie wurde zu Boden gedrückt. Der Stein preßte sich kalt und schmerzhaft in ihren Rücken. Grunzlaute und leises Stöhnen erhoben sich von allen Seiten. Ein dichtes Knäuel Männer drängte sich über ihr. Trotz heftigen Widerstands wurden ihre Glieder nach Belieben hin und her gezerrt.

Zupackende, krallenartige Hände zerrissen ihr feines Kleid und vergriffen sich brutal an ihrem plötzlich schockierend bloßen Fleisch.

Und dann tat Cyrilla etwas, das sie nicht mehr getan hatte, seit sie ein kleines Mädchen gewesen war.

Sie schrie.

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