57

Unter den kraftlosen Strahlen der Sonne des späten Tages streute eine alte Frau Holzasche auf das Eis, das die weite Treppenflucht bedeckte. Kahlan ging vorbei, erleichtert, daß die alte Frau den Kopf nicht hob und in der Person in den schweren Kleidern und dem weißen Fellumhang, die einen Rucksack und einen Bogen bei sich trug, nicht die nach Aydindril zurückgekehrte Mutter Konfessor erkannte.

Sie war nicht in der Stimmung, an diesem Abend zum Anlaß einer Feier zu werden. Sie war erschöpft. Sie war bereits vor ihrer Heimkehr in den Palast den Hang zur Burg der Zauberer hinaufgeklettert, doch in der Burg war es eiskalt und dunkel wie der Tod. Die Schilde befanden sich an ihrem Platz. Ein Konfessor konnte zwar hinein, doch drinnen war niemand.

Zedd war nicht da.

Die Burg lag jetzt da, wie sie sie beim letzten Mal vor so vielen Monaten gesehen hatte, als sie aufgebrochen war, um den verschollenen großen Zauberer zu finden. Sie hatte ihn gefunden und ihm geholfen, der Bedrohung durch Darken Rahl ein Ende zu machen, doch jetzt brauchte sie den großen Zauberer ein weiteres Mal.

Seit ihrem Abschied von der galeanischen Armee vor fast einem Monat hatte sie den beschwerlichen Weg, nach Aydindril zu gelangen — und zu Zedd –, hinter sich gebracht. Tagelang hatten Unwetter gewütet. Pässe waren durch Wetter und Schnee unpassierbar geworden, hatten sie gezwungen, umzukehren und Umwege zu machen. Die Reise war ermüdend und voller Rückschläge gewesen, doch die Verzweiflung darüber, ihr Ziel erreicht, Zedd aber nicht gefunden zu haben, war niederschmetternd.

Kahlan hatte die Königsstraße gemieden und sich ihren Weg durch die Seitenstraßen gebahnt. In den Palästen längs der Königs-Straße waren Würdenträger, Personal und Gardetruppen jener Länder untergebracht, die in Aydindril vertreten waren. Die Könige und Königinnen und Herrscher jener Länder wohnten ebenfalls in ihren Palästen, wenn sie kamen, um sich an den Rat zu wenden. Die Paläste waren für alle Länder eine Frage des Stolzes, und von daher war jeder einzelne prachtvoll gestaltet, auch wenn sich keiner von ihnen auch nur annähernd mit dem Palast der Konfessoren messen konnte.

Kahlan hatte die Königsstraße gemieden, weil man sie dort erkennen würde, im Augenblick aber wollte sie nicht erkannt werden. Sie wollte nichts weiter als Zedd finden, und, wenn dies fehlschlug, mit dem Rat sprechen, also hielt sie auf den seitlichen Dienstbotentrakt in der Nähe der Küchen zu.

Chandalen wartete draußen im Wald. Er wollte nicht nach Aydindril. Die Größe der Stadt und die Menschenmassen machten ihm angst, auch wenn er dies abstritt und behauptete, unter freiem Himmel lediglich bequemer schlafen zu können. Kahlan konnte ihm keinen Vorwurf daraus ziehen. Nachdem sie so lange allein draußen in den Bergen gewesen war, wurde selbst sie auf dem Weg in die Stadt unsicher, und das, obwohl sie an diesem Ort aufgewachsen war und ihr die Straßen und die majestätischen Gebäude hier ebenso vertraut waren, wie Chandalen die Ebene rings um das Dorf der Schlammmenschen. Das Gedränge überall gab ihr wie nie zuvor ein Gefühl des Eingesperrtseins.

Nachdem er sie sicher in Aydindril abgeliefert hatte, zog es Chandalen zurück nach Hause zu seinem Volk. Sie konnte verstehen, wie sehr es ihn danach verlangte aufzubrechen, bat ihn aber, sich die Nacht über auszuruhen und sich am Morgen von ihr zu verabschieden.

Orsk ließ sie über Nacht bei Chandalen. Seine Gegenwart war aufreibend: sein eines Auge, das ihr überallhin folgte, seine Beflissenheit, ihr bei allem zu helfen, seine unerschütterliche Bereitschaft, auf das geringste Zeichen hin zu tun, was immer sie verlangte. Es war, als hätte man ständig einen Hund bei Fuß. Sie brauchte eine Nacht weit weg von alledem. Chandalen schien sie zu verstehen. Was sie mit Orsk machen sollte, wußte sie noch nicht.

Ein atemberaubender Schwall warmer Luft schlug ihr entgegen, als sie durch den Kücheneingang trat. Beim Geräusch der Tür wirbelte eine dürre Frau in einer blitzweißen Schürze zu ihr herum.

»Was willst du hier! Verschwinde, Bettlerin!«

Als die Frau ihren Holzlöffel in bedrohlicher Manier erhob, schob Kahlan die Kapuze ihres Umhangs zurück. Der Frau stockte der Atem. Kahlan lächelte.

»Fräulein Sanderholt. Ich freue mich so, Euch wiederzusehen.«

»Mutter Konfessor!« Die Frau fiel auf die Knie und faltete die Hände. »Oh, Mutter Konfessor, vergebt mir! Ich habe Euch nicht erkannt. Oh, den Seelen sei Dank, seid Ihr es wirklich?«

Kahlan zog die drahtige Frau auf die Füße. »Ich habe Euch so vermißt, Fräulein Sanderholt.« Kahlan breitete die Arme aus. »Nehmt Ihr mich in die Arme?«

Fräulein Sanderholt fiel Kahlan in die Arme. »Oh, Kind, es tut so gut, Euch wiederzusehen!« Sie löste sich, Tränen strömten ihr übers Gesicht. »Wir wußten nicht, was aus Euch geworden ist. Wir waren so besorgt. Ich dachte schon, ich sehe Euch nie wieder.«

»Es war eine lange und schwere Zeit. Ich kann Euch gar nicht sagen, wie gut es tut, Euer Gesicht wiederzusehen.«

Fräulein Sanderholt wollte Kahlan zu einem Seitentisch hinüberziehen. »Kommt. Ihr braucht eine Schale Suppe. Ich habe etwas auf dem Feuer, wenn die Spatzenhirne, deren Tun man wohl kaum als Kochen bezeichnen kann, sie nicht mit zuviel Pfeffer verdorben haben.«

Der lärmende, chaotische Haufen von Köchen und Küchenhilfen bekam die Worte mit, und jeder senkte den Kopf über seiner Arbeit. Das Klappern von Schneebesen und Löffeln in Schüsseln schwoll an. Männer nahmen Säcke auf und eilten davon. Bürsten schrubbten mit gesteigertem Eifer in den Töpfen. Butter zischte in heißen Pfannen, und plötzlich mußte nach dem Brot in den Öfen, dem Fleisch an den Spießen gesehen werden.

»Dafür habe ich im Augenblick keine Zeit, Fräulein Sanderholt.«

»Aber ich muß Euch einiges erzählen. Wichtige Dinge.«

»Ich weiß. Auch ich habe Euch einiges zu erzählen. Aber zuerst muß ich den Rat aufsuchen. Es ist dringend. Ich war lange unterwegs und bin erschöpft, aber ich muß den Rat aufsuchen, bevor ich mich ausruhe. Wir werden morgen miteinander sprechen.«

Fräulein Sanderholt mußte sie einfach noch einmal in die Arme schließen. »Natürlich, Kind. Ruht Euch nur aus. Wir werden morgen miteinander sprechen.«

Kahlan nahm den kürzesten Weg durch die gewaltige Halle, die für wichtige Zeremonien und Feierlichkeiten benutzt wurde. Feuer in den großen, prachtvollen, zu allen Seiten zwischen ausgekehlten Säulen plazierten Kaminen bewirkten, daß ihr eigener Schatten sie umkreiste, als sie den Boden aus grünem Schiefer überquerte. Der Saal war im Augenblick leer, und ihre Schritte hallten von oben aus dem fein gearbeiteten Zwischenrippengewölbe mit den wellenförmigen, weit geschwungenen Bögen wider. Ihr Vater hatte früher des öfteren Tausende von Walnüssen und Eicheln, die Soldaten darstellten, überall auf dem Boden dieses Raumes ausgelegt, um ihr Schlachttaktiken beizubringen.

Sie bog in die Halle am anderen Ende ein, zum Korridor, der zu den Ratskammern führte. In der privaten Galerie des Konfessors stützten Gruppen von vier glänzenden, schwarzen Marmorsäulen zu jeder Seite eine Folge mehrfarbiger Gewölbe. Am Ende, vor den Ratskammern, befand sich ein rundes, zwei Stockwerke hohes Pantheon, dem Gedenken der Heldinnen gewidmet: den Gründungsmüttern Konfessor. Deren Porträts, als Fresken zwischen sieben wuchtigen, bis zum Oberlicht aufragenden Säulen, waren doppelt lebensgroß.

Kahlan kam sich in der Gegenwart der sieben strengen Gesichter, die dem Raum zu überwachen schienen, immer vor, als hätte sie sich dieses Amt erschlichen. Sie schienen zu sagen: »Und wer bist du, Kahlan Amnell, daß du dich für die Mutter Konfessor hältst?« Daß sie die Geschichte dieser Heldinnen kannte, unterstrich noch ihr Gefühl der Unzulänglichkeit.

Beide Messingklinken packend, warf sie die hohen Mahagonitüren auf und betrat forschen Schritts die Ratskammer.

Eine riesige Kuppel überspannte den gewaltigen Raum. Am hinteren Ende war das Hauptgewölbe mit einem Zierfresko geschmückt, das den Ruhm der Magda Searus feierte, der ersten Mutter Konfessor. Ihre Finger lagen auf dem Handrücken ihres Zauberers Meritt, der sein Leben geopfert hatte, um sie zu beschützen. Auf ewig in dem farbenfrohen Fresko vereint, überwachten die beiden jetzt gemeinsam die Mütter Konfessor, die ihnen nachfolgten und auf dem Obersten Sitz saßen — sowie deren Zauberer.

Zwischen den kolossalen Kapitellen der Säulen, die sich rings um den Saal in die Höhe reckten, begrenzten wellenförmig geschwungene, polierte Mahagonigeländer Balkone, die einen Ausblick auf den eleganten Saal boten. Die bogenförmigen, rund um den Saal in bestimmten Abständen verteilten Öffnungen, die bis an die Balkone heranreichten, waren mit Stuckreliefs heroischer Szenen dekoriert. Dahinter gab es Fenster, von denen aus man in die Innenhöfe blickte. Runde Fenster entlang des unteren Kuppelrandes ließen zusätzliches Licht in den prachtvollen Raum. Am hinteren Ende befand sich das halbkreisförmige Podium, auf dem die Räte hinter einem reich verzierten Schreibtisch saßen. Der opulente Oberste Sitz in der Mitte war der höchste.

Um den Obersten Sitz hatte sich eine dicht gedrängte Gruppe von Männern versammelt. Ihrer Zahl nach zu schließen war ungefähr die Hälfte des Rates anwesend. Als sie energisch die langen Streifen aus Sonnenlicht auf dem gemusterten Marmorboden durchschritt, folgten ihr die ersten Blicke.

Auf dem Obersten Sitz saß jemand. Auch wenn man die Strafe in letzter Zeit nicht vollstreckt hatte, es galt als Kapitalverbrechen, wenn ein Ratsmitglied den Obersten Sitz einnahm, da dies dem Ausrufen einer Revolution gleichkam. Das Gespräch verstummte, als sie sich näherte.

Es war der Hohe Prinz Fyren von Kelton, der den Sitz eingenommen hatte. Seine Füße lagen auf dem Schreibtisch, und er nahm sie auch nicht herunter, als er sie kommen sah. Er hielt den Blick auf sie gerichtet, lauschte jedoch einem Mann mit glattgestrichenem Haar und graudurchsetztem Bart, der sich tuschelnd über ihn beugte. Der Mann hatte die Hände in die gegenüberliegenden Ärmel seiner schlichten Robe gesteckt. Seltsam, dachte sie, daß ein Berater sich kleidet wie ein Zauberer.

Prinz Fyren zog erfreut die Brauen hoch. »Mutter Konfessor!« Mit übertriebener Umsicht nahm er seine Stiefel vom Schreibtisch und erhob sich. Er stützte seine Hände auf, beugte sich über den Tisch und sah hinunter. »Wie schön, Euch zu sehen!«

Früher hatte Kahlan immer einen Zauberer bei sich gehabt, jetzt hatte sie keinen. Keinerlei Schutz. Sie konnte es sich nicht leisten, zaghaft oder verletzlich zu wirken.

Wütend sah sie zu Prinz Fyren hoch. »Wenn ich Euch noch ein einziges Mal auf dem Platz der Mutter Konfessor erwische, werde ich Euch töten.«

Er richtete sich mit einem affektierten Grinsen auf. »Ihr würdet Eure Kraft gegen ein Ratsmitglied einsetzen?«

»Wenn es sein muß, werde ich Euch die Kehle mit einem Messer aufschlitzen.«

Der Mann im schlichten Gewand beobachtete sie aus unbeweglichen, dunklen Augen. Die anderen Räte wurden blaß.

Prinz Fyren öffnete seine dunkelblaue Jacke und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Mutter Konfessor, ich hatte nicht die Absicht, Euch zu beleidigen. Ihr wart lange fort. Wir dachten alle, Ihr wärt tot. Im Palast hat es keinen Konfessor gegeben seit … wie lange ist das her?« Er sah einige der anderen Männer an. »Seit vier, fünf, sechs Monaten?« Die eine Hand noch immer an der Hüfte, streckte er die andere aus und machte eine Verbeugung. »Ich wollte Euch nicht beleidigen, Mutter Konfessor. Selbstverständlich bekommt Ihr Euren Sitz zurück.«

Kahlan musterte die übrigen Männer. »Es ist spät. Der Rat wird morgen früh als allererstes zu einer Sitzung zusammenkommen. Alle Räte werden anwesend sein. Die Midlands befinden sich im Kriegszustand.«

Prinz Fyren runzelte die Stirn. »Im Krieg? Auf wessen Befugnis hin? Eine solch schwerwiegende Angelegenheit wurde hier nicht diskutiert.«

Kahlan ließ den Blick über die Räte schweifen, bis er schließlich auf Prinz Fyren zur Ruhe kam. »Auf meine Befugnis als Mutter Konfessor hin.« Unter den Männern machte sich Gemurmel breit. Prinz Fyrens Blick wich keine Sekunde von ihren Augen. Indem sie den tuschelnden Männern einen zornerfüllten Blick zuwarf, sprudelte es aus ihr heraus. »Ich will jedes Ratsmitglied hier sehen, gleich als erstes morgen früh. Für jetzt seid Ihr entlassen, meine Herren.«

Kahlan machte auf dem Absatz kehrt und marschierte hinaus. Sie erkannte keine der Wachen wieder, die sie überall im Palast erblickte, aber das war auch nicht zu erwarten. Zedd hatte ihr bereits erzählt, daß die meisten der Palastwache getötet worden waren, als Aydindril an D’Hara gefallen war. Sie vermißte die alten Gesichter.

Der Mittelpunkt des Konfessorenpalastes in Aydindril wurde von einer monumentalen, achtfach verzweigten Treppe beherrscht, die vier Stockwerke weiter oben vom Tageslicht erhellt wurde, das durch ein Glasdach fiel. Das riesige Geviert war auf halber Höhe von Arkadengängen umgeben, deren überwölbte Öffnungen von polierten Säulen aus wild gemasertem, goldenem und grünem Marmor getrennt wurden. Diese standen auf quadratischen Säulenplatten, die mit jeweils einem Medaillon eines früheren Herrschers der Midlands verziert waren. Die Hunderte und Aberhunderte von glänzenden, bauchigen Treppensäulen waren aus einem sanftgelben Stein gedrechselt, der von innen heraus zu leuchten schien. Die quadratischen Endpfosten waren fast so hoch wie sie, und jeder wurde von einer mit Blattgold überzogenen Lampe gekrönt. Überladene Steinschnitzereien füllten weite Flächen unterhalb komplexer Zackenbänder, die als infulierte Streifen über den oberen Rand der Kapitelle liefen. Der zentrale Treppenabsatz trug Statuen von acht Müttern Konfessor. Kahlan hatte bescheidene Paläste gesehen, die in dieses Treppenhaus hineinpassen würden.

Vierzig Jahre hatte es gedauert, die monumentale Treppe und den Raum, der sie beherbergte, zu errichten. Die Kosten waren gänzlich von Kelton übernommen worden, als teilweise Entschädigung für dessen Widerstand gegen die Vereinigung aller Länder zu den Midlands und für den Krieg, der sich daraus entwickelt hatte. Gleichzeitig hatte man verfügt, kein Herrscher Keltons dürfe je mit einem Medaillon am Fuß der Säulen geehrt werden. Die Treppe war den Völkern der Midlands gewidmet und sollte diese ehren, nicht jene, deren Strafe es war, sie zu erbauen. Kelton war mittlerweile ein mächtiges, gutangesehenes Land der Midlands, und Kahlan fand es dumm, ein Volk weiterhin für etwas zu bestrafen, was seine Vorfahren vor Jahrhunderten verbrochen hatten.

Als sie den zentralen Treppenabsatz erreichte und die zweite Treppenflucht hinauf zu ihrem Zimmer ging, sah sie eine Phalanx von Bediensteten, die am oberen Treppenrand warteten. Sie alle verneigten sich wie ein Mann, als Kahlans Blick sie traf. Sie fand es absurd — an die dreißig glänzende, gekämmte und herausgeputzte Menschen in sauberen, flotten Uniformen, die sich allesamt vor einer verdreckten Frau in Wolfsfellen und mit einem Bogen und schwerem Gepäck verneigten. Dies konnte jedenfalls nur eins bedeuten: Die Kunde ihres Eintreffens hatte sich mittlerweile im gesamten Palast herumgesprochen. Vermutlich gab es selbst im entferntesten Gewächshaus keinen Gärtner mehr, der nicht längst wußte, daß die Mutter Konfessor wieder zu Hause war.

»Erhebt euch, meine Kinder«, sagte Kahlan, oben auf der Treppe angekommen. Sie wichen zurück, um ihr Platz zu machen.

Und dann ging es los. Möchte die Mutter Konfessor ein Bad, möchte die Mutter Konfessor eine Massage, möchte die Mutter Konfessor ihr Haar gewaschen und gebürstet bekommen, möchte die Mutter ihre Nägel poliert bekommen, möchte die Mutter Konfessor vielleicht Antragsteller hören, möchte die Mutter Konfessor irgendwelche Ratgeber sehen, möchte sie Briefe geschrieben bekommen, möchte die Mutter Konfessor dies, verlangt es ihr nach jenem. Eine ganze Liste von Dingen wurde aufgezählt.

Kahlan wandte sich an das oberste Dienstmädchen. »Bernadette, ich hätte gern ein Bad. Sonst nichts. Nur ein Bad.«

Zwei Frauen eilten davon, sich um das Bad zu kümmern.

Bernadettes Blick wanderte unfreiwillig an Kahlans Aufzug hinab. »Möchte die Mutter Konfessor vielleicht, daß Ihre Kleider geflickt oder gereinigt werden?«

Kahlan mußte an das blaue Kleid in ihrem Rucksack denken. »Ich habe ein paar Dinge, die wohl gereinigt werden müssen.« Sie dachte an all ihre übrigen Kleidungsstücke, von denen die meisten mit Blut durchtränkt waren. »Ich glaube, ich habe eine Menge Dinge, die gewaschen werden müssen.«

»Ja, Mutter Konfessor. Möchtet Ihr, daß ich Euch Euer weißes Kleid für heute abend bereitlege?«

»Heute abend?«

Bernadette errötete. »Man hat bereits Läufer zur Königsstraße ausgesandt, Mutter Konfessor. Jeder wird die Mutter Konfessor daheim willkommen heißen wollen.«

Kahlan stöhnte. Sie war todmüde. Sie wollte niemanden empfangen, nur um irgendwelchen Frauen zu erzählen, wie wundervoll ihr hochgestecktes und verziertes Haar aussah, oder Männern, wie elegant sie den Schnitt ihrer Jacken fand, oder um geduldig irgendwelchen Gesuchen zu lauschen, die unweigerlich auf die Verteilung von Geldern hinausliefen und die stets zu beweisen suchten, daß der Bittsteller keinesfalls den eigenen Vorteil suchte, sondern nichts weiter als die Befreiung aus einer Notlage, in die er schuldlos geraten war.

Bernadette sah sie tadelnd an, wie sie es getan hatte, als Kahlan noch klein gewesen war, so als wolle sie sagen: »Jetzt hör mal zu, junges Fräulein, du hast Pflichten, und ich erwarte keinen Ärger damit.«

Was sie jedoch sagte, war: »Alle waren voller Sorge über das lange Ausbleiben der Mutter Konfessor. Es würde ihnen das Herz erleichtern, wenn sie sähen, daß Ihr gesund und wohlauf seid.«

Kahlan bezweifelte das. Was Bernadette tatsächlich meinte, war: Es wäre gut für Kahlan, wenn sie die Menschen daran erinnerte, daß die Mutter Konfessor noch lebte und die Fäden in den Händen hielt. »Natürlich, Bernadette. Danke, daß Ihr mich erinnert habt, daß die Menschen mich in ihren Herzen bewahrt und sich um mich gesorgt haben.«

Bernadette lächelte. »Ich denke, dafür seid ihr doch zu klug, Mutter Konfessor.« Sie wischte sich einen unsichtbaren Flecken vom Handrücken. »Mutter Konfessor … habt Ihr einen der anderen Konfessoren mit zurückgebracht? Wird von den anderen bald jemand zurückkommen?«

Kahlan setzte übergangslos ihre Konfessorenmiene auf, so wie ihre Mutter es ihr beigebracht hatte. »Tut mir leid, Bernadette, ich dachte, Ihr wüßtet Bescheid. Sie sind alle tot. Ich bin der letzte lebende Konfessor.«

Bernadettes Augen füllten sich mit Tränen, während sie leise ein Gebet sprach. »Mögen die guten Seelen immer mit ihnen sein.«

»Warum sollten sie jetzt damit beginnen?« meinte Kahlan knapp. »Als Dennee von dem Quadron geschnappt wurde, haben sie sich diese Mühe auch nicht gemacht.«

Die Feuer in ihren Gemächern brannten alle lichterloh, so wie Kahlan es vorhergesehen hatte, und so wie sie es jeden Tag während ihrer Abwesenheit getan hatten, Monat für Monat. Man ließ die Feuer in den Gemächern der Mutter Konfessor im Winter niemals ausgehen, für den Fall, daß sie zurückkehrte. Auf einem Tisch stand ein silbernes Tablett mit einem frischen Laib Brot, einer Kanne Tee und einer Schale dampfender Gewürzsuppe. Fräulein Sanderholt wußte, was Kahlan am liebsten aß.

Bei Gewürzsuppe mußte Kahlan an Richard denken. Sie erinnerte sich, daß sie sie für ihn gekocht hatte, und er für sie.

Nachdem sie ihren Rucksack und Bogen hatte fallen lassen, schritt Kahlan über die edlen Teppiche und ging ins Nachbarzimmer. Dort blieb sie stehen, strich gedankenverloren mit den Fingern über einen der prächtigen, polierten Pfosten am Fußende ihres Bettes, starrte vor sich hin und dachte daran, daß sie eigentlich mit Richard hätte hier sein sollen. Am Tage ihrer Ankunft in Aydindril hätten sie bereits verheiratet sein sollen. Sie hatte ihm dieses große Bett versprochen.

Kahlan mußte daran denken, welche Freude sie an jenem Tag in ihrem Herzen gespürt hatte, als sie über ihre Trauung und über ihre Rückkehr nach Aydindril als Mann und Frau gesprochen hatten. Da spürte sie, wie ihr eine Träne über die Wange lief. Sie holte tief Luft, um den Schmerz zu unterdrücken, der glühend ihre Brust durchbohrte, und wischte die Träne mit den Fingerspitzen fort.

Kahlan trat an die verglasten Türen, öffnete sie und trat hinaus auf den weiten Balkon. Sie legte ihre zitternden Finger auf das breite, eiskalte Geländer, stand in der kalten Luft und blickte den Hang hinauf zur Burg der Zauberer, zu ihren düsteren Steinmauern, die in den letzten goldenen Strahlen des Sonnenuntergangs aufleuchteten.

»Wo bist du nur, Zedd?« sagte sie leise. »Ich brauche dich.«


Er fuhr mit einem Keuchen aus dem Schlaf hoch, glitt aus und stieß sich den Kopf. Blinzelnd setzte er sich auf. Ihm gegenüber saß, in eine Ecke gekauert, eine alte Frau mit glattem, schwarzem und weißem, kinnlangem Haar. Die beiden befanden sich im Innern einer Kutsche. Das Gefährt schwankte unvermittelt, so daß er zur anderen Seite hinüberrutschte.

»Wer bist du?« fragte er.

»Und wer bist du?« fragte sie prompt zurück.

»Ich habe zuerst gefragt.«

»Ich…« Sie raffte ihren Umhang um das elegante grüne Kleid zusammen. »Ich weiß nicht, wer ich bin. Und wer bist du?«

Er hob den Zeigefinger. »Ich bin … ich bin…« Er stieß einen schwachen Seufzer aus. »Ich fürchte, ich weiß auch nicht, wer ich bin. Erkennst du mich nicht wieder?«

Sie raffte ihren Umhang noch ein wenig enger um sich. »Ich weiß es nicht. Ich bin blind. Ich kann nicht erkennen, wie du aussiehst.«

»Blind. Oh. Das tut mir leid.«

Er rieb sich die Stelle, wo er sich den Kopf an der Kutschenwand gestoßen hatte. Derweil blickte er an sich hinab und stellte fest, wie elegant er gekleidet war: ein kastanienbraunes Gewand mit schwarzen Ärmeln, das mit drei Reihen Silberbrokat besetzt war. Wenigstens, dachte er, scheine ich nicht arm zu sein.

Er hob einen schwarzen Stock vom Boden auf und betrachtete die feine Silberarbeit. Dann drehte er sich um und stieß ihn an die Decke, in die Richtung, wo ganz vorn der Fahrer sitzen mußte. Die alte Frau fuhr vor Schreck hoch.

»Was soll denn dieser Lärm!«

»Entschuldigung. Ich habe nur versucht, den Kutscher auf uns aufmerksam zu machen.«

Offenbar hatte der Kutscher ihn gehört. Die Kutsche kam rutschend zum Stehen und schaukelte leicht, als jemand vom Kutschbock kletterte.

Als die Tür aufgerissen wurde und er den riesigen Kerl in der langen Jacke sah, der sein wettergegerbtes Gesicht ins Wageninnere schob, riß er seinen Stock an sich und wich zurück.

»Wer bist du?« fragte er, den Stock bedrohlich schwingend.

»Ich? Ich bin bloß ein großer Narr«, knurrte der große Mann. Sein tief zerfurchtes Gesicht entspannte sich zu einem schwachen Lächeln. »Ich heiße Ahern.«

»Also schön, Ahern, und was tust du hier mit uns? Hast du uns entführt? Werden wir festgehalten, weil man ein Lösegeld erpressen will?«

Ahern lachte in sich hinein. »Eher umgekehrt, würde ich sagen.«

»Wie meinst du das? Wie lange haben wir geschlafen? Und wer sind wir?«

Ahern blickte in den Himmel. »Bei den Seelen, wie gerate ich nur immer wieder in so etwas hinein?« Er stieß einen Seufzer aus. »Ihr beide habt seit gestern spät am Abend geschlafen. Ihr habt die letzte Nacht durchgeschlafen und den ganzen heutigen Tag. Du bist Ruben. Ruben Rybnik.«

»Ruben?« räusperte er sich gewichtig. »Ruben. Nun, das ist ein wohlklingender Name.«

»Und wer bin ich?« erkundigte sich die Frau.

»Du bist Elda Rybnik.«

»Sie heißt auch Rybnik?« fragte Ruben. »Sind wir miteinander verwandt?«

Ahern zögerte. »Ja und nein. Ihr zwei seid Mann und Frau. Gewissermaßen.«

Ruben beugte sich zu dem großen Mann vor. »Ich finde, das bedarf der Erklärung.«

Ahern stieß einen Seufzer aus und nickte. »Dein Name lautet Ruben und ihrer Elda. Aber das sind nicht eure richtigen Namen. Ihr habt mir erklärt, im Augenblick wäre es besser, wenn ich euch eure richtigen Namen nicht verrate.«

»Du hast uns entführt! Du hast uns eins übergezogen und dann verschwinden lassen!«

»So beruhige dich doch. Ich werde dir alles erklären.«

»Dann fang schon an, bevor ich dir mit meinem Stock eine Tracht Prügel verpasse!«

»Das lohnt nicht«, murmelte Ahern wie zu sich selbst. »Wie bin ich nur hier reingeraten? Gold, das war’s«, beantwortete er sich die Frage selbst.

Ahern schob sich in die Kutsche und setzte sich neben Ruben. Die Tür zog er wegen des Schneegestöbers draußen zu.

»Recht so, mach es dir nur bequem«, meinte Ruben.

Ahern räusperte sich. »Also schön, jetzt hört zu, ihr zwei. Ihr wart beide krank. Ihr habt euch von mir zu drei Frauen bringen lassen.« Er beugte sich näher zu Ruben heran und runzelte die Stirn. »Drei Magierinnen.«

»Magierinnen!« japste Ruben. »Kein Wunder, daß wir nicht wissen, wer wir sind! Du hast uns zu diesen Hexen gebracht und verzaubern lassen.«

Ahern legte ihm beschwichtigend die Hand auf den Arm. »Sei still und hör zu. Du bist Zauberer.« Ruben glotzte Ahern an. Ahern wandte sich an Elda. »Und du bist eine Magierin.«

Ruben fuchtelte wild mit den Armen. »Nein, das ist nicht wahr«, fauchte er schließlich, »sonst hättest du dich längst in eine Kröte verwandelt.«

Ahern schüttelte knurrend den Kopf. »Du hast deine Kraft verloren.«

»Hm, wie?« fragte Ruben und richtete sich auf. »War ich ein begabter Zauberer?«

»Du warst gut genug, um mir deine verfluchten Finger an die Schläfen zu legen und mich zu überreden, dir zu helfen. Du meintest, manchmal müßten Zauberer Menschen benutzen, damit sie tun, was getan werden muß. Die Bürde des Zauberers, hast du es genannt. Du hast behauptet, ich hätte dir ohnehin geholfen und du hättest nur deshalb an meine ›Anständigkeit‹ appelliert, damit ich nicht so lange nachzudenken brauchte. Wie auch immer, das und mehr Gold, als ich je zuvor auf einem Haufen gesehen habe, haben mich überzeugt, etwas zu tun, auf das ich mich eigentlich nicht hätte einlassen dürfen. Mit Zauberern und Magie will ich wirklich nichts zu schaffen haben.«

»Und ich bin eine Magierin?« fragte Elda. »Eine blinde Magierin?«

»Nun, eigentlich nicht. Du warst zwar blind, konntest mit Hilfe deiner Gabe aber sehen — besser als ich mit meinen Augen.«

»Und wieso bin ich dann jetzt blind?«

»Ihr wart beide krank. Ihr wart an irgendeiner Art böser Magie erkrankt. Die drei Magierinnen waren bereit, euch zu helfen, doch um euch zu heilen, mußten sie … nun, sie mußten euch beiden etwas geben, wodurch eure magischen Kräfte, eure Gabe, verschwand. Ihr habt mich draußen warten lassen, daher weiß ich nicht, was sie gemacht haben. Ich weiß nur, was ihr mir erzählt habt, bevor ihr zum letzten Mal hineingegangen seid, um euch behandeln zu lassen.«

Ruben beugte sich nach vorn. »Das hast du dir ausgedacht.«

Ahern achtete nicht auf ihn und fuhr fort. »Die Krankheit, die ihr beide hattet, hat sich von eurer guten Magie ernährt. Ich weiß nicht, wie Magie funktioniert, und bei den Seelen, ich will es auch gar nicht wissen. Ich weiß nur, was ihr mir erzählt habt. Was ihr mir erklärt habt, als ihr herausgekommen seid, um mich zu überreden, euch zu helfen. Ihr habt gesagt, um euch zu helfen, müßten die drei Magierinnen euch etwas geben, damit eure Magie verschwindet. Nur so konntet ihr beide wieder gesund werden. Die böse Magie kann erst dann verdorren und absterben, eure Wunden können erst dann verheilen, wenn sie keine gute Magie mehr hat, von der sie sich ernähren kann.«

»Jetzt haben wir also keine magischen Kräfte mehr?«

»Also, ich weiß nicht, wie das alles funktioniert, aber so wie ich es verstehe, kann man seine Magie nicht wirklich verlieren. Die drei Frauen haben folgendes getan: Sie haben dafür gesorgt, daß ihr alles über euch Vergeßt, damit ihr nicht mehr wißt, daß ihr Magie besitzt, damit auch die böse Magie nichts mehr davon weiß. Deswegen wißt ihr beide weder wer ihr seid noch wie man Magie benutzt. Aus diesem Grund ist Elda auch blind.«

Ruben kniff die Augen zusammen. »Warum sollten uns die Magierinnen helfen wollen?«

»Hauptsächlich wegen Elda. Sie meinten, sie sei eine Legende bei den Magierinnen aus Nicobarese. Wegen irgendeiner Geschichte, als sie noch jünger war und hier gelebt hat.«

Ruben starrte den großen Mann an. »Es muß einfach stimmen.« Er drehte sich zu Elda um. »Es muß einfach stimmen. Kein Mensch könnte sich eine solch absurde Geschichte ausdenken. Was meinst du?«

»Ich bin der gleichen Meinung wie du. Ich denke, er erzählt uns die Wahrheit.«

»Gut«, sagte Ahern. »Jetzt kommt der Teil, der euch nicht gefallen wird.«

»Was wird aus unserer Magie? Wann kommt sie zurück? Wann erinnern wir uns wieder, wer wir sind?«

Ahern fuhr sich mit seinen fleischigen Fingern durch das struppige, graue Haar. »Genau das ist der Teil, der euch nicht gefallen wird. Die drei Frauen hatten Zweifel, ob ihr sie je zurückbekommen werdet. Vielleicht erinnert ihr euch nie mehr an sie. Womöglich habt ihr eure Magie für immer verloren.«

Unbehagliche Stille machte sich in der Kutsche breit. Schließlich sprach Ruben. »Warum sollten wir uns auf so etwas einlassen?«

Ahern spielte verlegen mit den Fingern. »Weil ihr keine Wahl hattet. Ihr wart beide krank. Sehr krank, Elda noch mehr als du. Sie wäre mittlerweile gestorben, und du wärst morgen, spätestens übermorgen damit drangewesen. Ihr hattet keine Wahl. Es war die einzige Möglichkeit.«

Ruben verschränkte die Hände über dem silbernen Knauf seines Stocks. »Nun, wenn es so war, mußten wir es tun. Wenn wir uns nicht erinnern, werden wir eben lernen müssen, Ruben und Elda zu sein und ein neues Leben anzufangen.«

Ahern schüttelte den Kopf. »Es gibt da noch einen Haken bei der Sache. Du hast mir erzählt, die drei Frauen hätten gesagt, wenn die böse Magie euch schließlich verlassen hätte, dann könntet ihr vielleicht euer Gedächtnis und eure Magie zurückbekommen. Du meintest, es sei ungeheuer wichtig, daß du sie zurückbekommst. Es gäbe gewaltige Schwierigkeiten in der Welt, um die du dich kümmern müßtest. Dies sei für jeden Lebenden von schwerwiegender Bedeutung. Du meintest, es gäbe da etwas, das du unbedingt erledigen müßtest.«

»Was für Schwierigkeiten? Was muß ich unbedingt erledigen?«

»Das hast du mir nicht verraten. Angeblich würde ich es nicht verstehen.«

»Schön, und wie bekommen wir nun unsere Erinnerung und unsere Magie zurück?«

Ahern sah die beiden nacheinander an. »Vielleicht kommt sie gar nicht zurück. Die drei Frauen wußten nicht, ob sie je wiederkommen würde, doch wenn, dann nur durch einen Schock. Durch eine große Gefühlserschütterung oder einen Schock.«

»Durch einen gefühlsmäßigen Schock? Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel durch Ärger. Vielleicht, wenn du dich ausreichend ärgerst.«

Ruben runzelte die Stirn. »Und … weiter? Sollst du mich ohrfeigen, damit ich wütend werde?«

»Nein. Du hast gesagt, du wüßtest zwar nicht wieso, aber etwas Derartiges werde nicht funktionieren. Du hast auch gesagt, wenn tatsächlich irgend etwas diesen Zorn auslösen sollte, dann wäre er, wegen der Magie, grausam und fürchterlich. Du hast gesagt, du hättest trotzdem keine Wahl, denn du würdest sterben, wenn du es nicht tätest.«

Ruben und Elda saßen schweigend da und dachten nach, während Ahern sie beobachtete. »Wo bringst du uns nun also hin? Wieso sitzen wir in dieser Kutsche?«

»Nach Aydindril.«

»Aydindril? Nie davon gehört. Wo liegt das? Wie weit ist es?«

»Aydindril ist der Sitz der Konfessoren, drüben auf der anderen Seite des Rang’Shada-Gebirges. Die Reise dahin ist lang: mehrere Wochen, vielleicht einen Monat. Wir werden wohl erst kurz vor der Wintersonnenwende, der längsten Nacht des Jahres, dort sein.«

»Scheint ein ziemlich weiter Weg zu sein. Warum bringst du uns dorthin?«

»Du hast gesagt, du müßtest in die Burg der Zauberer. Du hast gemeint, man käme dort nur mit Magie hinein, doch jetzt hast du keine Magie, also hast du mir erzählt, wie ich dich hineinbringen kann. Offenbar warst du als Kind ein Lausebengel und hattest einen Geheimgang, durch den du in die Burg hinein und herausschleichen konntest, ohne die Magie auszulösen.«

Ruben rieb sich mit Daumen und Zeigefinger das glattrasierte Kinn. »Und du sagst, ich hätte behauptet, es sei eilig?«

Ahern nickte grimmig.

»Dann brechen wir wohl am besten auf.«


Kahlan hatte schon den ganzen Abend Menschen angelächelt und lächelte nun auch die Frau in dem feinen, blauen Gewand vor ihr an. Die Frau berichtete, wie besorgt alle um die Mutter Konfessor gewesen seien. Ihre Verlogenheit war ebenso durchschaubar wie die Heuchelei all der anderen. Kahlan hatte ihr ganzes Leben damit zugebracht, doppelzüngigen Menschen zuzuhören, wie sie ihr habsüchtiges Wesen hinter selbstlosen und freundschaftlichen Worten zu verbergen suchten.

Kahlan wünschte sich, daß nur ein einziges Mal einer dieser Menschen, mit denen sie lebte und zusammenarbeitete, die Ehrlichkeit besäße zuzugeben, wie sehr sie sie haßten und wie wütend sie waren, weil sie ihnen nicht gestattete, die Midlands und ihre Bevölkerung zu ihrem eigenen Wohl zu unterjochen. Nun ja, nicht alle waren so, ermahnte sie sich.

Während sie mit halbem Ohr zuhörte, überlegte Kahlan, was diese ehrbare Gattin eines Botschafters wohl denken würde, wenn nicht die Mutter Konfessor in ihrem strahlend weißen Kleid und mit einem mächtigen Juwelenhalsband im Werte ihres halben Königreiches vor ihr stünde, sondern wenn sie statt dessen Kahlan auf einem Pferd sehen würde, nackt, mit weißer Farbe beschmiert und blutüberströmt, während sie mit einem Schwert auf die Gesichter der Männer eindrosch, die versuchten, sie umzubringen. Wahrscheinlich würde sie in Ohnmacht fallen, überlegte Kahlan.

Als die Frau endlich Luft holte, bedankte Kahlan sich für ihre Sorge und ging weiter. Es war spät, und sie war müde. Sie hatte morgen früh ein Treffen mit dem Rat. Als sie an einem Spiegel vorüberging und sich selbst betrachtete, kam es Kahlan so vor, als hätte sie sehr lange Zeit geträumt und wäre genauso aufgewacht wie früher, als Mutter Konfessor, in ihrem weißen Konfessorenkleid, im Palast der Konfessoren in Aydindril.

Doch sie war nicht mehr dieselbe wie bei ihrem letzten Aufenthalt. Sie fühlte sich um hundert Jahre gealtert. Sie mußte lächeln. Wenigstens war das Bad herrlich gewesen. Sie konnte sich nicht erinnern, ein Bad je als solchen Luxus empfunden zu haben. Sie hatte fast vergessen, wie es war, sich sauber zu fühlen.

In der Nähe der Tür trat eine weitere elegant gekleidete Dame an sie heran. Ein leises Runzeln zuckte über Kahlans Stirn. Das sandfarbene Haar der Frau erschien ihr zu kurz — es paßte nicht zum Haarstil der anderen Frauen, die es bis auf die Schultern trugen. Ihr Kleid jedoch paßte. Es war ein kostbar aussehendes Abendkleid, das ihre Schultern freigab und die funkelnde Smaragdhalskette zur Geltung brachte.

Die Frau versperrte Kahlan den Weg durch die Tür. Sie machte hastig einen Knicks. Ihre blauen Augen fuhren unruhig umher.

»Mutter Konfessor, ich muß Euch sprechen. Es ist dringend.«

»Tut mir leid, aber ich fürchte, ich kann mich nicht an Euch erinnern.«

Die Frau hob kein einziges Mal den Kopf. Ständig hielt sie mit ihren blauen Augen Ausschau nach den anderen Leuten. »Wir sind uns noch nie begegnet. Wir haben einen gemeinsamen Freund…«

Als sie eine ältere Frau mit säuerlicher Miene entdeckte, die in ihre Richtung blickte, drehte sie ihr den Rücken zu.

»Mutter Konfessor, seid Ihr allein nach Aydindril gekommen, oder habt Ihr jemanden mitgebracht?«

»Ein Freund, Chandalen, hat mich begleitet, doch er befindet sich im Wald südlich der Stadt. Warum?«

»Das ist nicht der Name, den ich zu hören gehofft hatte.« Sie hob den Kopf und sah Kahlan in die Augen. »Ihr müßt…«

Ihre Worte verklangen. Ihre durchdringenden blauen Augen wurden noch größer. Sie stand da, als wäre sie zu Stein erstarrt.

»Was ist?« fragte Kahlan.

Die Frau schien Gespenster zu sehen. »Ihr … Ihr…«

Die Farbe war ihr erschreckend schnell aus dem Gesicht gewichen. Die Frau taumelte einen Schritt zurück. Durch die plötzliche Blässe ihrer Schultern wirkte sie im Kontrast zum dunklen Stoff ihres Kleides wie ein Geist in Abendgala. Ihr Kinn zitterte, während sie erfolglos versuchte, etwas hervorzubringen. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Entsetzens.

Ihre blauen Augen verdrehten sich nach oben. Zu spät versuchte Kahlan, sie zu halten. Die Frau sackte in sich zusammen.

Die Leute in der Nähe schrien erschrocken auf. Kahlan beugte sich zusammen mit anderen über die Frau. Männer und Frauen umdrängten sie und murmelten etwas von zuviel Wein.

Die sauertöpfische Frau bahnte sich mit den Ellenbogen einen Weg nach vorn. »Jebra! Dachte ich mir doch, daß das Jebra ist!«

Kahlan sah hoch. »Ihr kennt diese Frau? Und wer seid Ihr?«

Plötzlich wurde der Frau bewußt, mit wem sie sprach. Sofort setzte sie ein Lächeln auf und machten verlegen einen Knicks. »Ich bin Lady Ordith Condatith de Dackidvich, Mutter Konfessor. Ich freue mich sehr, endlich Eure Bekanntschaft zu machen. Ich wollte schon seit langem mit Euch…«

Kahlan schnitt ihr das Wort ab. »Wer ist diese Frau? Kennt Ihr sie?«

»Ob ich sie kenne?« Ihre säuerliche Miene kehrte zurück. »Sie ist meine Zofe. Ihr Name ist Jebra Bevinvier. Ich werde das faule Luder auspeitschen lassen!«

»Zofe?« sagte ein Mann. »Das glaube ich kaum. Ich habe mit Lady Jebra zu Abend gespeist, und ich kann Euch versichern, daß sie eine Dame ist.«

Lady Ordith rümpfte verächtlich die Nase. »Sie ist eine Heuchlerin.«

»Dann müßt Ihr sie gut bezahlen«, erwiderte der Mann voller Sarkasmus. »Sie wohnt in den elegantesten Gasthöfen und zahlt in Gold.«

Lady Ordith bedachte den Mann mit einem weiteren verächtlichen Naserümpfen und packte einen Wachposten am Arm. »Du! Bring dieses Luder in meine Gemächer! Ich wohne im Kelton-Palast. Ich werde der Sache auf den Grund gehen.«

Kahlan erhob sich und warf Lady Ordith einen vernichtenden Blick zu. »Ihr werdet nichts dergleichen tun. Es sei denn, Ihr erdreistet Euch, der Mutter Konfessor vorzuschreiben, was sie in ihrem eigenen Palast zu tun und zu lassen hat.«

Lady Ordith stammelte eine Entschuldigung. Kahlan schnippte mit den Fingern, ohne den Blickkontakt mit Lady Ordiths Augen abzubrechen. Wächter sprangen vor.

Kahlan drehte sich um. »Bringt Lady Jebra in ein Gästezimmer. Ein Diener soll ihr einen Ingwertee bringen, kalte Tücher für ihren Kopf und alles, was sie sonst noch wünscht. Sie soll von niemandem gestört werden, auch nicht von Lady Ordith. Ich ziehe mich jetzt für die Nacht zurück und wünsche ebenfalls keine Störung. Ich habe in aller Frühe eine Sitzung mit dem Rat. Sobald ich mich mit dem Rat getroffen habe, wünsche ich zudem, daß man Lady Jebra zu mir bringt.«

Die Wachen salutierten und verneigten sich vor Jebra.

Als Kahlan bei ihrem Gemach ankam, wurde sie von zwei keltonischen Wachen aus dem Kelton-Palast vor ihrer Tür aus ihren grüblerischen Gedanken gerissen. Als die Wachen sie erblickten, pochte einer von ihnen kühl mit dem Ende seines Speeres gegen die Tür. In ihren Gemächern war jemand. Kahlan warf den teilnahmslosen Wachen einen ernsten Blick zu, als sie erhobenen Hauptes durch die Tür schritt.

Im Vorzimmer war niemand. Sie stürmte ms Schlafzimmer und blieb wie erstarrt stehen, als sie ihn sah. Prinz Fyren stand auf ihrem Bett, mit dem Rücken zu ihr.

Er grinste fies über seine Schulter, während er mitten auf ihr Bett urinierte.

Als er fertig war, drehte er sich um und knöpfte sich dabei die Hosen zu.

»Was im Namen der Seelen glaubt Ihr, was Ihr da tut?« hauchte sie.

Er sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und ging forschen Schritts an ihr vorbei. »Ich gebe der Mutter Konfessor lediglich zu verstehen, wie glücklich wir alle sind, sie wieder im Hause zu wissen.« Seine Jacke war offen. Er glättete die Rüschen auf seiner weißen Hemdbrust, während er an der Tür stehenblieb. »Geruhsamen Schlaf, Mutter Konfessor.«

Kahlan riß sechsmal an der Klingelschnur. Sechs Dienstmädchen kamen ihr auf dem Korridor atemlos entgegengeeilt.

»Habt Ihr einen Wunsch, Mutter Konfessor?«

Kahlan biß die Zähne aufeinander. »Bringt meine Matratze und meine Bettwäsche nach draußen in den Hof und verbrennt sie dort.«

Die Mädchen waren fassungslos. »Mutter Konfessor?«

»Reißt die Matratze aus meinem Bett, zusammen mit sämtlichen Laken, schleppt sie in den Hof unter meinem Fenster und zündet sie an.« Kahlan ballte die Fäuste. »Was ist daran so schwer zu verstehen?«

Die sechs wichen einen Schritt zurück. »Ja, Mutter Konfessor.« Sie standen bebend da, die Augen aufgerissen. »Jetzt sofort, Mutter Konfessor?«

»Hätte ich es morgen erledigt haben wollen, hätte ich euch morgen gerufen!«

Kahlan erreichte die Treppe über dem großen Eingang gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie Prinz Fyren sich zu dem Mann in schlichter Robe gesellte, der dort auf ihn gewartet hatte. Einen ganzen Augenblick lang sah er sie aus seinen dunklen Augen an.

»Wachen!« schrie sie nach unten Richtung Eingang. Die uniformierten Männer blickten hoch, als sie angerannt kamen. »Die diplomatischen Privilegien sind außer Kraft! Wenn ich dieses keltonische Schwein oder einen aus seiner Leibgarde vor der Ratssitzung morgen früh noch einmal zu Gesicht bekomme, ziehe ich jedem von euch persönlich bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren, nachdem ich ihn getötet habe!«

Sie salutierten. Unten in der Eingangshalle sah Kahlan Lady Ordith, die beobachtet hatte, was gerade geschehen war.

»Lady Ordith.« Lady Ordith starrte bereits zu ihr hoch. »Wenn ich mich nicht irre, sagtet Ihr, Ihr wärt Gast im Kelton-Palast. Dann laßt Euch in meinem nicht mehr blicken.«

Die Angesprochene stammelte Abschiedsworte, während Kahlan auf dem Absatz kehrtmachte und zurück in ihre Gemächer ging. Auf dem Weg dorthin wählte sie eine Handvoll Wachen aus.

Sie wartete vor ihren Gemächern, bis die Männer vor ihrer Tür Aufstellung genommen hatten. »Sollte irgend jemand heute nacht meine Räume betreten, dann nur über eure Leichen. Habt ihr das begriffen?«

Sie alle salutierten, zum Zeichen, daß sie verstanden hatten. Kahlan warf sich ihren weißen Umhang über die Schultern und ging hinaus auf den Balkon, hinaus in die bitterkalte Nacht. Sie stand da mit durchgedrücktem Rücken in der Nähe des Geländers, während sie auf das Geschehen unten im Hof hinabblickte.

Zu gern wäre sie davongelaufen, doch das konnte sie nicht. Sie war die Mutter Konfessor. Sie mußte tun, was all die anderen Mütter Konfessor vor ihr getan hatten — die Midlands beschützen. Sie war allein und hatte niemanden, der ihr bei der Erfüllung ihrer Pflicht helfen konnte.

Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie zusah, wie ihr Bett im Hof in Flammen aufging — das Bett, das sie Richard versprochen hatte.

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