48

»Und wann stoßen wir nun auf deine Leute, die Schwester Verna und mich zum Palast führen werden?«

Du Chaillu sah kurz über ihre Schulter, zog ihr dichtes, schwarzes Haar zur Seite und musterte ihn genau. Sie führte ihr Pferd. Richard war ihr Gejammer leid geworden, und als sie sich schließlich geweigert hatte, weiter zu reiten, hatte er beschlossen, nicht viel Aufhebens davon zu machen und sie zu Fuß gehen zu lassen. Auch er selbst wollte eine Weile zu Fuß gehen. Schwester Verna ritt hinter ihnen und beobachtete Du Chaillu von ihrem Pferd aus mit dem Blick eines Raubvogels.

»Bald.« Ihr kühler, abweisender Gesichtsausdruck beunruhigte ihn. »Sehr bald.«

Seit sie das Land der Majendie verlassen hatten und immer tiefer in ihr Land vorgedrungen waren, hatte sich ihr Verhalten mehr und mehr verändert. Anstelle von Gesprächigkeit und Offenheit waren Hochmut und Abweisung getreten. Schwester Verna ließ Du Chaillu nur selten aus den Augen, und Du Chaillu entging keine Bewegung, die die Schwester machte. Sie umschlichen sich wie zwei Katzen mit gesträubtem Fell: schweigend und regungslos und doch jederzeit zum Sprung bereit. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie sich in Kürze die Zähne zeigen würden.

Richard hatte den Eindruck, daß die beiden sich laufend auf die Probe stellten, doch auf eine Weise, die er nicht mitbekam. Aus dem Verhalten der Schwester schloß er, daß sie keinen Gefallen fand an dem, was sie entdeckte. Aus Erfahrung konnte Richard sagen, wann die Schwester ihr Han berührte. Er erkannte es an dem Schleier, der sich dann über ihren Blick legte. Gerade in diesem Augenblick tat sie es wieder.

In der zunehmenden Dunkelheit schwenkte Du Chaillu unvermittelt von dem breiten Waldpfad ab und führte sie auf einen schmalen Weg durch das dichte, verfilzte Gestrüpp. Dunkle Tümpel, in denen ein undurchdringliches Dickicht aus Schilf und breitblättrigen Pflanzen mit rosa und gelben trompetenförmigen Blüten stand, lauerten zu beiden Seiten. Richard ließ seinen Blick suchend über die Schatten zwischen den Bäumen schweifen.

Du Chaillu blieb am Rande einer sandigen Lichtung stehen. Sie hielt Richard die Zügel ihres Pferdes hin. »Die anderen werden an diesem Ort zu uns stoßen. Warte hier, magischer Mann.«

Die Anrede, die sie gebrauchte, ließ sich ihm die Nackenhaare sträuben. Er nahm die Zügel entgegen. »Richard. Ich heiße Richard. Ich bin der, der dir den Kopf gerettet hat, schon vergessen?«

Du Chaillu betrachtete ihn nachdenklich. »Bitte denke niemals, ich wüßte nicht zu würdigen, was du für mich und mein Volk getan hast. Deine Güte wird immer einen Platz in meinem Herzen haben.« Ihr Blick schien in die Ferne zu schweifen, und ihre Stimme bekam einen bedauernden Unterton. »Aber du bist immer noch ein magischer Mann.« Sie richtete sich auf. »Warte hier.«

Sie machte kehrt und verschwand im Wald, der die Lichtung umgab. Richard stand da und sah ihr nach, während Schwester Verna abstieg. Sie ergriff die Zügel aller drei Pferde.

»Jetzt wird sie versuchen, dich zu töten«, sagte sie, und es klang, als wollte sie ihn darauf aufmerksam machen, daß es morgen regnen würde.

Richard funkelte sie wütend an. »Ich habe ihr das Leben gerettet.«

Schwester Verna machte sich daran, die Pferde zu den Bäumen zu führen. »Für diese Leute bist du ein magischer Mann. Und magische Männer töten sie.«

Richard wollte ihr nicht glauben, tat es aber trotzdem. »Dann benutzt Euer Han, Schwester, um das zu verhindern, um Leben zu erhalten, wie Ihr es Du Chaillu bei ihrem Kind geraten habt.«

Schwester Verna kraulte ihr Pferd am Kinn. »Sie kann ebenfalls von ihrem Han Gebrauch machen. Deswegen sind wir Schwestern diesen Menschen immer aus dem Weg gegangen. Einige von ihnen können ihr Han gebrauchen, allerdings auf eine Weise, die wir nicht verstehen.

Ich habe kleine Dinge an ihr ausprobiert, um sie auf die Probe zu stellen. Die Zauber, die ich ihr schicke, verschwinden wie Kiesel, die man in einen Brunnen wirft. Und das nicht unbemerkt. Du Chaillu weiß, was ich versuche, und kann dies irgendwie zunichte machen. Ich habe es dir bereits gesagt, diese Menschen sind gefährlich. Ich habe dich davor gewarnt, die Axt zu schwingen. Du warst ja der Meinung, meine Bemühungen wären unangebracht.«

Richard biß die Zähne zusammen. Mit seiner linken Hand umfaßte er das Heft des Schwertes. Er konnte die Erhebungen des Wortes Wahrheit spüren, das in den Draht geflochten war, und durch das Wort hindurch die Glut seines Zorns.

»Ich habe nicht die Absicht, irgend jemanden zu töten.«

»Gut. Halte den Zorn des Schwertes aus der Sache heraus. Du wirst ihn noch brauchen, wenn du überlebst. Sie umzingeln uns gerade, während wir miteinander sprechen, das zumindest sagt mir mein Han.«

Richard hatte plötzlich das Gefühl, die Kontrolle über die Geschehnisse würde ihm entgleiten. Er wollte niemanden verletzen. Er hatte Du Chaillu nicht gerettet, um jetzt gegen ihre Leute kämpfen zu müssen. »Dann schlage ich vor: Setzt Euer Han ein, Schwester Verna. Ich bin der Sucher, kein gedungener Mörder. Ich werde Eure Feinde nicht für Euch töten.«

Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu. Ihre Stimme klang gepreßt und beherrscht. »Ich habe es dir schon einmal gesagt, mein Han wird dir nicht helfen können. Ich würde der Bedrohung ein Ende machen, wenn ich könnte, aber ich kann es nicht. Du Chaillu ist in der Lage, sich gegen Magie zur Wehr zu setzen. Ich bitte dich, Richard, verteidige dich selbst.«

Er kniff die Augen zusammen. »Vielleicht wollt Ihr mir einfach nicht helfen. Ihr seid erzürnt, weil ich die Übereinkunft zunichte gemacht habe, die die Schwestern mit den Majendie hatten. Ihr habt vor, wie immer zuzuschauen, nur um zu sehen, was ich tue.«

Sie schüttelte langsam und enttäuscht den Kopf. »Glaubst du wirklich, Richard, ich würde mein halbes Leben damit verbringen, meine Pflicht zu tun, dich zu finden und sicher zum Palast der Propheten zu bringen, nur um mitanzusehen, wie du auf der Schwelle meines Zuhauses getötet wirst? Glaubst du tatsächlich, ich würde dem hier kein Ende machen, wenn ich könnte? Hast du so eine schlechte Meinung von mir?«

Sein erster Antrieb war, mit ihr zu streiten, doch statt dessen dachte er über ihre Worte nach. Was sie sagte, ergab Sinn. Richard schüttelte entschuldigend den Kopf, dann warf er rasch einen Blick in die Schatten. »Wie viele sind es?«

»Vielleicht dreißig.«

»Dreißig.« Er verschränkte niedergeschlagen die Arme. »Wie soll ich mich alleine gegen dreißig verteidigen?«

Sie blickte einen Augenblick lang hinaus in die Dunkelheit, dann warf sie ihre Hände nach vorn. Ein Wind kam auf, der einen Schleier aus Sand und Staub hinaus in die Dunkelheit trug. »Das wird sie eine Weile bremsen, aber nicht aufhalten.«

Sie sah ihn abermals mit ihren braunen Augen an. »Richard, ich habe mein Han benutzt, um eine Antwort zu finden. Mein Han verrät mir nur, daß du die Prophezeiung nutzen mußt, um zu überleben. Du hast dir selbst den Namen Bringer des Todes gegeben, wie es die Prophezeiung vorhersagt. In der Prophezeiung geht es um dich.

Du mußt die Prophezeiung nutzen, wenn du so viele besiegen willst. In der Prophezeiung heißt es, der Träger des Schwertes sei in der Lage, die Toten auf den Plan zu rufen, die Vergangenheit in die Gegenwart zu zitieren. Irgendwie mußt du das tun, um zu überleben — die Toten auf den Plan rufen, die Vergangenheit in die Gegenwart zitieren.«

Richard faltete seine Arme auseinander. »Wir werden in Kürze von dreißig Leuten überrannt werden, die, wie Ihr behauptet, versuchen werden, mich zu töten, und Ihr gebt mir ein Rätsel auf? Schwester, ich habe Euch schon einmal erklärt, ich weiß nicht, was es bedeutet. Wenn Ihr helfen wollt, dann sagt mir etwas, mit dem ich etwas anfangen kann.«

Sie machte kehrt und ging zu den Pferden zurück. »Das habe ich doch. Manchmal sind Prophezeiungen dazu bestimmt, dem Genannten Hilfe zu gewähren, in dem sie Hilfe durch die Zeit hindurch senden und einen Schlüssel liefern, der möglicherweise die Tür zur Erleuchtung öffnet. Ich denke, um eine solche Prophezeiung handelt es sich. Diese Prophezeiung handelt von dir. Du mußt selbst herausfinden, welchem Zweck sie dient. Ich kenne ihre Bedeutung nicht.«

Sie blieb stehen, drehte sich um und sah über die Schulter. »Du vergißt, ich habe versucht zu verhindern, daß wir diesen Menschen in die Hände fallen. Du hast gesagt, in dieser Angelegenheit seist du nicht mein Schüler, sondern der Sucher. Und als Sucher mußt du diese Prophezeiung nutzen. Du bist es, der uns hierhergebracht hat. Und nur du kannst uns hier wieder herausbringen.«

Richard starrte ihr hinterher, während sie die nervösen Tiere besänftigte. Er hatte schon früher über die Prophezeiung nachgedacht und sich, seit sie sie ihm erzählt hatte, gefragt, was sie bedeuten mochte. Gelegentlich war es ihm so vorgekommen, als stünde er kurz davor, sie zu verstehen, doch stets war ihm die Lösung wieder entglitten.

Er hatte das Schwert viele Male benutzt und wußte, welche Fähigkeiten es barg. Auch seine eigenen Grenzen kannte er. Gegen einen einzelnen war das Schwert praktisch unbesiegbar, doch er selber war aus Fleisch und Blut. Er war kein erfahrener Schwertkämpfer. In der Vergangenheit hatte er sich immer darauf verlassen, daß die Magie des Schwertes ihm den entscheidenden Vorteil brachte. Dennoch, er war nur einer, und sie waren viele. Das Schwert konnte nur an einem Ort gleichzeitig sein.

»Sind sie gute Kämpfer?« fragte er.

»Die Baka Ban Mana sind unübertroffen. Sie haben besondere Kämpfer, Meister des Schwertes, die von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang trainieren, jeden Tag. Und anschließend trainieren sie bei Mondschein. Kämpfen ist für sie fast so etwas wie eine Religion.

Als ich klein war, habe ich gesehen, wie ein Schwertmeister der Baka Ban Mana, dem es gelungen war, in die Garnison von Tanimura vorzudringen, fast fünfzig gut bewaffnete Soldaten tötete, bevor er überwältigt wurde. Sie kämpfen, als wären sie unbesiegbare Seelen. Und manche Menschen halten sie tatsächlich dafür.«

»Na großartig«, meinte Richard kaum hörbar.

»Richard«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »Ich weiß, wir verstehen uns nicht gut. Wir könnten denselben Gegenstand betrachten, und jeder würde etwas anderes sehen. Wir stammen aus unterschiedlichen Welten, wie sind beide dickköpfig, und keiner von uns mag den anderen besonders.

Aber eins sollst du wissen: In dieser Angelegenheit bin ich nicht halsstarrig. Du hattest recht, hier geht es um den Sucher und nicht um meinen Schüler. In gewisser Weise verstehe ich das nicht, es hängt ebenfalls mit der Prophezeiung zusammen. Die Woge der Ereignisse trägt dich. Ich bin in dieser Sache nur eine unbeteiligte Zuschauerin. Aber wenn du stirbst, dann sterbe auch ich.«

Endlich hob sie den Kopf und sah ihm in die Augen. »Ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann, Richard. Die Leute rücken von allen Seiten näher, um zu beobachten, was geschieht, und ich weiß, wenn ich versuche, mich einzumischen, werden sie mich töten. Hier geht es um die Prophezeiung, um dich und die Baka Ban Mana. Ich spiele hierbei keine Rolle, ich werde nur auch sterben, wenn du stirbst.

Was die Prophezeiung bedeutet, weiß ich nicht, und mir ist auch bewußt, daß du es nicht weißt, doch denke an sie, vielleicht stellt sich ihr Nutzen ein, wenn du ihn brauchst. Versuche dein Han zu gebrauchen, falls du kannst.«

Richard stand da, die Hände in die Hüften gestemmt. »Also schön, Schwester, ich werde es versuchen. Mir tut bloß leid, daß ich nicht gut im Rätselraten bin. Und sollte ich getötet werden, nun, dann danke ich Euch für den Versuch, mir zu helfen.«

Er blickte in den Himmel, betrachtete den dünnen Wolkenschleier, der den Mond verdunkelte. Die Dunkelheit erleichterte es den Anschleichenden, sich verborgen zu halten. Es gab keinen Grund, warum sich die Dunkelheit nicht auch zu seinem Vorteil nutzen lassen sollte.

Richard war Waldführer, war in der Dunkelheit der Wälder zu Hause. Er hatte zahllose Stunden mit Spielen wie diesem zugebracht, mit den anderen Führern. Hier war auch er in seinem Element, nicht nur die Baka Ban Mana. Er brauchte ihr Spiel nicht mitzuspielen. Geduckt schlich er davon, fort von der Schwester und den Pferden, und wurde eins mit den Schatten.

Der erste, den er entdeckte, blickte in die falsche Richtung. Still und geräuschlos betrachtete Richard die dunkle, in weite Kleidung gehüllte Gestalt, welche, auf einem Knie hockend, die Schwester beobachtete. Mit einer Hand hielt die Gestalt fest einen kurzen Speer umklammert, dessen hinteres Ende sie in den Sand gesteckt hatte. Zwei weitere Speere lagen auf der Erde.

Richard konzentrierte sich darauf, seinen Atem zu beherrschen, damit er, während er sich näher heranschlich, kein Geräusch von sich gab. Einen Schritt vorwärts, verharren, wieder einen Schritt vorwärts, so kam er allmählich immer näher. Er streckte die Hand aus. Zentimeter vom Speer entfernt erstarrte er, als der Mann den Kopf drehte.

Die Gestalt sprang auf, doch Richard war bereits nahe genug. Er entriß dem Mann den Speer. Während der Kerl herumwirbelte, holte Richard aus und schlug dem Fremden mit dem Speerschaft gegen die Schläfe. Der Kerl ging zu Boden, bevor er Gelegenheit hatte, Alarm zu schlagen.

Einer weniger, dachte Richard, als er sich aufrichtete, und das, ohne ihn töten zu müssen. Zumindest hoffte er, ihn nicht getötet zu haben.

Aus der Dunkelkheit tauchte eine Gestalt auf. Seitlich von ihr eine zweite. Und dann noch eine. Richard drehte sich um und sah immer mehr auftauchen. Bevor er sich zurückziehen konnte, war er umzingelt.

Die Gestalten waren in rindenfarbige, weite Kleidung gehüllt, so daß sie mit der umgebenden Landschaft verschmolzen. Ein um den Kopf gewikkeltes Tuch verhüllte alles bis auf ihre dunklen Augen, in denen grimmige Entschlossenheit aufblitzte.

Es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Richard trat seitlich auf die Lichtung, der Kreis aus Gestalten bewegte sich mit ihm. Immer mehr rückten von allen Seiten vor. Richard drehte sich um und sah, wie sie in zwei Reihen um ihn herumstanden.

Vielleicht konnte er es noch immer schaffen, ohne jemanden zu töten. »Wer spricht für euch?«

Der innere Ring aus in Gewändern gehüllten Gestalten ließ die runden Schilde fallen und warf die Zweitspeere auf den Boden, so daß die Spitzen auf Richard zeigten. Dann umfaßte jeder einzelne von ihnen den verbliebenen Speer mit beiden Händen wie eine Stange. Sie ließen ihn keinen Moment aus den Augen. Die Krieger im äußeren Ring warfen ihre Schilde und alle ihre Speere zu Boden und legten die Hände an die Hefte ihrer Schwerter, zogen sie aber nicht.

Ein leiser rhythmischer Gesang setzte ein, und die beiden Kreise setzten sich langsam in entgegengesetzter Richtung in Bewegung.

Richard wich in einem engen Kreis zurück, versuchte, sie alle im Blick zu behalten. »Wer spricht für euch!«

Der verhaltene Sprechgesang ging im Takt mit ihren seitlichen Schritten weiter.

Eine Gestalt, die wie die anderen von Kopf bis Fuß verhüllt war, stieg auf einen Stein außerhalb des zweiten Rings.

»Ich bin Du Chaillu. Ich spreche für die Baka Ban Mana.«

Richard konnte es kaum fassen. »Du Chaillu, ich habe dir das Leben gerettet. Warum willst du uns ermorden?«

»Die Baka Ban Mana sind nicht hier, um dich zu ermorden. Wir sind hier, um dich für den Raub unseres heiligen Landes hinzurichten.«

»Du Chaillu, ich habe euer Land niemals zuvor gesehen. Was immer hier geschehen ist, ich habe nichts damit zu tun.«

»Magische Männer haben uns das Land genommen. Sie haben uns unsere Gesetze gegeben. Du trägst die Sünden dieser magischen Männer, deiner Vorgänger, in dir. Zum Beweis trägst du sogar ihr Zeichen. Du mußt tun, was alle vor dir auch getan haben, die wir fangen konnten. Du mußt dich dem Kreis stellen. Du mußt sterben.«

»Du Chaillu, ich habe dir doch gesagt, das Töten muß ein Ende haben.«

»Es ist leicht zu verkünden, das Töten müsse ein Ende haben, wenn man derjenige ist, der sterben soll.«

»Wie kannst du es wagen, so etwas zu mir zu sagen! Ich habe mein Leben riskiert, um dem Töten ein Ende zu machen! Ich habe mein Leben für dich aufs Spiel gesetzt!«

Sie sprach leise. »Das weiß ich, Richard. Dafür werde ich dich immer in Ehren halten. Ich hätte dir Söhne geboren, hättest du es von mir verlangt. Ich hätte mein Leben für dich hingegeben. Für das, was du getan hast, wirst du als Held meines Volkes weiterleben. Ich werde ein Gebet an mein Kleid binden, auf daß die Seelen dich zärtlich in ihr Herz schließen.

Aber du bist ein magischer Mann. In den Alten Gesetzen heißt es, wir sollten jeden Tag üben und mit der Klinge besser werden als jedes andere Volk der Welt. Man hat uns gesagt, daß wir jeden magischen Mann töten müssen, den wir fangen oder der Geist der Finsternis zieht die Welt des Lebendigen hinab in die Finsternis.«

»Ihr könnt nicht immer weiter magische Männer töten, oder sonst jemanden! Das muß ein Ende haben!«

»Durch das, was du getan hast, kann das Töten nicht beendet werden. Es kann erst enden, wenn die Seelen mit uns tanzen.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, wir müssen dich töten, oder es geschieht das, was gesprochen wurde — der Geist der Finsternis entkommt aus seinem Gefängnis.«

Richard zeigte mit dem Speer auf sie. »Du Chaillu, ich will keinen von euch töten, aber ich werde mich wehren. Bitte, hört jetzt auf, bevor noch jemandem ein Leid geschieht. Zwing mich nicht, einen von euch zu töten. Bitte.«

»Hättest du versucht fortzulaufen, hätten wir dir Speere in den Rücken gebohrt, aber da du dich entschieden hast stehenzubleiben, hast du dir das Recht verdient, dich uns zu stellen. Sterben wirst du in jedem Fall, wie alle anderen zuvor, die wir gefangen haben. Wenn du nicht gegen uns kämpfst, wird es schnell gehen und du mußt nicht leiden. Du hast mein Wort drauf.«

Sie drehte ihre Hand in der Luft, und der Gesang setzte erneut ein.

Die Männer des äußeren Rings zogen ihre Schwerter — lange Waffen mit schwarzem Griff, eine jede mit einem Ring am Knauf, an dem ein Band befestigt war, das sich in einer Schlaufe um den Hals des Schwertkämpfers legte, damit das Schwert im Kampf nicht verlorengehen konnte. Die Klingen waren allesamt gebogen und wurden zur Spitze hin breiter.

Die Männer wirbelten mit den Schwertern herum, warfen sie von der rechten in die linke Hand und wieder zurück. Die Klingen kamen nie zum Stillstand. Die Männer des inneren Kreises ließen ihre Speere kreisen.

Richard kannte Führer, die mit Spießen bewaffnet waren. Niemand behelligte einen Waldführer, der mit einem Spieß bewaffnet war. Diese Leute hier waren besser als alle Führer, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Die hölzernen Schäfte verwischten undeutlich im Mondlicht, die stählernen Spitzen waren ein matt schimmernder Kreis reflektierten Lichts.

Richard zerbrach den Speerschaft über seinem Knie und zog sein Schwert. Das Klirren von Stahl übertönte das pfeifende Geräusch der Speere und Klingen.

»Tu es nicht, Du Chaillu! Hör sofort auf, bevor noch jemand zu Schaden kommt.«

»Kämpfe nicht gegen uns, Hexenmann, und wir garantieren dir einen schnellen Tod. Zumindest das bin ich dir schuldig.«

Richards Brust hob und senkte sich, er spannte seine Kiefernmuskeln an. Der Gesang wurde geschwinder, und die Kreise der Männer bewegten sich schneller.

Richard funkelte Du Chaillu, die noch immer auf dem Stein stand, wütend an. »Ich lehne jede Verantwortung ab, für das, was jetzt geschieht, Du Chaillu. Du bist es, die diese Situation erzwingt. Du allein hast zu verantworten, was jetzt geschieht.«

Sie antwortete leise, die Stimme voller Bedauern. »Wir sind viele. Du nur einer. Es tut mir leid, Richard.«

»Nur ein Narr würde auf diese Ungleichheit vertrauen, Du Chaillu. Sie ist nicht, was sie scheint. Ihr könnt euch nicht alle gleichzeitig auf mich stürzen. Ihr könnt allein oder zu zweit oder bestenfalls zu dritt angreifen. Die Zahlen sind nicht so, wie sie in deinen Augen scheinen.« Richard wunderte sich schwach, woher ihm diese Worte gekommen waren.

Er sah, wie sie im Mondlicht nickte. »Du verstehst den Tanz des Todes, Hexenmann.«

»Ich bin kein Hexenmann, Du Chaillu! Ich bin Richard, der Sucher der Wahrheit. Ich gehe nicht freiwillig mit dieser Schwester mit, um ein magischer Mann zu werden. Ich bin ein Gefangener. Das weißt du doch. Aber ich werde mich verteidigen.«

Du Chaillu betrachtete ihn im Mondschein. »Die Seelen wissen, wie leid es mir tut, Sucher Richard. Trotzdem mußt du sterben.«

»Dein Mitleid nützt mir nichts, Du Chaillu. Dir sollten die leid tun, die heute nacht ohne Grund sterben.«

»Du hast die Baka Ban Mana noch nicht kämpfen sehen. Niemand wird uns ein Haar krümmen. Du allein wirst den Stahl zu schmecken bekommen. Sei unbesorgt, du wirst niemandes Tod bedauern müssen.«

Richard ließ der Magie des Schwertes, dem Zorn, freien Lauf.

Die beiden Kreise bewegten sich und sangen schneller, wirbelten ihre Waffen schneller herum. Der Sturm des Zornes aus dem Schwert durchtoste den Sucher. Selbst in den Fängen dieses Zorns, diesem unbarmherzigen Verlangen zu töten, wußte er, daß es nicht reichen würde. Es waren zu viele. Und nie hatte er jemanden gesehen, der so mit Waffen umgehen konnte wie diese Menschen.

Ungeachtet dessen sog er noch mehr Magie in sich hinein. Sog sie in sich hinein, bis die Unbarmherzigkeit des Hasses in seinem Schädel pochte und ihm fast übel wurde. Er zog sie bis in die Tiefen seiner Seele.

Richard stand reglos im Mittelpunkt der sich drehenden Kreise. Er legte sich die blitzblanke Klinge auf die Stirn. Der Stahl fühlte sich kühl an auf seiner erhitzten Haut, auf seinem Schweiß.

»Klinge, sei mir heute treu.«

Weiter rief er die Magie herbei. Noch bevor er richtig merkte, was er tat, riß er sich das Hemd vom Leib und schleuderte es zur Seite, damit es ihn nicht hinderte. Wie war er darauf gekommen? Es schien genau das Richtige zu sein, doch er hatte keine Ahnung, woher der Gedanke kam. Er hielt die Klinge senkrecht vor seinem Körper in die Höhe. Er spannte und entspannte seine Muskeln, die schweißnaß glänzten.

Er fand seine Mitte, den Ort der Ruhe, das Zentrum. Er suchte sein Han inmitten des weißglühenden Zentrums seines Hasses.

Gebrauche, was du hast, sagte eine Stimme in seinem Innern. Gebrauche, was dort ist. Laß es frei.

Indes sein Verstand völlig ruhig wurde, erinnerte sich Richard daran, wie er auf Zedds Zaubererfelsen gestanden und dessen Magie benutzt hatte, sich vor der Wolke zu verstecken, die Darken Rahl auf ihn angesetzt hatte. Der Felsen war vor Zedd bereits von vielen Zauberern benutzt worden. Als Richard auf ihm gestanden und die Magie herbeigerufen hatte, sie durch seinen Körper hatte fließen lassen, da hatte er die innere Natur all derer gespürt, die ihm vorausgegangen waren. Er erinnerte sich, wie es gewesen war, die gleichen Dinge zu spüren wie sie, die gleichen Dinge zu wissen wie sie. Er hatte einen Einblick bekommen in alle, die früher schon von der Magie Gebrauch gemacht hatten.

Plötzlich war ihm klar, was die Prophezeiung bedeutete.

Er fragte sich, wie es möglich gewesen war, das Schwert zu benutzen, ohne dies zu sehen, ohne zu erkennen, was die Magie zum Inhalt hatte. Genau wie auf dem Zaubererfelsen.

Auch andere hatten schon von der Magie des Schwertes Gebrauch gemacht, und die Magie hatte sich ihre Kampfkunst, jede Bewegung, mit der sie das Schwert geführt hatten, gemerkt. Das Talent unzähliger Hunderter von Menschen, die diese Klinge geführt hatten, von Männern und Frauen gleichermaßen, war vorhanden und brauchte bloß angerufen zu werden. Das Können sowohl der guten wie der bösen Menschen war in diese Magie eingegangen.

In seiner Ruhe sah er, wie der erste Angreifer sich von links her näherte.

Sei wie eine Feder, nicht wie ein Fels. Laß dich auf den Schwingen des Sturmes davontragen.

Richard entlud die Magie, wirbelte herum und wich dem Angriff aus, ließ ihn an sich vorbei. Er schlug nicht zu, sondern ließ sich vom Druck des Angriffs treiben. Ließ sich von der Magie des Schwertes leiten. Der Angreifer ging taumelnd zu Boden, als der erwartete Widerstand ausblieb.

Sofort kam der nächste und ließ seinen Speer kreisen. Richard wirbelte erneut herum, und als der Angreifer an ihm vorüberraste, zersplitterte Richard den Schaft mit seinem Schwert. Jemand stieß eine Speerspitze in seine Richtung. Ohne zu stoppen glitt er an ihr vorbei, riß das Schwert nach oben und schnitt den Schaft in zwei Teile. Der nächste Angriff kam von hinten. Richard trat dem Mann vor die Brust und warf ihn nach hinten.

Richard überließ sich der Magie des Schwertes und dem Frieden in seinem Innern. Ohne nachzudenken tat er Dinge, die er nicht einmal verstand.

Er hielt seinen Zorn, unter Kontrolle, damit er niemanden tötete. Mit der flachen Seite der Klinge schlug er dort gegen einen Hinterkopf, ließ hier einen Angreifer über seinen Fuß stolpern. Je schneller sie kamen, desto schneller reagierte er. Die Magie speiste sich aus ihrer Energie. Fließend glitt er zwischen den Angreifern hindurch, zersplitterte Speere, wenn er konnte, versuchte die Baka Ban Mana zu entwaffnen, ohne sie zu töten.

»Du Chaillu! Mach dem ein Ende, bevor ich sie verletzen muß!«

Ihr etwas zuzuschreien war ein Fehler. Es lenkte ihn ab. Es gestattete einem Speer, seine fließende Verteidigung zu durchbrechen. Er stand vor der Wahl, als der Zorn augenblicklich in seinem Herzen explodierte. Er konnte den Angreifer töten oder nur das tun, was nötig war, um ihn aufzuhalten.

Sein Schwert, dessen Spitze durch die Luft pfiff, kam herangewirbelt und kappte die Hand, die den Speer gestoßen hatte. Blut und Knochensplitter füllten die Luft. Der Schrei war der einer Frau.

Einige der Baka Ban Mana waren Frauen, wie er jetzt sah. Es spielte keine Rolle. Sie würden ihn töten, wenn er sich nicht verteidigte. Besser, man verlor eine Hand als den Kopf. Das erste Blut ließ den Zorn, das Verlangen zu töten, in seinem Innern heiß und durstig noch stärker aufbrodeln.

Er kämpfte gegen die Angreifer, und er kämpfte gegen den Drang, zum Gegenangriff überzugehen. Er wollte nicht selbst angreifen. Er wollte nur, daß sie aufhörten. Doch wenn sie nicht aufhörten…

Sobald er ihre Speere zerbrach, nahmen sie andere zur Hand und warfen sich erneut auf ihn. Er glitt zwischen ihnen hindurch wie ein Phantom, bewahrte sich seine Energie, während sie sich verausgabten.

Der äußere Ring, der ihn weiter umkreist hatte, während der innere bereits angriff, hielt inne und begann mit wirbelnden Schwertern vorzurükken. Diejenigen, die mit Speeren bewaffnet — und noch immer auf den Beinen — waren, traten durch den äußeren Ring nach hinten.

Schwerter wirbelten durch die Luft. Anstatt auf den Angriff der Baka Ban Mana zu warten, ging Richard auf sie los. Sie wichen überrascht zurück, als das Schwert der Wahrheit zwei der blinkenden Klingen zerschmetterte.

»Du Chaillu! Bitte! Ich will keinen von euch töten!«

Die Schwertfechter waren schneller als die Speerträger. Zu schnell. Zu sprechen und dabei gleichzeitig zu versuchen, sie zu entwaffnen, ohne sie zu töten, lenkte ihn gefährlich ab. Richard spürte, wie ihn ein heißer Schmerz über seine Rippen durchfuhr. Er hatte die Klinge nicht mal kommen sehen, trotzdem hatte er sich instinktiv bewegt und anstelle eines tödlichen Schnitts nur eine leichte Fleischwunde davongetragen.

Daß nun sein eigenes Blut vergossen wurde, rief die Magie des Schwertes zu seiner Verteidigung auf den Plan — der Zorn, das Können derer, die es vor ihm in den Händen gehalten hatten. Ihr Wesen brannte durch seinen Körper, er konnte es nicht mehr zurückhalten. Die Möglichkeit, sich zu entscheiden, war dahin. Es raubte ihm alle Beherrschung. Er hatte ihnen ihre Chance gegeben. Jetzt war der Punkt überschritten.

Bringer des Todes.

Die Schwertkämpfer griffen in einer tödlichen Welle an.

Er setzte die Magie frei. Das Zögern war vorbei. Die Schranken waren gefallen, jetzt tanzte er mit dem Tod.

Die Nacht explodierte in einem warmen Regen aus Blut. Er hörte sich kreischen, er spürte, daß er sich bewegte, er sah Männer und Frauen fallen, als körperlose Köpfe über den Boden rollten. Lustvolle Gier hatte von ihm Besitz ergriffen.

Keine Klinge berührte ihn mehr. Er konterte jeden Schlag, als hätte er ihn schon tausendmal gesehen, als hätte er schon immer gewußt, was zu tun war. Jeder Angriff bedeutete für den Angreifer einen schnellen und sicheren Tod. Knochensplitter und Blut schossen explosionsartig durch die Nachtluft. Hirnmasse überschwemmte den Boden. All das Grauen verschmolz zu einem einzigen, lange währenden Bild des Tötens.

Bringer des Todes.

Erst als zwei auf einmal aus entgegengesetzten Richtungen kamen, merkte er, daß er sein Messer in der Linken und sein Schwert in der Rechten hielt. Er schlang den Arm um den Hals des einen auf der Linken und schlitzte ihm die Kehle auf, während er gleichzeitig dem anderen auf der Rechten das Schwert durch den Körper rannte. Beide sackten zu Boden, während Richard keuchend stehen blieb.

Stille hallte ringsum wider. Nichts rührte sich bis auf eine kniende Frau, die sich mit einer Hand aufrecht hielt. Die andere Hand fehlte. Sie kam auf die Beine und zog ein Messer aus dem Gürtel.

Trotz seines finsteren Blicks erkannte er die Entschlossenheit in ihren Augen. Mit einem Schrei rannte sie auf ihn zu. Der Zorn pochte, als er sie kommen sah. Sie hob das Messer.

Richards Schwert schnellte hoch und pfählte sie mitten durchs Herz. Das ganze Gewicht ihres Körpers zog das Schwert nach unten, während sie von der Klinge zu Boden glitt und dabei gurgelnd ihren letzten Atem aushauchte.

Bringer des Todes.

Richard richtete seinen haßerfüllten Blick hinauf zu der Frau, die auf dem Felsen stand. Du Chaillu kletterte herunter, enthüllte ihren Kopf, ließ das lange Tuch herabhängen und fiel, sich verneigend, auf ein Knie.

Richard stürmte wutentbrannt auf sie zu. Er hob Du Chaillus Kinn mit der Schwertspitze an.

Mit ihren dunklen Augen starrte sie zu ihm auf. »Der Caharin ist gekommen.«

»Wer ist der Caharin

Du Chaillu sah ihm unerschrocken in die Augen. »Der, der mit den Seelen tanzt.«

»Der, der mit den Seelen tanzt«, wiederholte Richard ausdruckslos. Er hatte verstanden. Er hatte mit den Seelen derer getanzt, die das Schwert vor ihm in den Händen gehalten hatten. Er hatte den Tod auf den Plan gerufen und mit ihren Seelen getanzt. Fast hätte er laut aufgelacht.

»Ich werde dir niemals verzeihen, daß du mich gezwungen hast, diese Menschen zu töten, Du Chaillu. Ich habe dir das Leben gerettet, weil ich das Töten verabscheue, und du hast dafür gesorgt, daß das Blut von dreißig Menschen an meinen Händen klebt.«

»Es tut mir leid, Caharin, daß du diese Last auf dich nehmen mußt. Doch nur durch das Blut von dreißig Baka Ban Mana konnte das Töten beendet werden. Nur so können wir den Seelen dienen.«

»Wie kann man mit Morden den Seelen dienen?«

»Als die magischen Männer unser Land gestohlen haben, verbannten sie uns an diesen Ort. Sie haben uns die Pflicht auferlegt, dem Caharin zu zeigen, wie man mit den Seelen tanzt. Nur der Caharin kann verhindern, daß der Geist der Finsternis von der Welt der Lebenden Besitz ergreift. Der Caharin wird der Welt als Neugeborenes übergeben, das ausgebildet werden muß. Ein Teil dieser Pflicht wurde uns auferlegt — wir sollten ihm beibringen, wie man mit den Seelen tanzt. Du hast heute nacht doch etwas gelernt, oder nicht?«

Richard nickte grimmig.

»Ich bin die Hüterin der Gesetze unseres Volkes. Wir waren dazu berufen, dir dies beizubringen. Würden wir mißachten, was die Alten Worte uns vorschreiben, dann würde der Caharin nicht erfahren, was in ihm steckt und wäre gegen die Kräfte des Todes machtlos. Am Ende würde der Tod alle bekommen.

Die Majendie opfern uns, um uns immer an unsere Pflicht den Seelen gegenüber zu erinnern, und um uns daran zu erinnern, mit den Klingen zu üben. Die Hexen auf der anderen Seite unterstützen die Majendie, und so sind wir umzingelt, haben keine Fluchtmöglichkeit und keinen Ort, wohin wir können. Unter dieser ständigen Bedrohung lebend, können wir niemals unsere Pflicht vergessen.

Es wurde gesagt, der Caharin kündige seine Ankunft dadurch an, daß er mit den Seelen tanze und das Blut der Baka Ban Mana vergieße, ein Kunststück, das niemand anderes als der Erwählte mit Hilfe der Seelen vollbringen kann. Es heißt, wenn dies geschieht, dann fallen wir unter seine Herrschaft. Wir sind dann kein freies Volk mehr, sondern seinen Wünschen verpflichtet. Deinen Wünschen, Caharin.

In den Alten Worten heißt es, wenn die, die das Gebetskleid trägt, jedes Jahr in unser Land zurückkehrt, um unsere Gebete den Seelen zu übergeben, dann werden sie uns eines Jahres den Caharin schicken, und wenn wir dann unsere Pflicht erfüllen, wird er uns unser Land zurückgeben.«

Richard stand da wie in einem Traum und starrte die Frau wütend an. »Du hast mir heute nacht etwas sehr Wertvolles genommen, Du Chaillu.«

Sie erhob sich auf die Beine und richtete sich vor ihm auf. »Erzähl mir nichts von Opfern, Caharin. Meine fünf Ehemänner, die ich geliebt habe, die meine Kinder geliebt haben und die mich nicht mehr gesehen haben, seit ich gefangengenommen wurde, waren unter den dreißig, die du gerade getötet hast.«

Richard sank auf die Knie. Er hatte das Gefühl, als müßte er sich übergeben. »Du Chaillu, vergib mir für das, was ich heute nacht getan habe.«

Sie legte ihm sacht die Hand auf das geneigte Haupt. »Es war mir eine Ehre, die Seelenfrau unseres Volkes zu sein, als der Caharin kam, diejenige zu sein, die das Gebetskleid trägt und ihn zu seinem Volk führt. Jetzt mußt du deine Pflicht tun und uns das Land zurückgeben, wie es uns die Alten Worte erzählen.«

Richard hob den Kopf. »Und sagen die Alten Worte auch, wie ich das zustande bringen soll?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Nur, daß wir dir helfen sollen und daß du es schaffen wirst. Wir stehen dir zur Verfügung — du kannst uns befehligen.«

Richard spürte, wie ihm eine Träne über die Wange lief. »Dann befehle ich, daß das Töten aufhört. Du wirst tun, was ich bereits befohlen habe. Du wirst die Vogelpfeife dazu benutzen, Frieden mit den Majendie zu schließen. Gleichzeitig wirst du dein Versprechen erfüllen und jemandem den Befehl geben, uns zum Palast der Propheten zu bringen.«

Du Chaillu schnippte, ohne aufzusehen, mit den Fingern. Erst jetzt erkannte Richard alle die Menschen, die in den Schatten rings um die blutgetränkte Lichtung standen. Sie lagen auf den Knien und verneigten sich vor ihm. Auf ein Fingerschnippen von ihr sprangen mehrere von ihnen vor.

»Führt sie zu dem großen Haus aus Stein.«

Richard sah ihr in die dunklen Augen. »Du Chaillu, es tut mir leid, daß ich deine Ehemänner getötet habe. Ich habe dich angefleht, dem ein Ende zu machen, trotzdem, es tut mir so leid.«

Sie hatte den gleichen, zeitlosen Blick in ihren Augen, den er bereits in den Augen anderer gesehen hatte: Schwester Verna, Shota, der Hexenfrau, und Kahlan. Jetzt wußte er, daß es die Gabe war, die er hier sah. Die Andeutung eines Lächelns spielte über ihre Lippen. Er verstand nicht, wie sie in einem solchen Augenblick lächeln konnte.

»Sie haben tapferer gekämpft als je Baka Ban Man zuvor. Sie hatten die Ehre, den Caharin auszubilden. Sie haben ihr Leben für ihr Volk gegeben. Sie haben sich selbst alle Ehre gemacht und werden als Legenden weiterleben.«

Sie streckte die Hand aus und legte sie ihm auf die nackte Brust. Auf den Handabdruck. »Nun bist du mein Ehemann.«

Richard riß die Augen auf. »Was?«

Sie runzelte seltsam berührt die Stirn. »Ich trage das Gebetskleid. Ich bin die Seelenfrau unseres Volkes. Du bist der Caharin. So lautet das Alte Gesetz. Du bist mein Ehemann.«

Richard schüttelte den Kopf. »Nein, das bin ich nicht. Ich habe bereits…«

Er wollte sagen, daß er seine Liebe bereits gefunden hatte. Doch die Worte blieben ihm in der Kehle stecken. Kahlan hatte ihn fortgeschickt.

Sie zuckte mit den Achseln. »Es hätte schlimmer für dich kommen können. Die letzte, die das Gebetskleid trug, war alt und runzlig. Sie hatte keine Zähne mehr. Ich hoffe, daß ich dir wenigstens ein wenig Freude bereiten und eines Tages dein Herz erweichen kann, doch ich gehöre dem Caharin. Es steht weder dir noch mir zu, darüber zu entscheiden.«

»Doch, das tut es!« Er sah sich suchend um und hob sein Hemd auf. Als er es überstreifte, sah er Schwester Verna am Rand der Lichtung. Sie sah ihn an wie einen Käfer in einer Schachtel. Er wandte sich an Du Chaillu.

»Du hast eine Aufgabe zu erledigen. Du wirst sie erledigen. Das Töten ist beendet. Die Schwester und ich müssen zum Palast, damit ich diesen Halsring abgenommen bekommen kann.«

Du Chaillu beugte sich vor und gab ihm einen Kuß auf die Wange. »Bis ich dich wiedersehe, Richard, Sucher, Caharin und Ehemann.«

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